Friedrich Gerstäcker
Die Flußpiraten des Mississippi
Friedrich Gerstäcker

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Kapitel 5

Der Mond schien hell und freundlich auf die rasch dahinströmende, undurchsichtige Flut herab, während nur dann und wann einzelne dünne Wolken die helle Scheibe für kurze Momente verdüsterten und ihre Schatten über die weite Niederung deckten. Leise gurgelte dabei das Wasser unter den gewichtigen Booten, und die Strömung warf schmutziggelbe Schaumblasen gegen die Planken. Hier und da trieb ein von dem tückischen Nachbarn seinem sichern, jahrhundertelang behaupteten Platze entrissener Baumstamm vorüber und streckte die langen Riesenarme wie Hilfe suchend nach den ruhig neben ihm fortrauschenden Brüdern aus, und der Schrei des Haubentauchers gab manchmal, oft wie spottend, den rohen Jubelruf der Zechenden zurück, der noch immer aus einem der im Innern hell erleuchteten Boote und einem weiter oben gelegenen Trinkhause erscholl. Oft sprang auch ein gewaltiger Catfisch aus seinem kühlen Element empor, und die glatte, silberfarbene Haut blitzte dann im Mondlichte. – Sonst aber lag Ruhe, stille, unheimliche Ruhe auf der breiten Fläche des Stromes, die nur um so schauriger gegen das rohe Jauchzen der wilden, ausgelassenen Gesellen abstach. Smart schritt langsam am Ufer hin und hatte eben den abgebrochenen Stamm einer jungen Sykomore erreicht, der hier von den Flußleuten benutzt wurde, um die Bootstaue daran zu befestigen, als sich ihm die Gestalt eines andern Mannes näherte, den er augenblicklich als den vor wenigen Stunden geretteten Iren erkannte. Langsam kam dieser ihm gerade entgegen am Ufer heraufgeschlendert und schien nur dann und wann einmal die Boote mit einem mißtrauischen Blick zu betrachten.

»Ei, ei, O'Toole«, rief warnend der Yankee, – »juckt Euch das Fell schon wieder und tragt Ihr so absonderliches Verlangen nach kaltem Flußwasser, daß Ihr Euch, alle Vorsicht vergessend, in die Nähe von Leuten wagt, die erst vor ganz kurzer Zeit ein Todesurteil über Euch gefällt hatten? Ich könnte zum zweiten Mal nicht stark genug sein, Euch ihrem Griff zu entreißen.«

»Hol sie der Böse!« murmelte der Ire, der bei der ersten Anrede, ehe er recht unterscheiden konnte, wer zu ihm sprach, schnell nach der Seite gegriffen hatte, wo er wahrscheinlich eine Waffe verborgen hielt. Durch den Anblick des Wirtes beruhigt, fuhr er, immer noch mit verbissenem Ingrimm, fort: »Eine Bande ist's, – eine raubgierige, schurkische Bande von lauter Schuften, die aneinander hängen wie die Kletten. – Smart, – Ihr mögt mir's nun glauben oder nicht, aber St. Patrick soll mich in meiner letzten Stunde verlassen, wenn ich nicht fürchte, hinter den Burschen steckt etwas Schlimmeres, als wir jetzt noch vermuten.«

»Hinter den Bootsleuten?« lächelte der Wirt verächtlich. »Da tut Ihr ihnen wahrlich zu viel Ehre an. – Wildes, rohes Volk ist es, das gedanken- und sittenlos in den Tag hineinlebt und, wie die Matrosen, jeden Dollar verspielt und vertrinkt, den es sich vorher mit saurem Schweiß verdienen mußte.«

»Das ist's nicht allein«, sagte der Ire kopfschüttelnd; – »das ist's bei Gott nicht allein! Die Kerle halten zusammen wie ein Sack voll Nägel und haben auch Zeichen untereinander, darauf wollte ich meinen Hals verwetten. Sobald der eine Halunke pfiff – ich habe mir übrigens den Pfiff gemerkt –, stürmten sie alle miteinander auf mich los wie eine Meute Bracken, wenn sie das Horn hören. Aber wartet – wartet, Kanaillen; ich komme euch noch auf die Spur, darauf könnt ihr euch verlassen, und nachher sei euch Gott gnädig!«

»Dort unten stößt ein Boot ab«, sagte Smart und zeigte den Fluß hinab, wo gerade unter den Flatbooten ein kleines scharfgebautes und jollenartiges Fahrzeug vorschoß, zuerst eine Strecke in den Strom hinein hielt und dann stromab, aber immer noch mit beiden Rudern arbeitend, seine Bahn verfolgte. Ein einzelner Mann saß darin; wer es aber war, konnten sie nicht erkennen.

»Nun, wo will denn der hin?« fragte der Ire und nahm den Hut ab, um sich nicht den Blick durch die Krempe zu verstellen.

»Es wird irgendein Flatbooter sein, der hier wie gewöhnlich seine paar Dollar verspielt hat und nun in aller Eile hinter seinem indessen vorausgegangenen Boot herrudern muß.«

»Dann kommt dort noch die ganze übrige Mannschaft«, sagte der Ire, und zugleich glitt ein großes Segelboot in den Strom, das aber nicht dieselbe Richtung wie die kleine Jolle nahm, sondern den Bug etwas stromauf scharf in den Fluß hinein hielt, als wenn sie die Landung am andern Ufer so hoch wie möglich machen wollten.

»Weathelhope drüben bekommt heute Besuch«, sagte Smart; – »wird sich unmenschlich freuen.«

»Sollten die bei Weathelhope einkehren?«

»Wenn nicht, so haben sie noch wenigstens fünf Meilen heute abend zu marschieren, ehe sie ein anderes Haus erreichen können, und fünf Meilen bei Nacht und Nebel durch den Sumpf zurückzulegen, dafür dankte ich. Lieber bliebe ich die Nacht dicht am Ufer des Stromes; da ließen die Moskitos doch wenigstens noch etwas von mir übrig; in dem Swamp aber drin fräßen sie, glaube ich, einen Menschen bis auf die Knochen auf.«

»Es wäre bei Gott kein Verlust, wenn das den Kanaillen heute passierte«, brummte der Ire. – »Doch, gute Nacht, Smart; es wird spät, ich will mich schlafen legen. Von heute an bin ich übrigens Euer Schuldner, denn ohne Euch läge ich jetzt tief unten in der schmutzigen Flut. – Gebe Gott, daß ich Euch das einmal vergelten kann!«

»Ei, O'Toole«, sagte der Wirt lachend, während er ihm die Hand reichte, – »das war bloß Eigennutz von mir; ich hätte ja sonst einen meiner besten Gäste verloren. – Doch – ohne Spaß –, nehmt Euch vor dem rohen Volk künftig lieber ein wenig mehr in acht. – Es hat niemand Ehre davon, sich mit ihnen einzulassen.«

Die Männer schritten langsam zu ihren Wohnungen in die Stadt zurück. Nur O'Toole blieb noch mehrere Male stehen und lauschte aufmerksam nach den Ruderschlägen des Bootes hinüber, die in immer weiterer und weiterer Ferne verklangen, bis sie endlich ganz plötzlich aufhörten oder ein veränderter Windzug den Laut nicht mehr zum westlichen Ufer trug. Der Ire horchte noch eine Weile und murmelte dann ärgerlich vor sich hin: »Hol sie der Teufel! – Jetzt läßt sich doch nichts mit ihnen anfangen. Aber wartet, – morgen will ich einmal hinüberfahren nach Weathelhope, und dann müßte es ja mit dem Henker zugehen, wenn man nicht auf die Fährte der Schufte kommen könnte.«

Das Boot strebte übrigens keineswegs, wie der Ire vermutet und es, von Helena aus gesehen, den Anschein hatte, dem andern Ufer zu; es hielt nur in gerader Richtung durch den Strom, bis etwa fünfhundert Schritt von seinem scheinbaren Ziel.

»Stop here!« sagte da plötzlich eine rauhe, tiefe Stimme, die vom Heck des Fahrzeugs kam, und die vier Bootsleute hoben gleichzeitig ihre Ruder hoch aus dem Wasser, daß die daranhängenden, glänzenden Tropfen bis zu dem Bootsrande zurückliefen und hier die Ruderlöcher näßten. Es war der Steuermann, der den Befehl gegeben hatte, ein alter Bekannter von uns, der Narbige, der in Helena dem armen Iren bald so gefährlich geworden wäre. Auch die neun Männer an Bord, vier an den Rudern und fünf behaglich zwischen diesen ausgestreckt, bildeten die Mehrzahl derer, die an dem Uferkampf gegen den einzelnen einen so ungerechten Anteil genommen hatten.

Das Boot trieb nicht mehr so schnell durch die Flut, blieb aber noch hinlänglich im Gange, um von dem Steuer stromab regiert zu werden.

»Ich wäre lieber noch ein wenig weiter hinübergefahren«, sagte der eine jetzt, während er den Kopf hob und nach dem noch ziemlich fernen Ufer hinüberschaute.

»Und wozu?« fragte der mit der Narbe. – »Erstlich liefen wir Gefahr, auf den Sand zu rennen, und dann möchten sie auch oben in dem Haus auf uns aufmerksam werden, und das ist beides nicht nötig.«

»Lassen wir die runde Weideninsel links oder rechts liegen?«

»Links.«

»Das ist ja wohl auch das tiefste Wasser?«

»Deshalb nicht, unser kleines Känguruh würde schon über die flachen Stellen fortspringen. So arg ist es übrigens auch gar nicht, wir haben an beiden Seiten der Insel bei jetzigem Wasserstand und an den seichtesten Stellen sechs Fuß und brauchen höchstens anderthalb.«

»Nun, mir recht. – Ich weiß mit dem Fluß nicht Bescheid, aber – wie lange fahren wir denn wohl bis hinunter?«

»Es mögen etwa vierzehn Meilen von Helena sein«, meinte der Narbige. »Eine Meile weiter unten fangen wir wieder an zu rudern, gehen über den Fluß zurück und müssen den Landungsplatz in höchstens anderthalb Stunden erreichen, vielleicht noch eher. Jetzt seid aber ruhig; hier am Ufer stehen einige Häuser, und je weniger Geräusch wir machen, desto besser ist's.«

Das scharfgebaute Fahrzeug trieb noch eine lange Strecke still und schweigend stromab; dann aber ließen die Männer auf ein Zeichen des Führers die bis dahin noch immer emporgehaltenen Ruder von neuem ins Wasser, der Bug kehrte sich wieder dem westlichen Ufer zu, und hin über die Flut schoß nun das Känguruh, daß die kleinen Kräuselwellen vorn hoch emporspritzten und dann in langen wogenden Kreisen seitab strömten.

Die einzelnen Lichter am Ufer blieben weit, weit zurück. Jetzt näherte sich das Boot, der stärkeren Strömung treubleibend, mehr und mehr dem Ufer, ja, glitt so nahe an dem düsteren Urwald hin, daß die funkelnden Glühwürmer sichtbar wurden und der klagende Ton der Nachtvögel zu ihnen herüberschallte.

Hier lag eine Ansiedlung, und um diese jetzt so geräuschlos wie möglich zu passieren, waren die Ruder umwickelt worden; kein Laut wurde gesprochen, und so dicht am Lande glitt das Boot vorüber, daß sie oft die Wipfel der durch Abbrechen des Ufers hineingestürzten Stämme berühren konnten. Da blieb eines der Ruder in einem vorragenden Aste hängen und fiel dem, der es hielt, aus der rasch nachgreifenden Hand. Der Steuermann drückte jedoch das Hinterteil des Bootes schnell dem forttreibenden Holze zu und ergriff es eben noch zur rechten Zeit, konnte jedoch nicht verhindern, daß ein paar der Ruder gegen Bord schlugen und dadurch auf dem stillen Wasser ein unüberhörbares Geräusch verursachten.

Sie befanden sich jetzt gerade unterhalb des einen Hauses. Die Hunde schlugen dort an und liefen dem steilen Uferrande zu, von dem aus sie das vorbeischlüpfende Boot deutlich erkennen konnten.

»Hallo, the boat!« rief eine laute Stimme, die aus der kleinen Lichtung heraustönte. Gleich darauf sprang ein Mann in Hemdsärmeln auf einen halb über die steile Uferbank hinausragenden Sykomorestamm und schwenkte zum Zeichen, daß er mit den Vorbeirudernden reden wolle, ein helles Tuch. Daß sie gesehen waren, ließ sich nicht mehr verkennen, der Steuermann gab auch ohne Zeitverlust und mit ruhiger Stimme sein: »Was soll's?« zurück und ließ dabei den Bug herumschneiden, daß er gegen die Strömung stand. Dabei rief er dem im Vorderteil Sitzenden zu, er solle einen Ast packen und festhalten, bis er mit dem Manne gesprochen hätte.

»Aber zum Teufel, Ned«, flüsterte der Vordermann ängstlich, – »bist du denn gescheit? Du willst es denen am Lande wohl ganz ins Maul –«

»Stille, sage ich«, unterbrach ihn der Steuermann, »laßt mich nur machen! – Wir dürfen keinen Verdacht erregen.«

»Wohin geht das Boot?« rief abermals die Stimme vom Ufer aus.

»Stromab, bis Montgomerys Point.«

»Noch Platz an Bord?«

Der Steuermann zögerte mit der Antwort – »Was zum Teufel mögen sie wollen?« – flüsterte er vor sich hin.

»Noch Platz an Bord für einen Passagier?« wiederholte der erste. »Alle Wetter, – da gibt's was zu angeln!« kicherte der eine der Ruderer. »Sag ja, Ned, – um Gottes willen, sag ja; der Mann hat sicherlich einen vortrefflichen Koffer, den er los sein möchte.«

»Nein!« rief der Steuermann, ohne die Einflüsterungen weiter einer Silbe zu würdigen. »Wir haben schon zu viel hier. Wenn uns ein Dampfboot begegnet, könnte uns ein Unglück zustoßen.« Und ohne eine nochmalige Frage, die durch das Schäumen des Wassers in der neben ihnen angeschwemmten Eiche ohnedies übertäubt wurde, zu beachten, gab er laut den Befehl, vorn loszulassen. – Der Bug fiel gleich darauf wieder ab, und mit dem Worte ›Ruder ein‹ erneute das Känguruh seine so plötzlich und unerwartet unterbrochene Bahn.

»Was in Beelzebubs Namen ist dir denn heute abend in den Kopf gefahren?« zürnte der frühere Sprecher, indem er sich unwillig gegen den Steuernden wandte. »Schickst die Leute selbst zurück, die uns ihre guten Sachen bringen wollen, und betrügst uns förmlich um unseren Gewinn? – Der Kapitän wird schön schimpfen, wenn er's erfährt.«

»Halt' dein ungewaschenes Maul!« knurrte der Narbige.

»Redst, wie du es verstehst. – Wir haben heute genug Unsinn in Helena getrieben; ich sollte denken, wir ließen es dabei bewenden. Wolltest du eines einzigen erbärmlichen Koffers wegen Gefahr laufen, unsern Schlupfwinkel aufgestört zu wissen – he? Willst du hier gleich, uns ganz dicht auf dem Kragen, einen Verdacht erregen, der uns die benachbarten Konstabler in ein paar Wochen auf den Hals hetzen würde? Nein, es war töricht genug, daß wir heute den Streit anfingen, zu dem du ebenfalls wieder den Anlaß gegeben hast. Dabei mag's heute sein Bewenden haben. Fatal ist mir's übrigens, daß uns der Laffe am Ufer gesehen hat. Nun, er weiß doch wenigstens nicht, wohin wir gehören. Aber jetzt greift aus, meine Burschen; denn der Kapitän wird uns erwarten. Ich bin überdies neugierig, was unser nächster Zug sein mag; heute nacht bestimmt er's vielleicht.«

Das Boot flog nun, von den elastischen Rudern getrieben, pfeilschnell über die glatte Stromfläche hin, und nicht lange mehr währte es, bis sich eine dunkle, hoch mit stattlichen Bäumen bewachsene Insel von dem düsteren Hintergrunde klar absonderte, während sie die Männer als das Ziel ihrer nächtlichen Fahrt begrüßten.

Diese Insel, die wie alle übrigen im Mississippi mit Schilf, Weiden und hohen Baumwollholzbäumen am Rande bewachsen war, glich ganz den Schwestern und zeichnete sich auch durch kein besonderes Merkmal weiter aus. Ihre NummerDie zahlreichen Inseln des Mississippi würden eine besondere Benennung jeder einzelnen sehr erschweren und den Bootsmann verwirren; sie sind deshalb von den Quellen dieses gewaltigen Stromes an bis zur Mündung des Ohio und von da an wieder bis nach New Orleans numeriert, und nur wenige haben noch, wenn sie sich durch irgend etwas ausgezeichnet oder kenntlich gemacht hatten, besondere Namen erhalten. Von der Mündung des Ohio bis New Orleans (etwa tausend englische Meilen) zählt der Mississippi hundertfünfundzwanzig Inseln., unter der sie die Bootsleute kannten und mit der sie in den Flußkarten verzeichnet stand, war Einundsechzig. Wie die meisten jener kleinen Landstrecken lag sie mitten im Fluß und wurde in letzter Zeit nie mehr von den herabkommenden Booten besucht, da ein Wirbelsturm, wie es heißt, den größten Teil derselben verwüstet habe.

Wirklich starrten auch, und zwar besonders an den Stellen, an denen ein großes Boot bequem hätte landen können, eine solche Menge von weitästigen, knorrigen Baumwipfeln überall empor, daß ein Hinankommen zum Ufer unmöglich wesen wäre. Nur ein Platz, und zwar an der linken Seite der Insel, lag offen und frei da und schien auch in früherer Zeit begangen gewesen. Jetzt aber umgaben ihn einige Snags und SawyersSnags und Sawyers werden die im Grunde der Flüsse festgeschwemmten Baumstämme genannt, die noch über die Oberfläche des Wassers hervorragen; oder, was noch gefährlicher für die Flußleute ist, dicht darunter liegen und ihr Dasein oft nicht einmal durch deutliche Bewegung des Wassers kundgeben. Die Snags, von denen die größeren Äste oder ganze Stämme Planter genannt werden, sitzen fest und unbeweglich, die Sawyers hingegen tauchen in schneller Strömung fortwährend auf und nieder., die aus der rasch daran vorbeischießenden Flut hervorschauten, und der Flatbooter, der vor einbrechendem Abend vielleicht gehofft hatte, hier sein Boot zu befestigen, griff mit schnellem, ängstlichem Eifer zu den langen Finnen und trieb in fast verzweifelter Kraftanstrengung das unbehilfliche Boot fort von dem Platz, der ihm Verderben bringen mußte.

Der Steuermann, der an dem langmächtigen Ruder lehnte, das weit hinter dem Boot aus dem Wasser stand, fluchte dann wohl, daß der Staat nicht mehr Fleiß darauf verwende, den Strom von solch gefahrlichen Gesellen zu räumen. Er schwur sich auch vielleicht heimlich, künftig in dem in seinem ›Navigator‹ angegebenen Fahrwasser zu bleiben, das ihn auf die andere Seite der Insel verwies, und entging dadurch unbewußt einer Gefahr, die ihm wie seinem Boot weit verderblicher geworden wäre als alle Snags und Sawyers des Mississippi zusammen. Aus den dichtverworrenen Dickichten des Inselufers aber schauten ihm dann ein Paar höhnisch lachende Augen nach, und eine rauhe Stimme brummte heimlich in den Bart: »Sei froh, Bursche, daß du dich hast warnen lassen, das Land hier zu betreten, du hättest sonst eine ruhigere und längere Nacht gehabt, als du es dir wohl je im Leben träumen ließest.«

Daß jene Snags und Sawyers keineswegs wirklich vom Strom angewaschene Stämme, sondern nur auf künstliche Weise durch Anker und versteckte Bojen hergestellte Blendwerke seien, dachte natürlich niemand. Aus der Ferne sahen sie auch täuschend genug aus, und nur ganz in der Nähe und nach genauer Untersuchung hätte man dem Geheimnis auf die Spur kommen können. Wer von den Schiffern würde aber seine Zeit daran verschwendet haben? Das starre, aus dem Wasser aufragende Holz war ihnen genug, und so weit wie möglich beschrieben sie den Kreis, der sie aus der Nähe solcher ›Bootsvernichter‹ bringen sollte.

Die ziemlich nahe zum linken Ufer gelegene Insel war drei englische Meilen lang, oben recht breit und auf dieser Seite von einer Menge angeschwemmter Stämme förmlich eingezäunt, und lief am unteren Teile spitz zu. Dort hatte sich aber eine ziemlich bedeutende, wohl eine volle Meile stromabgehende Sandbank gebildet, die unter dem Wasser hin zu einem eine halbe Meile tiefer gelegenen Eiland führte. Im ganzen wurde dieses noch mit zu Einundsechzig gezählt, da das Wasser zwischen beiden zu seicht war, um größeren Flatbooten eine Durchfahrt zu gestatten, in Wirklichkeit war es aber von der oberen größeren Insel, selbst beim niedrigsten Wasserstande, vollkommen getrennt und wurde, wenn im Juli das Schneewasser aus den Felsengebirgen herabkamen, oft gänzlich von diesen bedeckt. Die Insulaner nannten das kleine Eiland übrigens, da sie es für den Fall einer Entdeckung als letzte Zuflucht betrachteten, die ›Notröhre‹.

Noch besseren Schutz genoß Nr. Einundsechzig von der West- oder der rechten Seite des Flusses. Hier umgab sie zuerst eine ziemlich hohe Sandbank, die etwa zweihunde Schritte vom Hauptufer der Insel wiederum in einen schmalen, mit Weiden und Baumwollholzsprößlingen dichtbewachsenen Landstreifen auslief. Dieser zog sich fast parallel und in gleicher Länge mit der Insel hin, wurde aber auch seinerseits wieder am rechten Ufer durch eine jedoch nur wenige Klafter breite Sandfläche geschützt.

Demnach konnte man sich dieser Insel nur von der linken oder Ostseite nähern, wo ihr nächstes Ufer der Staat Mississippi war, und hier hielten die getroffenen Vorkehrungen sicherlich jeden vom Landen ab, der dazu früher Lust gehabt haben mochte. Die eigentliche Strömung und das Fahrwasser des Mississippi lag denn auch ganz auf der rechten Seite der Insel, und die Entfernung zwischen jenem schmalen Zwischenstreifen und Arkansas betrug eine englische Meile, der Raum zwischen Einundsechzig und dem Staat Mississippi aber kaum die Hälfte dieser Entfernung.

An den beiden der Insel gegenüberliegenden Ufern standen nun allerdings ein paar niedere Blockhäuser, wie sie die Holzschläger am Mississippi gewöhnlich aufrichten, um die geschlagenen Klaftern an die vorbeifahrenden Dampfschiffe zu verkaufen. Sie waren aber nur selten bewohnt und auch wirklich fast unbewohnbar geworden. Das in Arkansas stehende hatte nicht einmal mehr ein Dach und drohte dem nächsten Sturmwind nachzugeben, der es unfehlbar in den Strom hinabstürzen mußte. Etwas besser erhalten zeigte sich die Wohnung auf der Mississippi-Seite, jedoch glich sie ebenfalls viel eher einem Stall als einem menschlichen Aufenthalt. Zahlreiche Pferdespuren gaben auch Zeugnis, daß sie hierzu oft genug benutzt worden war, und mehrere vielbegangene Pfade führten östlich auf einen Sumpf zu, in dessen schlammigem, fast zehn Monate im Jahre unter Wasser stehendem Boden sie sich verloren.

Wer nun trotz all der getroffenen Vorsichtsmaßregeln zufällig an der Insel gelandet und nicht gleich auf den einzigen gangbaren Pfad gekommen wäre, der hätte seine Bahn mehrere hundert Schritt weit durch den fürchterlichsten Schilfbruch hin suchen müssen, der nur je eine Insel oder ein Festland bedeckte. Dazwischen lagen dann nicht gefällte, sondern mit der Wurzel dem Boden entrissene Stämme so wild und toll durcheinander, daß niemand auch nur hoffen konnte, dieses Pflanzengewirr zu durchdringen, wenn er sich nicht mit Messer und Axt erst Bahn in das Herz der Waldung hieb. Da aber durch solch entsetzliche Arbeit nicht der mindeste Vorteil zu hoffen war, so fiel es natürlich auch gar niemandem ein, Zeit und Mühe daran zu verschwenden. Wer wirklich einmal aus Neugierde oder Langeweile begonnen hätte, einen solchen Weg anzutreten, wäre gar bald bei einem Geschäft ermüdet, das ihm weiter nichts zu vesprechen schien als zerrissene Kleider und Blasen in den Händen.

Dennoch lag hier – so tief versteckt und schlau angelegt, daß sie selbst den scharfen Augen der Jäger entging – eine ganze Ansiedlung verborgen, die aus neun kleinen Blockhütten, einem ziemlich geräumigen Warenhause und fünf dicht aneinandergebauten und verbundenen Pferdeställen bestand. Das Ganze bildete eine Art Hofraum und war nach Art der indianischen Forts so gebaut, daß es gegen einen plötzlichen Angriff, selbst einer Übermacht, recht wohl verteidigt werden konnte. Das Warenhaus und eine der kleinen Blockhütten dicht daran standen in der Mitte, und ringsherum bildeten auf der Ostseite, nach dem Mississippi-Staat zu, die Ställe eine feste, undurchdringliche, aber wohl mit Schießscharten versehene Wand, während auf der westlichen, minder bedrohten Seite nur hohe und doppelte Zäune die einzeln stehenden Gebäude miteinander verbanden. Als besonderen Schutz betrachteten aber die Insulaner eine lange Drehbasse aus Messing, die oben auf dem platten Dache des Warenhauses angebracht war und mit der sie, als letztes Rettungsmittel, Tod und Verderben auf ihre etwaigen Angreifer hinabschleudern konnten.

Der Raum vor dem Warenhaus und der kleinen Blockhütte, in welchem der Kapitän mit seiner Frau wohnte, war frei und jetzt in der Sommerzeit mit großen, buntgestreiften Sonnenzelten bespannt. In den übrigen Häusern aber wohnten – das obere, breit und geräumig gebaute ausgenommen, das zu einer gemeinschaftlichen Junggesellenwirtschaft bestimmt blieb – die ›verheirateten Glieder der Gesellschaft‹. Dieses ›Junggesellenhaus‹, oder ›Bachelors' Hall‹, wie es gewöhnlich genannt wurde, diente denn auch als gemeinsamer Versammlungsort. Nur bei geheimen Beratungen kamen die Führer der Schar in einem kleinen, zu diesem Zweck eingerichteten Kämmerchen des Warenhauses zusammen, um dann erst die gefaßten Beschlüsse später in Bachelors' Hall zur Abstimmung zu bringen.

Der Kapitän übte jedoch eine eigene, fast unbegreifliche Gewalt über diese wilden, gesetzlosen Menschen aus, die sonst nichts auf Erden anerkannten als ihre eigenen Gesetze. Er hatte freilich auch verstanden, sich auf die einzig mögliche Art Achtung zu verschaffen, und zwar durch das Übergewicht seines Geistes, wie auch durch mehrfach bewiesenen persönlichen Mut, der wirklich an Tollkühnheit grenzte. Sie fürchteten ihn deshalb fast so sehr, wie sie ihn ehrten, und Kapitän Kelly war ein Name, der nie in Scherz oder Spott genannt werden durfte.

Nur zwei begangene Wege führten zu diesem durch ein scheinbar natürliches Bollwerk beschützten Zufluchtsorte von Verbrechern. Der eine lief vom Ufer aus, und zwar dicht unter den schon erwähnten künstlichen Snags, zuerst gerade der Mitte der Insel zu, und bog dann, ziemlich betreten, ein klein wenig links ab. Der war aber nur dazu bestimmt, um selbst dann noch den Eindringling irrezuführen, wenn er den Pfad selbst entdeckt hätte; denn er brachte ihn in einen kleinen Sumpf, in dem er unfehlbar versinken mußte, wenn er sich nicht rechtzeitig wieder zurückzog. Der wirkliche Weg dagegen lief, durch darübergeworfene Äste verdeckt, fast in einem rechten Winkel rechts ab und traf das ›Fort‹ gerade unter dem fünften Stall. Eine andere rein gehaltene und ordentlich ausgehauene Straße lief von der Südostseite des Forts an der rechten oder Ostseite des Sumpfes hin und gerade der Südspitze der Insel zu, wo er zu den hier sorgfältig versteckten und für den letzten Notfall aufbewahrten Booten führte. Doch war von hier aus kein Angriff auf das Fort zu fürchten, da ein einziger richtig gefällter Baum jede Bahn vernichtet hätte. Eine Verteidigung des Forts konnte überhaupt nur als verzweifeltes Mittel betrachtet werden, um genügend Zeit zu gewinnen, die Boote zu erreichen. Der Haupt- und alleinige Schutz der Gesellschaft blieb das Geheimnis, in das ihre ganze Existenz gehüllt war, und das zu bewahren mußte auch vor allem übrigen ihr wichtigstes Streben sein.

Fürchterliche Eide verbanden die Genossen, und so weit verzweigt und so innig miteinander verkettet waren die einzelnen Glieder, daß der, der den Bund wirklich hätte verraten wollen, nie wußte, ob der, dem er vertraute – und wenn er Richter oder Rechtsgelehrter war –, nicht selbst mit zur Verbrüderung gehörte und ihn, den Verräter, seiner Strafe überantwortet hätte. Dabei bot die Insel stets dem von den Gerichten Verfolgten einen sicheren Zufluchtsort, und war er einmal dort, blieb jedes Nachforschen der Konstabler vergebens. Es hieß dann gewöhnlich, der Flüchtling sei nach Texas entkommen, während er noch sicher und ruhig innerhalb der Vereinigten Staaten saß. Aber auch ein Preis war klugerweise von dem Oberhaupt dieser Schar dem bewilligt worden, der den Verrat eines Mitgliedes verhinderte und den Täter erschlug. Der Wachsame bekam tausend Dollar in barem Silber ausgezahlt, und eine so bedeutende Prämie blieb an und für sich schon lockend genug, die Aufmerksamkeit der im Lande Verteilten rege zu erhalten, hätte es nicht fast noch mehr die eigene Sicherheit getan.

Der erste Sonnabend jedes Monats war zum Versammlungstag bestimmt, und Kapitän Kelly führte dabei den Vorsitz. Mit dem festen Lande von Arkansas standen sie in geringer, mit Mississippi dagegen in sehr starker Verbindung. Ein Posten, der wie ein Matrose im Mastkorb in den Wipfeln des höchsten Baumes seinen Platz hatte, konnte von dort aus beide Ufer erkennen und wurde dort gehalten, um etwaige Signale zu beobachten oder bedrängten Kameraden, die wohl das Ufer, aber nicht die Insel erreichen konnten, zu Hilfe zu eilen. Zu diesem Zwecke lag auch ein vierrudriges Boot gleich über der Sandbank und an der Nordwestecke der Insel stets zum Auslaufen bereit. Der Pfad aber, der zu diesem führte, konnte nur von genau Eingeweihten gefunden werden; doch lag das Fahrzeug selbst hier ziemlich offen, da das seichte Wasser größere Boote stets eine bedeutende Strecke davon entfernt hielt und deshalb keine Entdeckung zu fürchten war.

Doch genug über die innere Einrichtung eines Raumes, den wir im Laufe der Erzählung überdies noch näher kennenlernen werden. Wir müssen jetzt auch die Bewohner dieser Verbrecher-Republik kennenlernen.


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