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Elftes Kapitel

Der Letzte der alten Forsytes

Als sie kamen, um das ungeheure Symbol Timothy Forsyte – den einen reinen Individualisten, der übriggeblieben, den einzigen Mann, der nichts von dem großen Krieg gehört hatte – einzusargen, fanden sie ihn wundervoll; nicht einmal der Tod hatte seine Gesundheit zu untergraben vermocht.

Für Smither und die Köchin war diese Einsargung wie der letzte Beweis für etwas, das sie nie für möglich gehalten – das Ende der alten Familie Forsyte auf Erden. Der arme Mr. Timothy mußte nun eine Harfe nehmen und gemeinsam mit Miß Forsyte, Mrs. Julia, Miß Hester und Mr. Jolyon, mit Mr. Swithin, Mr. James, Mr. Roger und Mr. Nicholas singen. Ob Mrs. Hayman auch dabei sein würde, war zweifelhafter, da sie eingeäschert worden war. Insgeheim glaubte die Köchin, daß Mr. Timothy empört sein würde – er war immer so sehr gegen Leierkasten gewesen. Wie oft hatte sie nicht gesagt: »Zum Henker mit dem Ding! Da ist es wieder! Smither, Sie sollten lieber hinlaufen und sehen, was sich tun läßt.« Und im Grunde ihres Herzens hätte sie sich an den Melodien so gefreut, wenn sie nicht gewußt hätte, daß Mr. Timothy in einer Minute klingeln würde und sagen: »Hier, geben Sie ihm einen Penny, und sagen Sie ihm, daß er weitergehen soll.« Oft waren sie genötigt gewesen, noch ein paar Penny von ihren eigenen zuzulegen, damit der Mann ginge – Timothy hatte den Wert der Empfindungen immer unterschätzt. Glücklicherweise hatte er in den letzten Jahren die Leierkasten für Brummer gehalten, das war ein Trost, und sie hatten sich an den Melodien freuen können. Aber eine Harfe! Die Köchin war begierig. Es war eine Abwechslung! Und Mr. Timothy hatte die Abwechslungen nie geliebt. Doch davon sprach sie nicht zu Smither, die in bezug auf den Himmel so ganz eigene Anschauungen hatte, daß es einen manchmal ordentlich erschrecken konnte.

Sie weinte, während Timothy eingesargt wurde, und sie alle bekamen dann Sherry aus der jährlichen Weihnachtsflasche, die nun nicht mehr gebraucht werden würde. Ach ja! Sie war fünfundvierzig Jahre hier gewesen und Smither dreiundvierzig! Und jetzt sollten sie in ein winziges Häuschen in Tooting ziehen, um dort von ihren Ersparnissen und von dem, was Miß Hester ihnen so gütig vermacht hatte, zu leben – denn nach dieser ruhmreichen Vergangenheit einen neuen Dienst anzunehmen – nein! Aber sie hätten Mr. Soames gern noch einmal wiedergesehen und Mrs. Dartie und Miß Francie und Miß Euphemia. Und sollten sie auch selbst eine Droschke nehmen müssen, so fühlten sie doch, daß sie mit zur Beerdigung mußten. Sechs Jahre lang war Mr. Timothy ihr Baby gewesen, war jeden Tag jünger geworden, bis er zuletzt zu jung gewesen, um leben zu können.

Sie verbrachten die Stunden des Wartens mit Putzen und Abstauben, damit, die eine übriggebliebene Maus zu fangen und die letzten Schaben auszurotten, um alles in guter Ordnung zu hinterlassen, und unterhielten sich darüber, was sie von dem Nachlaß kaufen wollten. Miß Anns Arbeitskästchen, Miß Juleys, das heißt »Mrs. Julias« Seenesselalbum, den Ofenschirm, den Miß Hester gestickt hatte, und Mr. Timothys Haar – kleine goldene Löckchen in einem schwarzen Rahmen. Ach, die mußten sie haben – nur die Preise waren so sehr in die Höhe gegangen!

Es war Soames' Aufgabe, die Einladungen zum Begräbnis ergehen zu lassen. Er ließ sie von Gradman in seinem Bureau aufsetzen – nur an Blutsverwandte, und keine Blumen. Sechs Wagen wurden bestellt. Das Testament sollte nachher im Hause verlesen werden.

Er war um elf Uhr da, um zu sehen, daß alles bereit war. Ein Viertel nach elf kam der alte Gradman in schwarzen Handschuhen und Krepp um seinen Hut. Er und Soames warteten im Wohnzimmer. Um halb zwölf fuhren die Wagen in einer langen Reihe vor. Aber niemand weiter erschien. Gradman sagte:

»Es überrascht mich, Mr. Soames. Ich brachte sie selbst zur Post.«

»Ich weiß nicht«, sagte Soames, »er hatte alle Fühlung mit der Familie verloren.«

Soames hatte in alten Tagen oft bemerkt, wieviel nachbarlicher seine Familie gegen die Toten als gegen die Lebenden war. Doch jetzt schien die Art, wie sie sich zu Fleurs Hochzeit zusammengeschart hatten und dem Begräbnis Timothys fernblieben, eine wesentliche Wandlung zu zeigen. Es konnte freilich ein anderer Grund vorliegen, denn Soames fühlte, daß, wenn er nicht den Inhalt von Timothys Testament gekannt hätte, er selbst wahrscheinlich aus Zartgefühl ebenfalls weggeblieben wäre. Timothy hatte eine Menge Geld hinterlassen, ohne jedoch jemand zu haben, dem er es vermachen konnte. Sie wollten vermeiden, den Anschein zu erwecken, als erwarteten sie etwas. Um zwölf Uhr setzte der Zug sich von der Tür aus in Bewegung; Timothy allein in dem ersten Wagen unter Glas. Dann Soames allein; dann Gradman allein; dann die Köchin und Smither zusammen. Sie fuhren anfangs im Schritt, kamen unter dem hellen Himmel aber bald in Trab. Beim Eintritt zum Highgate-Friedhof wurden sie durch den Gottesdienst in der Kapelle aufgehalten. Soames wäre gern draußen in der Sonne geblieben. Er glaubte kein Wort davon; anderseits aber war es eine Form von Sicherheit, die man nicht gut außer acht lassen konnte, falls hinterher doch etwas daran sein sollte.

Sie gingen zwei zu zwei – er und Gradman, die Köchin und Smither – zu der Familiengruft. Es war nicht sehr vornehm für die Beerdigung des letzten alten Forsyte.

Auf dem Rückweg nach der Bayswater Road nahm er Gradman mit einer gewissen Wärme im Herzen mit in seinen Wagen. Er hatte eine Überraschung in Bereitschaft für den alten Burschen, der den Forsytes vierundfünfzig Jahre gedient hatte – eine Überraschung, die er gänzlich ihm zu verdanken hatte. Wie gut erinnerte er sich seines Vorschlags an dem Tage nach dem Begräbnis von Tante Hester, wo er zu Timothy gesagt: »Was meinst du, Onkel Timothy, da ist Gradman. Er hat sich viel Mühe für die Familie gegeben, wie denkst du darüber, ihm fünftausend zu vermachen?« und seiner Überraschung, als Timothy genickt hatte, nachdem es so schwierig gewesen, ihn dazu zu bringen, überhaupt etwas zu vermachen. Und jetzt würde der alte Mann vergnügt sein wie ein Mops, denn Mrs. Gradman, das wußte er, hatte ein schwaches Herz, und ihr Sohn hatte im Kriege ein Bein verloren. Es war außerordentlich befriedigend für Soames, ihm fünftausend Pfund von Timothys Geld verschafft zu haben. Sie setzten sich zusammen in das kleine Wohnzimmer, dessen Wände himmelblau mit Gold – wie eine Vision des Himmels waren, jeder Bilderrahmen darauf unnatürlich glänzend und jedes Stäubchen von den Möbeln entfernt, um das kleine Meisterstück – Timothys Testament – zu lesen. Mit dem Rücken gegen das Licht in Tante Hesters Lehnstuhl saß Soames Gradman gegenüber, der, das Gesicht dem Licht zugekehrt, auf Tante Anns Sofa Platz genommen hatte, schlug ein Bein über das andere und begann:

»Dies ist der letzte Wille und das Testament von mir, Timothy Forsyte in The Bower, Bayswater Road, London. Ich bestimme meinen Neffen Soames Forsyte in »Haus Zuflucht«, Mapledurham, und Thomas Gradman, 159 Folly Road Highgate (hiernach meine Testamentsvollstrecker genannt), zu Vollstreckern dieses meines Testaments. Besagtem Soames Forsyte vermache ich die Summe von eintausend Pfund, frei von Erbschaftssteuer, und besagtem Thomas Gradman vermache ich die Summe von fünftausend Pfund, frei von Erbschaftssteuer.«

Soames machte eine Pause. Der alte Gradman beugte sich vor und umfaßte krampfhaft mit jeder seiner dicken Hände ein starkes Knie; sein Mund stand offen, so daß die Goldfüllung von drei Zähnen leuchtete, seine Augen blinzelten, zwei Tränen rollten langsam daraus hernieder. Soames las eifrig weiter: »Den ganzen Rest meines Vermögens jeglicher Art hinterlasse ich meinen Testamentsvollstreckern in dem Vertrauen, daß sie es nach folgenden namhaft gemachten Bestimmungen verwenden und verwalten werden. Es sind davon all meine Schulden, Begräbniskosten und Ausgaben jeder Art in Verbindung mit meinem Testament zu bezahlen und das übrige für den männlichen in gerader Linie abstammenden Abkömmling meines Vaters Jolyon Forsyte durch seine Heirat mit Ann Pierce anzulegen, der nach dem Ableben aller in gerader Linie abstammenden Nachkommen, ob männlich oder weiblich, meines besagten Vaters durch seine besagte Heirat zur Zeit meines Todes zuletzt das Alter von einundzwanzig Jahren erreicht hat, da es durchaus mein Wunsch ist, daß mein Vermögen bis zur äußersten Grenze, die die Gesetze Englands gestatten, zugunsten dieses vorher gekennzeichneten, in gerader Linie abstammenden Nachkommen verwaltet werden soll.«

Soames las noch die Klauseln der Anlagen und Bescheinigungen und blickte Gradman an. Der alte Mann wischte sich die Stirn mit einem großen Taschentuch, dessen leuchtende Farbe dem Vorgang plötzlich etwas Festliches verlieh.

»Auf mein Wort, Mr. Soames!« sagte er, und es war klar, daß der Anwalt in ihm den Menschen vollständig ausgelöscht hatte: »Auf mein Wort! Da sind ja jetzt zwei Babys und ein paar ganz junge Kinder – wenn eins davon bis zu achtzig lebt – es ist kein so hohes Alter – und einundzwanzig dazu – das sind hundert Jahre; und Mr. Timothy ist einhundertundfünfzigtausend Pfund wert, wenn er überhaupt etwas wert ist. Mit Zinseszins zu fünf Prozent verdoppelt es sich in vierzehn Jahren. In vierzehn Jahren dreihunderttausend – sechshunderttausend in achtundzwanzig – zwölfhunderttausend in zweiundvierzig – zwei Millionen vierhunderttausend in sechsundfünfzig – vier Millionen achthunderttausend in siebzig – neun Millionen sechshunderttausend in vierundachtzig – –. Nun, in hundert Jahren wären es zwanzig Millionen! Und wir werden es nicht erleben! Das ist wahrlich ein Testament!«

Soames sagte trocken: »Es kann alles mögliche passieren. Der Staat könnte das Ganze nehmen, sie sind zu allem fähig in dieser Zeit.«

»Und bringen fünf«, sagte Gradman zu sich. »Ich vergaß – Mr. Timothys Konsols, wir werden nicht mehr als zwei Prozent bekommen bei diesen Steuern. Um sicher zu gehen, sagen wir acht Millionen. Das ist immer noch ein hübsches Sümmchen.«

Soames erhob sich und reichte ihm das Testament. »Sie gehen in die City. Nehmen Sie das an sich, und tun Sie, was notwendig ist. Annoncieren Sie, aber es sind keine Schulden da. Wann ist die Auktion?«

»Nächsten Dienstag«, sagte Gradman. »Ein Leben oder mehrere Leben und einundzwanzig dazu – das liegt in weiter Ferne. Aber es freut mich, daß es in der Familie bleibt ...«

Die Auktion – nicht bei Jobson – war weit lebhafter besucht als das Begräbnis, obwohl die Köchin und Smither nicht dabei waren, denn Soames hatte es auf sich genommen, ihnen ihre Herzenswünsche zu erfüllen. Winifred war dort, Euphemia und Francie, und Eustace war in seinem Auto gekommen. Die Miniaturen, die Barbizons und die J.R. signierten Zeichnungen waren von Soames gekauft worden, und Reliquien ohne jeden Marktwert in einem entlegenen Zimmer für Familienmitglieder beiseitegestellt, denen daran lag, Andenken zu erhalten. Nicht ein Möbelstück, kein Bild oder eine der Porzellanfiguren entsprachen modernem Geschmack. Die Kolibris waren wie Herbstblätter abgefallen, als sie von der Stelle genommen wurden, wo sie seit sechzig Jahren nicht gesummt hatten. Es war schmerzlich für Soames zu sehen, wie die Stühle, auf denen seine Tanten gesessen, das kleine Klavier, auf dem sie eigentlich nie gespielt, die Bücher, deren Außenseite sie betrachtet, das Porzellan, das sie abgestaubt, die Vorhänge, die sie zugezogen, der Kaminteppich, der ihre Füße gewärmt, und vor allem die Betten, in denen sie gelegen und gestorben waren – an kleine Händler und die Frauen aus Fulham verkauft wurden. Allein – was war zu tun? Sie kaufen und in eine Rumpelkammer stellen? Nein, sie mußten den Weg alles Fleisches und aller Möbel gehen und verbraucht werden. Doch als sie Tante Anns Sofa anbrachten und es für dreißig Schilling jemand zuschlagen wollten, rief er plötzlich: »Fünf Pfund!« Das Aufsehen war beträchtlich und das Sofa sein.

Als die kleine Auktion in dem dumpfigen Lokal vorüber war und diese Aschenreste des viktorianischen Zeitalters verstreut, ging er in den nebligen Oktobersonnenschein hinaus und hatte das Gefühl, als sei alle Gemütlichkeit ausgestorben in der Welt und das Schild »Zu vermieten« hinge wirklich da. Revolutionen am Horizont, Fleur in Spanien, kein Trost bei Annette; kein Timothy mehr in der Bayswater Road. In der quälenden Vereinsamung seiner Seele ging er in die Goupenor-Galerie. Dort waren die Aquarelle Jolyons ausgestellt. Er ging hinein, um die Nase darüber zu rümpfen – das würde ihm vielleicht eine leise Befriedigung gewähren. Von June zu Vals Frau, von ihr zu Val, von Val zu seiner Mutter und von ihr zu Soames war die Nachricht durchgesickert, daß das Haus – das verhängnisvolle Haus in Robin Hill – zum Verkauf stand und Irene im Begriff war, zu ihrem Jungen in Britisch-Kolumbia oder irgendeinem solchen Ort hinauszugehen. Für einen wilden Augenblick war Soames der Gedanke gekommen: »Weshalb sollte ich es nicht zurückkaufen? Es war für mich bestimmt – –!« Doch so schnell er gekommen, war er wieder fort. Ein zu kläglicher Triumph, mit zu vielen demütigenden Erinnerungen für ihn und Fleur. Sie würde nach dem, was geschehen, nie dort leben wollen. Nein, das Besitztum mußte an einen Pair oder einen Kriegsgewinnler kommen. Es war von Anbeginn ein Zankapfel gewesen, das Gehäuse der Fehde: und wo die Frau fort war, jetzt ein leeres Gehäuse. »Zu verkaufen« oder »Zu vermieten«. Im Geiste konnte er dies Schild hoch oben auf der efeuumrankten Mauer sehen, die er gebaut hatte.

Er ging durch den ersten der beiden Räume der Galerie. Das war wirklich eine Menge Arbeit! Und jetzt, wo der Mann tot war, schien sie nicht so trivial. Die Zeichnungen waren ganz hübsch, hatten sogar eine gewisse Atmosphäre und etwas Individuelles in der Pinselführung. »Sein Vater und mein Vater, er und ich, mein Kind und sein Kind!« dachte Soames. So war es immer weitergegangen! Und alles um dieser Frau willen! Durch die Ereignisse der letzten Woche besänftigt und unter der Einwirkung der melancholischen Schönheit des Herbsttages war Soames näher daran denn je, sich klarzumachen, daß das Wesen der Schönheit etwas Geistiges war, das nur durch völlige uneigennützige Hingabe zu erfassen war. Wenigstens war er in seiner Liebe zu seiner Tochter dieser Wahrheit nahe, die so unbegreiflich für einen echten Forsyte ist, vielleicht begann er dadurch ein wenig zu verstehen, wie er um den Lohn gekommen war. Und dort, unter den Zeichnungen seines Vetters, der errungen hatte, was für ihn unerreichbar gewesen, gedachte er der beiden mit einer Nachsicht, die ihn überraschte. Aber er kaufte keine der Zeichnungen.

Gerade am Ausgang, als er wieder ins Freie hinaus wollte, begegnete er durch einen Zufall, den er gar nicht für unmöglich gehalten hatte, als er in die Galerie ging – Irene, die eben eintrat. So war sie also noch nicht fort und machte jetzt ihren Abschiedsbesuch bei dem Nachlaß jenes Mannes! Er unterdrückte eine unfreiwillige, fast unbewußte Regung, das mechanische Reagieren seiner Sinne auf den Reiz dieser Frau, die er einst besessen, und ging mit abgewandtem Blick an ihr vorüber. Doch als er es getan, konnte er sich's nicht versagen, sich nach ihr umzusehen. Das also war das Ende. – Die Leidenschaft und der Hauptinhalt seines Lebens, dessen Wahnsinn und Sehnsucht, die einzige Niederlage, die er erlitten, würden schwinden, wenn sie ihm diesmal aus dem Gesicht kam; selbst solche Erinnerungen hatten ihren eigenen sonderbar schmerzenden Wert. Auch sie sah sich um. Plötzlich hob sie ihre behandschuhte Hand, ihre Lippen lächelten leise, die dunklen Augen schienen zu sprechen. Nun war es an Soames, das Lächeln und den kleinen Abschiedswink nicht zu erwidern, und er ging, zitternd von Kopf bis Fuß, auf die vornehme Straße hinaus. Er wußte, was sie hatte sagen wollen: »Jetzt, wo ich deinem Bereich und dem der Deinen für immer entrückt sein werde – verzeihe mir, ich wünsche dir alles Gute!« Das war der Sinn, das letzte Zeichen jener furchtbaren Zeit, wo es weder Moral, Pflicht noch Vernunft für sie gegeben hatte – ihres Abscheus vor ihm, der ihren Körper besessen hatte, aber nie ihren Geist oder ihr Herz gerührt. Es schmerzte, ja – schmerzte mehr, als wenn sie ihre Maske unbewegt gelassen, ihre Hand nicht erhoben hätte.

Drei Tage später, in dem rasch gilbenden Oktober, nahm Soames eine Taxidroschke nach dem Highgate-Friedhof und ging durch seinen weißen Wald zum Erbbegräbnis der Familie Forsyte. Dicht neben der Zeder, über Grabkammern und Kolumbarium – groß, häßlich und individuell, schien es der Gipfel angemessener Zweckmäßigkeit. Er erinnerte sich einer Auseinandersetzung, bei der Swithin dafür eingetreten war, vorn den stehenden Fasan anzubringen. Der Vorschlag wurde zugunsten eines Kranzes in Stein verworfen, über dem die einfachen Worte: »Erbbegräbnis von Jolyon Forsyte. 1850« standen. Es war alles in guter Ordnung. Alle Spuren der Beerdigung von neulich waren entfernt, und sein schlichtes Grau wirkte ruhevoll und schwermütig im Sonnenschein. Die ganze Familie lag jetzt dort, außer der Frau des alten Jolyon, die infolge eines Vertrags in das eigene Familienerbbegräbnis in Suffolk zurückgebracht worden war; der alte Jolyon selbst lag in Robin Hill, und Susan Hayman war eingeäschert, so daß niemand wußte, wo sie sein könnte. Soames blickte mit Befriedigung darauf – es war massiv, erforderte wenig Aufmerksamkeit, und das war wichtig, denn er wußte wohl, daß sich niemand darum kümmern würde, wenn er nicht mehr da war, und er mußte sich nun wohl bald nach einem Unterkommen dort umsehen. Er hatte vielleicht noch zwanzig Jahre vor sich, aber man konnte nie wissen. Zwanzig Jahre ohne einen Onkel oder eine Tante, mit einer Frau, von der man besser nichts wußte, und einer Tochter, die vom Hause fort war. Seine Stimmung neigte zu Melancholie und Rückschau.

Dieser Friedhof war voll von Leuten mit außerordentlichen Namen, die mit außerordentlichem Geschmack begraben waren, wie man sagte. Aber man hatte auch eine schöne Aussicht hier oben, direkt auf London. Annette hatte ihm einmal eine Geschichte von jenem Franzosen, von Maupassant, zu lesen gegeben – eine höchst unerquickliche Angelegenheit, wo alle Skelette in einer Nacht aus ihren Gräbern aufstanden und all die frommen Inschriften auf den Steinen in Beschreibungen ihrer Sünden verwandelt wurden. Keine wahre Geschichte übrigens. Er wußte über die Franzosen nicht Bescheid, aber an den Engländern war, abgesehen von ihrem Geschmack und ihren Zähnen, die allerdings jämmerlich waren, eigentlich nichts auszusetzen. »Erbbegräbnis von Jolyon Forsyte. 1850.« Eine Menge Leute waren seitdem dort begraben – eine Menge englischen Lebens zu Moder und Staub zerfallen! Das Surren eines Flugzeugs, das unter den goldig gefärbten Wolken vorüberkam, veranlaßte ihn, emporzublicken. Es war mit der Expansion doch ganz verteufelt vorwärtsgegangen! Aber schließlich kam alles auf einen Friedhof hinaus – auf einen Namen und ein Datum auf einem Grab. Und er dachte mit sonderbarem Stolz daran, daß er und seine Familie so gut wie nichts dazu getan, diese fieberhafte Expansion zu fördern. Als gute, solide Vermittler waren sie mit Würde an die Arbeit gegangen, zu verwalten und zu besitzen. Ihr Vorfahr allerdings hatte in einer schrecklichen Periode gebaut, und Jolyon in einer zweifelhaften gemalt, aber soviel er sich erinnerte, hatte kein anderer von ihnen allen seine Hände damit besudelt, irgend etwas zu schaffen – es sei denn, daß Val Dartie und seine Pferdezucht zählte. Sammler, Anwälte, Advokaten, Kaufleute, Verleger, Buchhalter, Direktoren, Agenten für Landbesitz, sogar Soldaten waren sie gewesen! Das Land hatte sich freilich trotz ihrer ausgedehnt. Sie hatten es gehemmt, kontrolliert, verteidigt und hatten Nutzen gezogen aus dem Prozeß – und wenn man bedachte, wie ihr Vorfahr mit so gut wie nichts begonnen hatte, und seine Nachkommen in gerader Linie bereits, wie Gradman schätzte, eine bis anderthalb Millionen besaßen, war es nicht so schlecht! Und doch hatte er mitunter das Gefühl, als sei die Blütezeit der Familie vorüber und das Streben nach Besitz im Aussterben. Sie schien unfähig, Geld zu machen – diese vierte Generation, sie widmete sich der Kunst, der Literatur, der Landwirtschaft oder der Armee. Oder sie lebte von ihrem Erbe – sie hatte keinen Schwung und keine Ausdauer. Sie würde noch aussterben, wenn sie sich nicht vorsah.

Soames verließ die Gruft und hatte den Wind jetzt gegen sich. Die Luft hier oben wäre köstlich, wenn er nur das Gefühl hätte loswerden können, daß Tod darin war. Unruhig betrachtete er die Kreuze und Urnen, die Engel, die »Immortellen«, die Blumen, blühende und welke, und plötzlich bemerkte er eine Stelle, die so verschieden von allen andern hier oben aussah, daß er die paar Meter hinaufgehen mußte, um sie anzusehen. Ein stiller Winkel mit einem massiven, merkwürdig geformten Kreuz aus roh behauenem Granit, von vier Lebensbäumen bewacht. Die Stelle lag frei, nicht in der Enge der andern Gräber, hatte einen kleinen eingehegten Garten an einer Seite, und vorn stand eine golden schimmernde Birke. Diese Oase in der Wüste konventioneller Gräber wirkte auf Soames' ästhetischen Sinn, und er setzte sich dort im Sonnenschein nieder. Durch die zitternden goldenen Birkenblätter blickte er auf London hinunter und überließ sich den Wogen der Erinnerung. Er dachte an Irene im Montpellier Square, als ihr Haar rotgolden war und ihre weißen Schultern sein – an Irene, den Preis seiner Liebesleidenschaft, die sich seinem Eigentumsrecht widersetzte. Er sah Bosinneys Leiche in der weißen Leichenkammer und wie Irene auf dem Sofa mit dem Blick eines sterbenden Vogels ins Weite geschaut. Dann wieder gedachte er ihrer vor der kleinen grünen Niobe im Bois de Boulogne, wo sie ihn nochmals abgewiesen hatte. Im Geiste sah er sich an dem Novembertag, als Fleur geboren werden sollte, an dem treibenden Fluß, sah die welken Blätter auf dem grünlichen Wasser schwimmen und das schlangenköpfige Unkraut schwanken und sich wiegen ohne Unterlaß. Sah sich wieder am Fenster, das sich in die kalte gestirnte Nacht über dem Hydepark öffnete, als sein Vater eben gestorben war. Dann sprangen seine Gedanken zu jenem Bilde »Die zukünftige Stadt« über, zu der ersten Begegnung Fleurs mit Jon, der bläulichen Spur von Prosper Profonds Zigarre und Fleur, die am Fenster stand und hinunterwies, wo er umherschlenderte. Zu dem Anblick Irenens und ihres Mannes, die nebeneinander auf der Tribüne von »Lords« Kricketplatz saßen. Zu ihr und ihrem Jungen in Robin Hill. Zu dem Sofa, wo Fleur zusammengekauert in der Ecke lag, ihren Lippen, die sich auf seine Wange preßten, und ihrem »Papachen« zum Abschied. Und plötzlich sah er wieder den letzten Wink von Irenens Hand in grauen Handschuhen.

Er saß dort lange Zeit und dachte an seine Laufbahn, sein unermüdliches Streben nach Besitz, und selbst seine Fehlschläge gewährten ihm Befriedigung.

»Zu vermieten« – das Zeitalter und die Lebensweise der Forsytes, wo ein Mann seine Seele, sein Kapital und seine Frau fraglos und unbeschränkt sein eigen nannte. Und jetzt hatte der Staat sein Kapital, oder wollte es, seine Frau gehörte sich selbst, und Gott weiß, wer seine Seele hatte. »Zu vermieten« – ein gesunder und einfacher Glaubenssatz!

Die Wasser der Wandlung schäumten herein und trugen die Verheißung neuer Formen erst dann, wenn die zerstörende Flut zu verebben begann. Er saß dort und war sich ihrer dunkel bewußt, doch seine Gedanken waren fest auf die Vergangenheit gerichtet – wie jemand in einer wilden Nacht auf einem galoppierenden Pferde reitet, das Gesicht dem Schweif zugewandt. Über die Dämme der viktorianischen Zeit hinweg rollten die Wasser über Besitz, Manieren und Moral, über Melodien und die alten Formen der Kunst – Wasser, die einen Geschmack wie von Blut in seinem Munde hinterließen, bis an den Fuß dieses Highgatehügels leckten, wo der Viktorianismus begraben lag. Und dort oben, an dessen eigenartigster Stelle, wo er saß, ließ Soames – die Verkörperung gesicherten Vermögens – sich durch ihr ruheloses Rauschen nicht beirren. Instinktiv weigerte er sich dagegen anzukämpfen – dazu war zuviel ursprüngliche Klugheit in ihm, zuviel von dem besitzheischenden Tiere Mensch. Sie würden sich beruhigen, wenn das Flutfieber der Zerstörung und Verwüstung ausgetobt, die Schöpfungen und das Eigentum anderer genügend vernichtet und zertrümmert waren – sie würden sich verlaufen und verebben, und neue Formen würden erstehen, die auf ein Streben gegründet waren, das älter ist als das Fieber der Wandlungen – auf das Streben nach einem Heim.

» Je m'en fiche«, sagte Prosper Profond. Soames sagte nicht » Je m'en fiche« – es war französisch, und der Mensch war ihm ein Dorn im Auge –, aber tief innen wußte er, daß Wandlung nur die Zwischenzeit des Todes zwischen zwei Formen des Lebens war, daß die Zerstörung notwendig war, um neuerem Besitz Platz zu machen. Was hatte es zu bedeuten, daß das Schild angebracht und Behaglichkeit zu vermieten war? – eines Tages würde doch jemand kommen und alles wiederherstellen.

Nur eines beunruhigte ihn wirklich, als er dort saß – das schmerzliche Sehnen in seinem Herzen – weil die Sonne wie ein Zauber auf seinem Antlitz lag, auf den Wolken und den goldenen Birkenblättern, und das Rauschen des Windes so sanft, das Grün der Lebensbäume so dunkel war und die Mondsichel so blaß am Himmel stand.

Mochte er sie auch ersehnen und immer wieder ersehnen – erlangen würde er sie nie – die Schönheit und Liebe in der Welt!


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