Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Soames' Privatleben

Auf seinem Wege zur Green Street fiel Soames ein, daß er eigentlich bei Dumetrius in der Suffolk Street vorsprechen müßte, um über den möglichen Verkauf von Bolderbys »Old Crome« etwas zu erfahren. Es war schon der Mühe wert, den Krieg durchgekämpft zu haben, um Bolderbys »Old Crome« marktgängig zu halten! Der alte Bolderby war gestorben, sein Sohn und sein Enkel waren gefallen – ein Vetter übernahm das Bild mit einem Grundstück, das er jedoch verkaufen wollte, einige sagten, der Lage Englands wegen, andere, weil er Asthma habe.

Wenn Dumetrius das Bild erst einmal in die Hände bekam, würde der Preis unerschwinglich sein, es war notwendig für Soames, herauszubekommen, ob Dumetrius es gekauft hatte, bevor er selbst versuchte, es zu erwerben. Er beschränkte sich daher darauf, sich mit Dumetrius darüber zu unterhalten, ob Monticellis wiederkommen würden, wo es jetzt Mode war, daß ein Bild alles andere sei als ein Bild. Erst als er sich verabschiedete, fügte er hinzu: »Also Bolderbys ›Old Crome‹ soll schließlich doch nicht verkauft werden?« Stolz auf seine Überlegenheit in diesem Wetteifer, erwiderte Dumetrius, wie Soames erwartet hatte:

»Oh! Ich werde es schon bekommen, Mr. Forsyte!«

Der Blick seiner Augen bestärkte Soames in dem Entschluß, direkt an den neuen Bolderby zu schreiben, da seiner Ansicht nach der einzig würdige Weg, um den »Old Crome« zu verhandeln, war, Vermittler zu vermeiden. Er sagte daher: »Schön guten Tag!«, ging und ließ Dumetrius betroffen zurück.

In der Green Street erfuhr er, daß Fleur aus war und den Abend fortbleiben würde; sie wolle noch eine Nacht in London zubringen. Er nahm verstimmt eine Droschke und erreichte seinen Zug.

Er langte gegen sechs Uhr zu Haus an. Die Luft war schwül, die Mücken stachen, ein Gewitter im Anzug. Er nahm seine Briefe und ging in sein Ankleidezimmer hinauf, sich von London zu reinigen.

Eine uninteressante Post. Eine Quittung, eine Rechnung für Einkäufe von Fleur. Ein Zirkular über eine Ausstellung von Radierungen. Ein Brief, der begann:

»Sir,
Ich betrachte es als meine Pflicht –«

Das mußte ein Bettelbrief sein oder sonst etwas Unangenehmes. Er sah sogleich nach der Unterschrift. Es war keine da: Ungläubig drehte er das Blatt um und untersuchte alle Ecken. Da er nicht im öffentlichen Leben stand, hatte Soames noch nie einen anonymen Brief erhalten, und sein erster Impuls war, ihn als etwas Gefährliches zu zerreißen, sein zweiter, ihn als etwas noch Gefährlicheres zu lesen.

»Sir,
Ich betrachte es als meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, wenn ich auch gar kein Interesse an der Sache habe, daß Ihre Frau mit einem Ausländer verkehrt –«

Als Soames zu diesem Wort kam, hielt er mechanisch inne und prüfte den Poststempel. Soviel er die unentzifferbare Inschrift des Postamts zu enträtseln vermochte, stand etwas von »sea« am Ende und »t« darauf. Chelsea? Nein! Battersea? Vielleicht! Er las weiter.

»Diese Ausländer sind alle gleich. Weg mit der Bande! Dieser trifft sich jede Woche zweimal mit Ihrer Frau. Ich weiß es aus eigener Anschauung – und einen Engländer betrogen zu sehen, geht mir gegen den Strich. Beobachten Sie es selbst, und sehen Sie, ob es wahr ist. Ich würde mich nicht einmischen, wenn es sich nicht um einen schmutzigen Ausländer handelte. Gehorsamst Ihr ...«

Die Empfindung, mit der Soames den Brief fallen ließ, war ähnlich, wie wenn er beim Betreten seines Schlafzimmers entdeckt hätte, daß der Raum voll von Schaben ist. Das Gemeine der Anonymität gab dem Augenblick eine widerliche Obszönität. Und das schlimmste daran war, daß dieser Schatten ihn schon seit dem Sonntagabend, als Fleur Prosper Profond, der unten über den Rasenplatz schlenderte, »schleichende Katze« genannt hatte, heimlich beunruhigte. Hatte er nicht aus diesem Grunde an demselben Tage sein Testament und seinen Ehekontrakt durchgesehen? Und nun hatte dieser anonyme rohe Mensch die Sache, anscheinend ohne etwas für sich zu erwarten, vielleicht nur, um seinem Haß gegen Ausländer Luft zu machen, aus der Verborgenheit gerissen, in der sie bleiben sollte, wie er gewünscht und gehofft. Daß er sich in seinem Alter eine solche Mitteilung über Fleurs Mutter aufzwingen lassen mußte! Er hob den Brief vom Teppich auf und riß ihn mitten durch, dann aber, als er nur noch durch die Falte hinten zusammenhing, ließ er davon ab und las ihn nochmals. In diesem Augenblick faßte er den entscheidendsten Entschluß seines Lebens. Er wollte nicht noch einmal in einen Skandal hineingezwungen werden. Nein! Wie er sich auch entschied, diese Sache zu behandeln – und es erforderte die eingehendste Überlegung –, wollte er nichts tun, das Fleur verletzen konnte. Nachdem er diesen Entschluß gefaßt, fand er seine Ruhe wieder und wusch sich die Hände. Als er sie abtrocknete, zitterten sie. Einen Skandal wollte er nicht, aber etwas mußte unternommen werden, um der Sache Einhalt zu tun. Er ging in das Zimmer seiner Frau und schaute sich darin um. Der Gedanke, nach etwas zu suchen, das ihre Schuld beweisen konnte und ihn berechtigte, ihr zu drohen, kam ihm nicht einmal. Es würde nichts da sein, dazu war sie zu praktisch. Und den Gedanken, sie beobachten zu lassen, hatte er verworfen, bevor er ihn gefaßt – er erinnerte sich zu gut seiner früheren Erfahrungen damit. Nein! Er hatte nichts als diesen zerrissenen Brief eines unbekannten rohen Menschen, dessen unverschämte Einmischung in sein Privatleben er heftig zurückwies. Es widerstrebte ihm, Gebrauch davon zu machen, aber er würde vielleicht dazu genötigt sein. Welch ein Glück, daß Fleur heute nicht zu Haus war! Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine schmerzlichen Betrachtungen.

»Mr. Michael Mont, Sir, ist im Wohnzimmer. Wollen Sie ihn empfangen?«

»Nein«, sagte Soames; »ja. Ich komme hinunter.«

Irgend etwas, das seine Gedanken für ein paar Minuten in Anspruch nehmen würde!

Michael Mont in seinem Flanellanzug stand auf der Veranda und rauchte eine Zigarette. Er warf sie fort, als Soames herauskam, und strich sich mit der Hand durchs Haar.

Soames' Gefühl für den jungen Mann war sonderbar. Im Vergleich zu früheren Lebensanschauungen war er ohne Zweifel ein leichtfertiger junger Bursche ohne jedes Verantwortungsgefühl, doch aber gut zu leiden in seiner außerordentlich muntern Art, mit seinen Ansichten herauszuplatzen.

»Kommen Sie herein«, sagte Soames. »Haben Sie schon Tee getrunken?«

Mont kam herein.

»Ich glaubte, Fleur würde zurück sein, Sir; aber ich bin froh, daß sie nicht hier ist. Die Sache ist nämlich die, daß ich – ich schrecklich verliebt in sie bin, so schrecklich verliebt, daß ich dachte, es sei besser, Sie wüßten es. Es ist natürlich altmodisch, damit zuerst zum Vater zu gehen, aber ich dachte, Sie würden es mir verzeihen. Ich ging zu meinem eigenen Vater, und er sagt, wenn ich mir ein Heim gründe, wolle er mir helfen. Er klammert sich förmlich an den Gedanken. Ich erzählte ihm von Ihrem Goya.«

»Oh!« sagte Soames unsagbar trocken. »Er klammert sich daran?«

»Ja, Sir, und Sie?«

Soames lächelte leise.

»Sehen Sie«, begann Mont wieder, indem er seinen Strohhut drehte, während sein Haar und seine Augenbrauen sich vor Erregung zu sträuben schienen, »wenn man den Krieg mitgemacht hat, kann man nicht anders, als es eilig haben.«

»Zu heiraten und nachher wieder auseinanderzugehen«, sagte Soames langsam.

»Nicht, wenn man mit Fleur verheiratet ist, Sir. Stellen Sie sich vor, Sie wären an meiner Stelle.«

Soames räusperte sich. Seine Art, es vorzubringen, war wirklich ungestüm.

»Fleur ist zu jung«, sagte er.

»O nein, Sir! Wir sind furchtbar alt heutzutage. Mein Vater kommt mir dagegen wie ein kleines Kind vor, sein Denkapparat hat sich nicht die Spur verändert. Aber er ist ein › Baronight‹, das hemmt ihn natürlich.«

»› Baronight‹?« wiederholte Soames, »was ist denn das?«

»Baronet, Sir. Ich werde eines Tages Baronet sein. Aber ich werde darüber hinwegzukommen suchen, wissen Sie.«

»Gehen Sie und versuchen Sie, über dies hier hinwegzukommen«, sagte Soames.

Der junge Mann sagte flehend: »Ach nein, Sir! Ich muß einfach hier herumlungern, sonst habe ich nicht die geringste Chance. Sie werden Fleur tun lassen, was sie will, denke ich doch. Madame ist einverstanden.«

»Wirklich?!« sagte Soames frostig.

»Sie haben doch nichts gegen mich, nicht wahr?« Und der junge Mann sah ihn so kummervoll an, daß Soames lächelte.

»Sie mögen sich sehr alt vorkommen«, sagte er; »aber Sie scheinen mir außerordentlich jung. Alles so Hals über Kopf herauszusprudeln, ist nicht gerade ein Zeichen von Reife.«

»Ganz recht, Sir, das gebe ich zu. Aber um Ihnen zu zeigen, daß ich es ernst meine – ich habe ein Geschäft.«

»Freut mich, es zu hören.«

»Habe mich mit einem Verleger zusammengetan; mein Alter schießt die Mittel vor.«

Soames legte die Hand auf seinen Mund – er hätte fast gesagt: »Gott helfe dem Verleger!« Seine grauen Augen blickten den erregten jungen Mann forschend an.

»Sie mißfallen mir nicht, Mr. Mont, aber Fleur ist mir alles. Alles – verstehen Sie?«

»Ja, Sir, ich weiß; aber mir auch.«

»Das mag wohl sein. Ich freue mich aber, daß Sie es mir gesagt haben. Und nun, denke ich, ist nichts weiter darüber zu reden.«

»Ich weiß, daß es von ihr abhängt, Sir.«

»Ich hoffe, es wird recht lange von ihr abhängen.«

»Sie ermutigen mich nicht«, sagte Mont plötzlich.

»Nein«, sagte Soames, »meine Erfahrungen im Leben ermuntern mich nicht, übereilte Ehen zu stiften. Gute Nacht, Mr. Mont. Ich werde Fleur nicht erzählen, was Sie gesagt haben.«

»Oh!« murmelte Mont kleinlaut; »ich könnte mir vor Sehnsucht nach ihr eine Kugel durch den Kopf jagen. Das weiß sie sehr gut.«

»Was Sie sagen.« Und Soames streckte die Hand aus. Ein zerstreuter Druck, ein schwerer Seufzer, und bald darauf rief das Geräusch von dem Motorzweirad des jungen Mannes Visionen von fliegendem Staub und gebrochenen Gliedmaßen hervor.

»Die jüngere Generation!« dachte er ernst und ging auf den Rasenplatz hinaus. Die Gärtner hatten gemäht, und man spürte noch den Duft des frisch geschnittenen Grases – die Gewitterluft hielt alle Gerüche dicht am Boden. Der Himmel hatte eine purpurne Färbung – die Pappeln waren schwarz. Zwei oder drei Boote kamen auf dem Fluß vorüber, schienen Schutz zu suchen vor dem Sturm. »Drei Tage schönes Wetter«, dachte Soames, »und dann ein Sturm!« Wo war Annette? Mit jenem Manne, soviel er wußte – sie war eine junge Frau! Betroffen über die sonderbare Milde dieses Gedankens, ging er in die Laube und setzte sich. Die Sache war die, daß – er räumte es selbst ein – daß Fleur so viel für ihn bedeutete und seine Frau sehr wenig, sehr wenig: sie war Französin – war nie viel mehr als die Frau im Hause gewesen, und er begann diesen Dingen gegenüber gleichgültig zu werden. Es war seltsam, wie Soames in seiner tief eingewurzelten Vorliebe für Mäßigung und Sicherheit, sobald es sich um Gefühlsregungen handelte, immer alles auf eine Karte setzte. Erst Irene – und jetzt Fleur. Er war sich dessen dunkel bewußt, als er dort saß, erkannte wohl die Gefahr, die darin lag. Es hatte ihn einst zu Schiffbruch und Skandal geführt – jetzt sollte es ihn retten! Er liebte Fleur so sehr, daß er keinen Skandal mehr haben wollte. Wenn er nur an den anonymen Briefschreiber heran könnte, so wollte er ihn schon lehren, sich nicht hineinzumischen und nicht den Schmutz auf dem Grunde des Wassers aufzuwühlen, das er still und regungslos zu sehen wünschte ... Ein Blitz in der Ferne, ein Rollen unten, und große Regentropfen spritzten auf das Strohdach über ihm. Es ließ ihn gleichgültig, und er zeichnete mit dem Finger ein Muster auf die staubige Oberfläche des kleinen ländlichen Tisches. Fleurs Zukunft! »Sie soll es gut haben!« dachte er. »Sonst ist alles einerlei in meinem Alter!« Eine einsame Geschichte – das Leben! Was du besitzest, kannst du nicht für dich behalten! Sobald du eines abgewehrt, kommt schon etwas anderes. Auf nichts kann man sich verlassen! Er streckte die Hand aus und riß eine rote Kletterrose aus einem Büschel, der das Fenster verdeckte. Blumen wuchsen und vergingen – wie sonderbar die Natur doch war! Der Donner rollte und krachte, er kam von Osten über den Fluß, die verblassenden Blitze blendeten seine Augen; die Wipfel der Pappeln zeichneten sich scharf und dicht gegen den Himmel ab, ein schwerer Schauer prasselte rauschend herab und verhüllte alles in dem kleinen Haus, wo er gleichgültig und nachdenklich saß.

Als der Sturm vorüber war, verließ er seinen Zufluchtsort und ging den nassen Weg zum Flußufer hinunter.

Zwei Schwäne hatten dort im Schilf Schutz gesucht. Er kannte die Vögel gut und beobachtete die Würde in der Bewegung dieser weißen Hälse und der schlangenartigen Köpfe. »Keine Würde – in dem, was ich vorhabe!« dachte er. Und doch mußte zugegriffen werden, damit nicht Schlimmeres geschah. Annette mußte nun zurück sein, wohin sie auch gegangen sein mochte, denn es war beinah Tischzeit, und als der Augenblick, sie zu sehen, sich näherte, wuchs die Schwierigkeit, zu wissen, was zu sagen war, und wie er es sagen sollte, immer mehr. Ein neuer und erschreckender Gedanke stellte sich ein. Gesetzt, sie forderte ihre Freiheit, um diesen Menschen zu heiraten! Ja, wenn sie das wollte, konnte er nicht darauf eingehen. Dazu hatte er sie nicht geheiratet. Das Bild Prosper Profonds tauchte beruhigend vor ihm auf. Das war kein Mann, der heiratete! Nein, nein! Zorn trat an Stelle des auftauchenden Schreckbildes. »Er sollte mir lieber nicht in den Weg kommen«, dachte er. Der Mischling repräsentierte – –! Aber was repräsentierte Prosper Profond eigentlich? Nichts, das in Betracht kam, sicherlich. Und doch etwas, das stark genug wirkte in der Welt – Unmoral, von der Kette losgelassen, Blasiertheit, die auf Raub ausgeht! Dieser Ausdruck: » Je m'en fiche!«, den Annette von ihm aufgegriffen hatte! Ein Fatalist! Ein Kontinentaler – ein Kosmopolit – ein Produkt der Zeit! Eine vollkommenere Verdammung gab es für Soames nicht.

Die Schwäne hatten ihre Köpfe gewandt und blickten an ihm vorbei in die Ferne. Einer von ihnen zischte leise, bewegte den Schwanz, drehte sich, als gehorche er einem Steuer, und schwamm davon. Der andere folgte ihm. Ihre weißen Leiber, die stattlichen Hälse kamen ihm aus dem Gesicht, und er ging auf das Haus zu.

Annette war im Wohnzimmer, zu Tisch angekleidet, und er dachte, als er hinaufging: »Hübsch unter allen Umständen.« Hübsch! Außer Bemerkungen über die Vorhänge im Wohnzimmer und den Sturm wurde kaum ein Wort gewechselt bei der Mahlzeit, die sich durch bestimmte Quantität und vollkommene Qualität auszeichnete. Soames trank nichts. Nachher folgte er ihr ins Wohnzimmer und fand sie auf dem Sofa zwischen den Fenstern, wo sie eine Zigarette rauchte. Sie saß zurückgelehnt, beinah aufrecht, in einem niedlichen schwarzen Kleide da, die Knie übereinandergeschlagen und die Augen halb geschlossen; graublauer Rauch quoll zwischen ihren roten, ziemlich vollen Lippen hervor, ein Stirnband hielt ihr kastanienbraunes Haar zusammen, sie trug die dünnsten Seidenstrümpfe, und Schuhe mit sehr hohen Hacken ließen ihren Spann sehen. Ein hübscher Gegenstand für jedes Zimmer! Soames, der den zerrissenen Brief tief in der Seitentasche seines Smokings in der Hand hielt, sagte:

»Ich werde das Fenster schließen, die Feuchtigkeit dringt herein.«

Er tat es und blieb vor einem David Cox an der cremefarben getäfelten Wand dicht daneben stehen.

Woran dachte er? Er hatte – außer Fleur – nie im Leben eine Frau verstanden – und auch Fleur nicht immer! Sein Herz klopfte stark. Doch wenn er es tun wollte, war jetzt der Augenblick. Er wandte sich von dem David Cox ab und nahm den Brief heraus.

»Ich erhielt dies!«

Ihre Augen weiteten sich, starrten ihn an und wurden hart.

Soames reichte ihr den Brief.

»Er ist zerrissen, aber du kannst ihn lesen.« Und er wandte sich wieder dem David Cox zu – einem Seestück von gutem Ton, aber ohne jede Bewegung. »Möchte wissen, was der Bursche in diesem Augenblick tut?« dachte er. »Er wird sich noch wundern.« Aus einem Augenwinkel sah er Annette starr den Brief halten; ihre Augen bewegten sich unter den gefärbten Wimpern hin und her, und die gefärbten Brauen waren emporgezogen. Sie ließ den Brief fallen, schüttelte sich ein wenig, lächelte und sagte:

»Schmutzig!«

»Ich stimme vollkommen mit dir überein«, sagte Soames; »erniedrigend. Ist es wahr?«

Ein Zahn drückte sich in ihre Unterlippe. »Und wenn es so wäre?«

Sie war schamlos.

»Ist das alles, was du zu sagen hast?«

»Nein.«

»Nun, so sprich.«

»Was hat Sprechen für einen Zweck?«

Soames sagte eisig: »Also du gibst es zu?«

»Ich gebe nichts zu. Du bist ein Narr, zu fragen. Ein Mann wie du dürfte nicht fragen. Es ist gefährlich.«

Soames machte einen Gang durchs Zimmer, um seinen erwachenden Zorn zu unterdrücken.

»Erinnerst du dich«, sagte er und blieb vor ihr stehen, »was du warst, als ich dich heiratete? Kassierin in einem Restaurant.«

»Erinnerst du dich, daß ich nicht halb so alt war wie du?«

Soames wich dem harten Blick ihrer Augen aus und ging zu dem David Cox zurück.

»Ich habe nicht die Absicht zu streiten. Ich ersuche dich nur, diese – Freundschaft aufzugeben. Die Sache ist nur von Belang, soweit sie Fleur betrifft.«

»Ah! – Fleur!«

»Ja, Fleur«, sagte Soames hart. »Sie ist dein Kind so gut wie meins.«

»Es ist sehr gütig, das zuzugeben.«

»Willst du tun, was ich sage?«

»Ich weigere mich, es dir zu sagen.«

»Dann muß ich dich dazu zwingen.«

Annette lächelte.

»Nein, Soames«, sagte sie. »Du bist hilflos. Sage nicht Dinge, die du bereuen wirst.«

Die Adern auf seiner Stirn schwollen vor Zorn. Er öffnete den Mund, um seiner Erregung Luft zu machen, vermochte es aber nicht. Annette fuhr fort:

»Es werden keine solchen Briefe mehr kommen, das verspreche ich dir. Das genügt doch.«

Soames zuckte zusammen. Er hatte das Gefühl, wie ein Kind behandelt zu werden von dieser Frau, die wer weiß was verdiente.

»Wenn zwei Menschen geheiratet und gelebt haben wie wir, Soames, sollten sie lieber über einander schweigen. Es gibt Dinge, die man besser nicht ans Licht zieht, damit die Leute darüber lachen. Du wirst also schweigen; nicht um meinet-, sondern um deinetwillen. Du wirst alt; ich bin es noch nicht. Du hast mich sehrr prraktisch gemacht.«

Soames, der nahe am Ersticken war, wiederholte dumpf:

»Ich ersuche dich, diese Freundschaft aufzugeben.«

»Und wenn ich es nicht tue?«

»Dann – dann übergehe ich dich in meinem Testament.«

Es schien keinen Eindruck zu machen. Annette lachte.

»Du wirst noch lange leben, Soames.«

»Du – du bist eine schlechte Frau«, sagte er plötzlich.

Annette zuckte die Achseln.

»Das finde ich nicht. Das Zusammenleben mit dir hat vieles in mir getötet, es ist wahr; aber ich bin keine schlechte Frau. Ich bin vernünftig, das ist alles. Und das wirst du auch sein, wenn du es dir überlegst.«

»Ich werde mit dem Manne reden«, sagte Soames finster, »und ihn warnen.«

» Mon cher, du bist komisch. Du machst dir nichts aus mir, und was von mir übrig ist, möchtest du tot sehen. Ich gebe nichts zu, aber ich will noch nicht tot sein in meinem Alter, Soames; du solltest lieber still sein, wie ich es dir sagte. Ich selbst werde keinen Skandal machen; nie. Weiter sage ich nichts, was du auch tun magst.«

Sie streckte die Hand aus, nahm einen französischen Roman von einem Tischchen und öffnete ihn. Soames beobachtete sie schweigend, von innerer Erregung übermannt. Der Gedanke an jenen Mann erweckte in ihm beinah ein Verlangen nach ihr, und das war eine sehr beunruhigende Enthüllung ihrer Beziehungen zueinander für jemand, der so gar nicht zu philosophischer Selbstbetrachtung neigte wie er. Ohne ein Wort weiter zu sagen, ging er hinaus und in die Bildergalerie hinauf. Das kam von einer Heirat mit einer Französin! Und doch, ohne sie gäbe es keine Fleur! Sie hatte ihren Zweck erfüllt.

»Sie hat recht«, dachte er. »Ich kann nichts machen. Ich weiß nicht einmal, ob irgend etwas daran ist.« Der Selbsterhaltungstrieb verbot ihm, sich jeden Ausweg zu versperren, das Feuer durch Mangel an Luft zu ersticken. Glaubte man nicht, daß etwas an einer Sache war, so war nichts daran.

In dieser Nacht ging er in ihr Zimmer. Sie empfing ihn in der sachlichsten Weise, als wäre keine Szene zwischen ihnen gewesen. Und er kehrte mit einem sonderbaren Gefühl von Frieden in sein Zimmer zurück. Wollte man nichts sehen, so brauchte man es nicht. Und in Zukunft wollte er es nicht – wollte nichts sehen. Es war nichts dabei zu gewinnen – gar nichts! Er öffnete das Schubfach und nahm aus dem Behälter ein Taschentuch und die eingerahmte Photographie von Fleur. Als er sie eine Weile betrachtet hatte, rückte er sie herunter, und da war die andere – jene alte von Irene. Eine Eule krächzte, während er am Fenster stand und darauf starrte. Die Eule krächzte, die roten Kletterrosen schienen tiefer in der Farbe zu werden, es kam ein Duft von Lindenblüten herein. Gott! Das war etwas anderes gewesen! Leidenschaft – Erinnerung! Staub!


 << zurück weiter >>