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Achtes Kapitel

Die wehmütige Melodie

Als Soames das Haus in Robin Hill verließ, brach die Sonne in nebliger Helligkeit durch das Grau dieses frostigen Nachmittags. Völlig absorbiert von der Landschaftsmalerei, hatte er selten ernstlich die Wirkungen der Natur draußen beachtet, war aber jetzt betroffen von dem schwermütigen Glanz – es war eine sieghafte Trauer, die zu seinem eigenen Gefühl paßte. Sieg in der Niederlage! Seine Sendung war umsonst gewesen! Aber er war diese Leute los, hatte seine Tochter wiedergewonnen, wenn auch auf Kosten – ihres Glückes. Was würde Fleur dazu sagen? Würde sie glauben, daß er getan, was er konnte? Und in dem Sonnenlicht, das auf den Ulmen, den Haselnußsträuchern, dem Holunder der Hecken und den unbebauten Feldern flimmerte, dachte Soames voll Besorgnis an Fleur. Es würde sie schrecklich aufregen! Er mußte an ihren Stolz appellieren. Der junge Mann hatte sie aufgegeben, sich zu der Partei der Frau erklärt, die vor langer Zeit ihren Vater aufgegeben hatte! Soames ballte die Hände. Ihn aufgegeben, und warum? Was hatte sie an ihm auszusetzen gehabt? Und wieder empfand er das Unbehagen eines Menschen, der sich wie mit den Augen eines andern betrachtet – wie ein Hund, der zufällig im Spiegel sein Bild erblickt und verwirrt und geängstigt ist durch dessen Ungreifbarkeit.

Da er keine Eile hatte, nach Haus zu kommen, speiste er im Klub in der Stadt. Während er eine Birne aß, kam ihm plötzlich der Gedanke, daß der junge Mann sich vielleicht nicht so entschieden hätte, wenn er nicht nach Robin Hill gekommen wäre. Er erinnerte sich des Ausdrucks in seinem Gesicht, als seine Mutter seine Hand zurückwies, die er ihr entgegengestreckt. Ein törichter Gedanke! Hatte Fleur ihrer Sache genützt, als sie versuchte, sich Gewißheit zu verschaffen?

Um halb neun langte er zu Haus an. Während sein Auto durch einen Torweg hineinfuhr, hörte er das knirschende Geräusch eines Motorrades, das durch das andere Tor hinausfuhr. Der junge Mont wahrscheinlich, also war Fleur nicht allein gewesen. Aber er ging mit schwerem Herzen hinein. Sie saß in dem cremefarben getäfelten Wohnzimmer, mit dem Ellbogen auf den Knien, das Kinn in die gefalteten Hände gestützt, vor einem weißen Kamelienstock, der den Kamin füllte. Der Blick auf sie, bevor sie ihn sah, erneute seine Besorgnis. Was sah sie zwischen den weißen Kamelien?

»Nun, Vater?«

Soames schüttelte den Kopf. Ihm versagten die Worte. Es war eine mörderische Aufgabe! Er sah ihre Augen sich weiten, ihre Lippen beben.

»Was? Was? Schnell, Vater!«

»Meine Liebe«, sagte Soames. »Ich – ich tat mein möglichstes, aber – « Und wieder schüttelte er den Kopf.

Fleur lief zu ihm hin und legte eine Hand auf jede seiner Schultern.

»Sie?«

»Nein«, murmelte Soames, »er. Ich sollte dir sagen, daß es keinen Zweck habe; er müsse handeln, wie sein Vater es wünschte, bevor er starb.« Er umfing sie. »Komm, Kind, kränke dich nicht ihretwegen. Sie sind deinen kleinen Finger nicht wert.«

Fleur riß sich von ihm los.

»Du hast nicht – du kannst es nicht versucht haben! Du – du betrügst mich, Vater!«

Bitter verletzt starrte Soames auf ihr leidenschaftlich verzerrtes Gesicht.

»Du hast es nicht versucht – hast es nicht getan – ich war eine Törin – ich glaube nicht, daß er das konnte – daß er das jemals könnte! Erst gestern hat er – –! Ach! Warum habe ich dich darum gebeten?«

»Ja«, sagte Soames ruhig, »warum tatest du das? Ich verbarg meine Gefühle, ich tat für dich, was ich vermochte, gegen meine Überzeugung – und dies ist mein Lohn. Gute Nacht!«

Jeder Nerv in ihm zuckte, und er ging auf die Tür zu.

Fleur stürzte ihm nach.

»Er gibt mich auf? Meinst du das? Vater!«

Soames wandte sich um und zwang sich zu sagen: »Ja.«

»Oh!« rief Fleur. »Was hast du denn getan – was kannst du in den alten Tagen denn getan haben?«

Das atemraubende Gefühl dieser ungeheuerlichen Ungerechtigkeit durchschnitt die Kraft, zu sprechen, in Soames' Hals. Was er getan hatte! Was hatten sie ihm getan! Und mit völlig unbewußter Würde legte er die Hand auf die Brust und schaute sie an.

»Es ist eine Schande!« rief Fleur leidenschaftlich.

Soames ging hinaus. Langsam und eisig stieg er zu seiner Bildergalerie hinauf und wandelte unter seinen Schätzen umher. Es war schmählich! Oh! schmählich! Sie war verwöhnt! Ach, und wer hatte sie verwöhnt? Er blieb vor der Goyakopie stehen. In allem gewohnt, ihren eigenen Willen zu haben! Blume seines Lebens! Und nun, da sie ihn nicht haben konnte! Er ging ans Fenster, um Luft zu schöpfen. Das Tageslicht war im Erlöschen, der Mond ging auf, golden hinter den Pappeln! Was für ein Ton war das? War es möglich? Der Klavierkasten! Eine schwermütige Melodie, mit Lärm und Spektakel! Sie hatte es aufgezogen – was für ein Trost konnte ihr das sein? Seine Augen sahen eine Bewegung drüben auf dem Rasenplatz unter dem Gitter mit Kletterrosen und den jungen Akazienbäumen, auf die das Mondlicht fiel. Das war sie, auf und nieder wandelnd. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Was würde sie tun unter diesem Schlag? Wie konnte er es sagen? Was wußte er denn von ihr – er hatte sie nur geliebt sein Leben lang – hatte sie als seinen Augapfel betrachtet! Er wußte nichts – hatte keine Ahnung. Da war sie – und die schwermütige Melodie – und der schimmernde Fluß im Mondschein!

»Ich muß hinuntergehen«, dachte er.

Er eilte ins Wohnzimmer hinunter, das noch erleuchtet war, wie er es verlassen hatte – das Klavier trommelte den Walzer oder Foxtrott, oder wie sie es sonst nennen mochten –, und ging auf die Veranda hinaus.

Wo konnte er sie beobachten, ohne daß sie ihn sah? Er stahl sich durch den Obstgarten zum Bootshaus hinunter. Jetzt war er zwischen ihr und dem Fluß, und ihm ward leichter ums Herz. Sie war seine Tochter und Annettens – sie würde nichts Törichtes tun; doch – man konnte nicht wissen! Von dem Bootshausfenster aus konnte er die letzte Akazie sehen und den Schwung ihres Kleides, wenn sie sich auf ihrem ruhelosen Gang umwandte. Die Melodie war endlich abgespielt – dem Himmel sei Dank! Er ging durch das Zimmer und sah vom andern Fenster auf das Wasser, das langsam an den Lilien vorbeifloß. Es bildete dort kleine Blasen, ganz helle, wo ein Mondstrahl darauf fiel. Er dachte plötzlich an den frühen Morgen, wo er im Bootshaus geschlafen hatte, nachdem sein Vater gestorben und sie eben geboren war – vor beinah neunzehn Jahren! Selbst jetzt erinnerte er sich der ungewohnten Welt beim Erwachen, des sonderbaren Gefühls, das er dabei gehabt. An dem Tage hatte die zweite Leidenschaft seines Lebens begonnen – für sein Mädel dort, das unter den Akazien wandelte. Welch ein Trost sie ihm gewesen war! Und alles Weh, das die Kränkung ihm verursacht, war vergessen. Wenn er sie nur wieder glücklich sehen könnte, machte er sich nichts daraus! Eine Eule flog krächzend vorüber; eine Fledermaus huschte vorbei; das Mondlicht erhellte das Wasser und breitete sich darauf aus. Wie lange hatte sie die Absicht, so umherzuwandern? Er ging zum Fenster zurück, und plötzlich sah er sie zum Ufer herunterkommen. Sie stand ganz nahe, auf dem Landungssteg. Und Soames beobachtete sie mit geballten Händen. Sollte er sie ansprechen? Seine Erregung war ungeheuer. Die Ruhe ihrer Gestalt, ihre Jugend, ihr Aufgehen in der Verzweiflung, der Sehnsucht, diese Versunkenheit. Er würde nie vergessen, wie sie vom Mond beschienen dort stand; und auch den leisen süßen Dunst vom Flusse und das Beben der Weidenblätter nicht. Sie besaß alles in der Welt, was er ihr geben konnte, außer dem einen, das sie seinetwegen nicht haben konnte. Das Widersinnige darin tat ihm weh in diesem Moment, wie eine Fischgräte im Halse es getan hätte.

Dann sah er sie mit unendlicher Erleichterung umkehren und auf das Haus zugehen. Was konnte er ihr geben, um sie zu entschädigen? Perlen, Reisen, Pferde oder andere junge Männer – was sie wünschte –, damit er die junge einsame Gestalt am Wasser vergessen könnte! Da! Sie hatte wieder diese Melodie aufgezogen! Das war ja eine Manie! Schwermütig, trommelnd, leise kam es aus dem Haus. Es war, als hätte sie gesagt: »Wenn ich nicht etwas habe, mich aufrecht zu halten, sterbe ich daran.« Soames hatte ein dunkles Verständnis dafür. Nun, wenn es ihr half, mochte es die ganze Nacht weitertrommeln. Er stahl sich durch den Obstgarten zurück und erreichte die Veranda. Obgleich er vorhatte, hineinzugehen und mit ihr zu sprechen, zögerte er doch, da er nicht wußte, was er sagen solle, und eifrig versuchte er sich, zurückzurufen, wie es tut, in der Liebe getäuscht zu werden. Er hätte es wissen müssen, hätte sich erinnern müssen – und er konnte es nicht! Vorbei – alle wirkliche Erinnerung, außer, daß es ihn furchtbar geschmerzt hatte. In diesem Gefühl der Leere wischte er mit seinem Taschentuch über Hände und Lippen, die sehr trocken waren. Wenn er den Kopf vorstreckte, konnte er Fleur gerade sehen, die mit dem Rücken an dem Klavier stand, das immer noch seine Melodie mahlte, die Arme eng über der Brust gekreuzt, eine angezündete Zigarette zwischen den Lippen, deren Rauch ihr Gesicht halb verhüllte. Der Ausdruck darin war Soames fremd, die Augen leuchteten und starrten, und jeder Zug darin voll tiefer Verachtung und Zorn. Ein- oder zweimal hatte er Annette so gesehen – das Gesicht war zu lebhaft, zu nackt, nicht das seiner Tochter in diesem Moment. Und er wagte nicht, hineinzugehen, denn er erkannte die Nutzlosigkeit jedes Versuchs, zu trösten. Er setzte sich in den Schatten der Kaminecke.

Das Schicksal hatte ihm einen ungeheuerlichen Streich gespielt! Nemesis! Die alte unglückliche Ehe! Und warum – um Himmels willen? Wie hatte er wissen können, als er Irene so leidenschaftlich begehrte und sie einwilligte, die Seine zu werden, daß sie ihn nie lieben würde? Die Melodie verhallte, begann aufs neue und verhallte abermals, und immer noch saß Soames im Schatten und wartete, er wußte nicht worauf. Der Rest von Fleurs Zigarette, zum Fenster hinausgeworfen, fiel auf den Rasen; er beobachtete das Glimmen und Verglühen. Der Mond stand jetzt frei über den Pappeln und goß sein wesenloses Licht über den Garten aus. Trostloses Licht, geheimnisvoll, unnahbar, wie die Schönheit jener Frau, die ihn nie geliebt – es hüllte die Blüten in ein unirdisches Gewand. Blumen! Und seine Blume so unglücklich! Ach! Warum konnte man Glück nicht in Aktien anlegen, sie sorgsam aufbewahren und gegen das Fallen versichern?

Es flutete kein Licht mehr durch das Wohnzimmerfenster. Alles war still und dunkel drinnen. War sie nach oben gegangen? Er erhob sich, und auf den Zehenspitzen lugte er hinein. Es schien so! Er trat ein. Die Veranda verdeckte den Mondschein, und anfangs vermochte er nichts zu sehen als die Umrisse der Möbel, die schwärzer waren als die Finsternis. Er tastete sich zu dem entlegeneren Fenster, um es zu schließen. Sein Fuß stieß an einen Stuhl, und er vernahm ein Stöhnen. Da war sie, zusammengekauert in eine Ecke des Sofas gedrückt! Seine Hand zögerte. Brauchte sie seinen Trost? Er stand da und starrte auf den Knäuel zerdrückter Volants, Haar und anmutiger Jugend, die den Versuch machte, sich einen Weg aus dem Kummer heraus zu graben. Wie konnte er sie hier so lassen? Schließlich berührte er ihr Haar und sagte:

»Komm, Liebling, es ist bester, zu Bett zu gehen. Ich werde dich irgendwie dafür entschädigen.« Wie töricht! Aber was hätte er sagen können?


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