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Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Mutter und Sohn

Zu sagen, daß Jon Forsyte seine Mutter ungern nach Spanien begleitete, wäre kaum zutreffend. Er ging mit, wie ein gutartiger Hund mit seiner Herrin spazieren geht und dabei einen kostbaren Hammelknochen auf dem Rasen zurückläßt. Ging mit und schaute zurück danach. Forsytes, die ihrer Hammelknochen beraubt werden, kommen in üble Laune. Jon aber neigte nicht dazu. Er betete seine Mutter an, und es war seine erste Reise. Durch die einfachen Worte: »Ich ginge lieber nach Spanien, Mutter, du bist so oft in Italien gewesen, ich hätte lieber etwas Neues für uns beide«, war Italien zu Spanien geworden.

Der Junge war berechnend trotz seiner Naivität. Er vergaß nie, daß er die vorgeschlagenen zwei Monate in sechs Wochen verkürzen wollte und daher niemals verraten durfte, daß er diesen Wunsch hegte. Für jemand, der einen so verführerischen Hammelknochen zurückließ und so fest an seinem Vorhaben hielt, gab er einen ganz guten Reisegefährten ab, den es gleichgültig ließ, wo und wann er irgendwo eintraf, der erhaben über das Essen war und ein Land zu schätzen wußte, das den meisten reisenden Engländern fremd ist. Fleurs kluge Weigerung, an ihn zu schreiben, war sehr richtig, denn er kam völlig ohne Hoffnung und Fieber an jeden neuen Ort und konnte seine Aufmerksamkeit sogleich auf die Esel, auf die Kirchenglocken, auf die Priester, die Patios, die Bettler, Kinder, krähenden Hähne, Sombreros, Kaktushecken, die alten hochgelegenen Dörfer, Ziegen, Olivenbäume, grünenden Ebenen, Singvögel in winzigen Käfigen, Wasserverkäufer, Sonnenuntergänge, Melonen, Maultiere, große Kirchenbilder und die schimmernden graubraunen Berge eines faszinierenden Landes konzentrieren.

Es war schon heiß, und sie genossen die Abwesenheit ihrer Landsleute. Jon, der, soviel er wußte, keinen Tropfen Blut in sich hatte, der nicht englisch war, fühlte sich oft sonderbar unglücklich in ihrer Gegenwart. Dabei fand er, daß sie sehr vernünftig waren und die Dinge viel praktischer anschauten als er selbst. Er sagte seiner Mutter, daß er wohl ein ungeselliger Patron sein müsse – er fände es so wunderbar, von allen fort zu sein, die über Dinge redeten, von denen die Leute zu reden pflegten. Worauf Irene einfach erwidert hatte:

»Ja, Jon, ich weiß.«

In dieser Einsamkeit hatte er die unvergleichliche Gelegenheit, würdigen zu lernen, was wenige Söhne verstehen: die hingebende Liebe einer Mutter. Das Bewußtsein, ihr etwas zu verschweigen, machte ihn allerdings übermäßig feinfühlig; und ein südliches Volk erhöhte seine Bewunderung für den Typ ihrer Schönheit, den er gewohnt war, spanisch nennen zu hören. Hier aber kam er zu der Überzeugung, daß ihre Schönheit weder eine englische, französische, spanische noch italienische war, sie war ganz eigen! Er schätzte auch, wie nie zuvor, das Zartgefühl seiner Mutter. Er war zum Beispiel nicht sicher, ob sie seine Versunkenheit vor dem Bilde Goyas »La Vendimia« bemerkt hatte, oder ob sie wußte, daß er nach dem Essen und am nächsten Morgen heimlich wieder hingegangen war und ein zweites und drittes Mal eine halbe Stunde davorgestanden hatte. Es war natürlich nicht Fleur, aber ihr ähnlich genug, um eine schmerzliche Sehnsucht nach ihr zu erwecken – die Liebenden so teuer ist –, er sah sie vor sich, wie sie, die Hand über den Kopf erhoben, am Fußende seines Bettes gestanden hatte. Eine Postkartenwiedergabe dieses Bildes in der Tasche zu tragen und sie vorzunehmen und anzuschauen, wurde eine jener bösen Gewohnheiten für Jon, die sich früher oder später Blicken verraten, denen Liebe, Furcht und Eifersucht eine besondere Schärfe geben. Und die seiner Mutter waren durch alle drei geschärft. In Granada, wo er auf einer sonnendurchwärmten Steinbank in einem kleinen ummauerten Garten auf dem Alhambrahügel saß, anstatt die Aussicht zu betrachten, wäre sie beinahe dahintergekommen. Er hatte gedacht, daß seine Mutter die Levkojentöpfe zwischen den beschnittenen Akazien untersuchte, als sie plötzlich sagte:

»Ist das dein Lieblings-Goya, Jon?«

Er unterdrückte, zu spät, eine Bewegung, wie er sie in der Schule gemacht hätte, um irgendein geheimes Dokument zu verbergen, und erwiderte: »Ja.«

»Es ist freilich ganz reizend, aber ich glaube, ich ziehe ›Quitasol‹ vor. Dein Vater würde vor Begeisterung über Goya außer sich geraten; ich glaube nicht, daß er die Bilder sah, als er im Jahre 1892 in Spanien war.«

Im Jahre 1892 – neun Jahre, bevor er geboren war! Wie war das frühere Leben seines Vaters und seiner Mutter gewesen? Wenn sie ein Recht hatten, an seiner Zukunft teilzunehmen, hatte er sicher auch das Recht, ihre Vergangenheit zu kennen. Er blickte zu ihr auf. Allein etwas in ihrem Gesicht – ein Ausdruck, als habe sie schwer am Leben zu tragen gehabt, geheime Spuren von Empfindungen, Erfahrungen und Leiden schienen in ihrer unberechenbaren Tiefe, ihrer schwer erkauften Heiligkeit jede Neugier aufdringlich zu machen. Seine Mutter mußte ein wunderbar interessantes Leben geführt haben, sie war so schön und so – so –, aber er vermochte nicht auszudrücken, was er von ihr dachte. Er stand auf und starrte auf die Stadt hinunter, auf die grüne Ebene und den Kreis von Bergen im Glanz der sinkenden Sonne. Ihr Leben war wie die Vergangenheit dieser alten Maurenstadt, reich, tief und fern – sein eigenes noch so kindlich, so hoffnungslos unwissend und unschuldig! In den Bergen dort im Westen, die aus der blaugrünen Ebene emporstiegen wie aus einem Meer, sollen Phönizier gewohnt haben, eine dunkle, seltsame, geheimnisvolle Rasse! Das Leben seiner Mutter war ihm so unbekannt, so geheimnisvoll wie diese phönizische Vergangenheit für die Stadt dort unten, wo die Hähne krähten und die Kinder tagein, tagaus so fröhlich spielten und lärmten.

Es verdroß ihn, daß sie alles von ihm wußte und er nichts von ihr, außer, daß sie ihn liebte und seinen Vater, und daß sie schön war. Seine völlige Unerfahrenheit – er hatte nicht einmal den Vorzug, im Krieg gewesen zu sein, wie beinah jedermann sonst! – machte ihn klein in seinen eigenen Augen.

In dieser Nacht schaute er vom Balkon seines Zimmers auf die Dächer der Stadt hinunter; sie sahen aus wie eine Honigwabe in Jet, Gold und Elfenbein; und noch lange nachher lag er wach, hörte auf die Rufe des Wächters, wenn die Stunden schlugen, und formte im Kopfe diese Zeilen:

Ruf in der Nacht! Tief unten im Dunkel der alten
schlafenden spanischen Stadt, unter den weißen Sternen!
Was will der Ruf? – Sein angstvoll dauernd Klagen?
Ist's der des Wächters, der sein zeitlos Lied der Ruhe singt?
Ist's nur ein Wandersmann, der Lieder singt dem Mond?
Nein! Ein Beraubter ist's, des liebend Herz der Klage voll,
Es ist sein Schrei: Wie lang' noch?

Es war fast zwei Uhr, als er damit fertig war, und über drei, ehe er einschlief, da er es sich mindestens vierundzwanzigmal aufgesagt hatte. Am nächsten Tage schrieb er es ab und fügte es einem der Briefe an Fleur bei, die er immer schrieb, bevor er hinunterging, um sich frei und umgänglich zu fühlen.

Gegen Mittag desselben Tages fühlte er auf der mit Fliesen belegten Terrasse ihres Hotels plötzlich einen dumpfen Schmerz im Hinterkopf, eine sonderbare Empfindung in den Augen und Übelkeit. Die Sonne hatte ihn zu liebevoll berührt. Die nächsten Tage verbrachte er im Halbdunkel und in einer dumpfen, quälenden Gleichgültigkeit für alles außer dem Gefühl von Eis auf der Stirn und dem Lächeln seiner Mutter. Sie verließ nie sein Zimmer, ließ niemals nach in ihrer geräuschlosen Sorgfalt, die Jon engelhaft fand. Doch es kamen Augenblicke, wo er das größte Mitleid mit sich selber hatte und sehnlichst wünschte, daß Fleur ihn sehen könnte. Mehrmals nahm er im Geiste traurigen Abschied von ihr und der Erde, wobei ihm die Tränen aus den Augen strömten. Er bereitete sogar die Botschaft vor, die er ihr durch seine Mutter senden wollte – sie würde wohl bis an ihren Tod bereuen, daß sie je versucht, sie zu trennen – seine arme Mutter! Jedoch übersah er keineswegs, daß er jetzt eine Entschuldigung hatte, nach Haus zu reisen.

Jeden Abend gegen sechseinhalb Uhr kam eine »Gasgacha« von Glocken – eine Kaskade sich überstürzender Glockentöne, die von der Stadt unten heraufstiegen und Ton um Ton wieder zurückfielen. Nachdem er am vierten Tage darauf gelauscht hatte, sagte er plötzlich:

»Ich wäre gern wieder zurück in England, Mutter, die Sonne ist zu heiß.«

»Gut, mein Liebling. Sobald du wieder reisen kannst.« Und sogleich fühlte er sich besser und – verächtlicher.

Sie waren fünf Wochen fort gewesen, als sie die Heimreise antraten. Jons Kopf hatte seine vorherige Klarheit wiedergewonnen, aber er mußte einen Hut tragen, den seine Mutter mit vielen Schichten grüner und orangefarbener Seide abgefüttert hatte, und er ging mit Vorliebe noch im Schatten. Als der lange Schweigekampf zwischen ihnen seinem Ende nahte, war er immer begieriger, zu wissen, ob sie seinen Eifer, zu dem zurückzukehren, von dem sie ihn getrennt hatte, bemerkte. Da sie durch die spanische Vorsehung gezwungen waren, sich zwischen ihren Zügen einen Tag in Madrid aufzuhalten, war es nur natürlich, noch einmal in den Prado zu gehen. Jon blieb diesmal nur wie zufällig vor seinem Goyamädchen stehen. Jetzt, wo er zu ihm zurückkehrte, konnte er sich's leisten, weniger gründlich zu sein. Nun war es seine Mutter, die vor dem Bilde stehenblieb und sagte:

»Das Gesicht und die Gestalt des Mädchens sind wundervoll.«

Jon hörte sie beunruhigt an. Hatte sie verstanden? Wieder mußte er sich sagen, daß er sich, was Selbstbeherrschung und Zartgefühl anbetraf, mit ihr nicht messen konnte. Sie wußte auf feinfühlige Weise, deren Geheimnis er nicht kannte, den Puls seiner Gedanken zu fühlen; sie wußte instinktiv, was er hoffte, wünschte und fürchtete. Er fühlte sich unbehaglich und schuldig, da er, anders als die meisten Knaben, ein Gewissen hatte. Er hätte gewünscht, daß sie ihm gegenüber frank und frei gewesen wäre, er hoffte beinah auf einen offenen Kampf. Allein es kam keiner, und gleichmütig und schweigsam reisten sie gen Norden. So lernte er zum erstenmal, wieviel besser als Männer Frauen sich auf das Warten verstehen. In Paris hatten sie abermals einen Tag Aufenthalt. Jon war ärgerlich, daß gewisser Schneiderangelegenheiten wegen zwei daraus wurden; als ob seine Mutter, die in allem schön war, noch Kleider gebraucht hätte! Der glücklichste Moment seiner Reise war, als er den Folkestonedampfer vor sich sah.

Als sie Arm in Arm an dem Geländer des Bollwerks standen, sagte sie:

»Ich fürchte, es hat dir nicht sonderlich gefallen, Jon. Aber du bist sehr lieb zu mir gewesen.«

Jon drückte ihren Arm.

»O doch, es hat mir riesig gut gefallen – abgesehen von dem mit meinem Kopf zuletzt.«

Und jetzt, wo das Ende da war, glaubte er es wirklich und sah förmlich einen Glanz über den vergangenen Wochen – empfand ein schmerzliches Vergnügen, wie er es in jenen Zeilen über die weinende Stimme in der Nacht darzustellen versucht hatte; ein Gefühl, wie er es als kleiner Junge gehabt, wo er so brennend gern Chopin spielen hörte und doch am liebsten dabei geweint hätte. Und er begriff nicht, weshalb er nicht ganz einfach sagen konnte, wie sie zu ihm:

»Du warst sehr lieb zu mir.« Merkwürdig – nie konnte man nett und natürlich sein! Dafür sagte er: »Ich glaube, wir werden seekrank werden!«

Sie waren es und langten niedergedrückt in London an, da sie sechs Wochen und zwei Tage fort gewesen waren, ohne die geringste Anspielung auf das eine gemacht zu haben, das kaum jemals aufgehört hatte, sie innerlich zu beschäftigen.


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