Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Der Zaum zwischen den Zähnen

Das Bewußtsein, im Gegensatz zu allen andern zu handeln, verleiht manchen Naturen ein Gefühl moralischer Befreiung. Fleur empfand keine Reue, als sie Junes Haus verließ. Sie hatte das verdammende Urteil in den blauen Augen ihrer kleinen Verwandten gelesen und freute sich, sie hinters Licht geführt zu haben, denn sie verachtete diese ältliche Idealistin, weil sie nicht gemerkt, was sie im Sinne hatte.

Ein Ende machen, fürwahr! Sie wollte ihnen allen bald zeigen, daß sie eben erst begann. Und sie lächelte für sich oben auf dem Omnibus, der sie nach Mayfair zurückbrachte. Aber das Lächeln erstarb, wurde zurückgedrängt durch Anwandlungen von banger Ahnung und Furcht. Würde sie imstande sein, Jon zu überzeugen? Sie hatte den Zaum zwischen die Zähne genommen, aber würde sie ihn dazu bewegen, es ebenfalls zu tun? Sie kannte die Wahrheit und die sichere Gefahr des Aufschubs – er wußte nichts; darin lag der ganze Unterschied.

»Wenn ich es ihm sagte«, dachte sie, »wäre das eigentlich nicht sicherer?« Dieser abscheuliche Zufall hatte kein Recht, ihre Liebe zu zerstören, das mußte er einsehen! Sie konnten es nicht zulassen! Die Menschen fanden sich schließlich mit einer vollendeten Tatsache immer ab! Von dieser Philosophie, die für ihr Alter tief genug war, wandte sie sich einer andern, weniger philosophischen Betrachtung zu. Wenn sie Jon zu einer raschen und heimlichen Heirat überredete und er später dahinterkam, daß sie die Wahrheit gewußt. Was dann? Jon haßte Ausflüchte. Wäre es nicht doch besser, es ihm zu sagen? Aber die Erinnerung an das Gesicht seiner Mutter hielt sie davon zurück. Fleur fürchtete sich. Seine Mutter hatte Macht über ihn, mehr vielleicht, als sie selbst. Wer konnte wissen? Es war eine zu große Gefahr. Tief versunken in diese instinktiven Überlegungen, war sie über die Green Street hinweg bis zum Hotel Ritz gefahren. Sie stieg dort aus und ging auf der Seite des Greenparks zurück. Der Sturm hatte jeden Baum gewaschen, sie tropften alle noch. Schwere Tropfen fielen auf ihr duftiges Kleid, und um sie zu vermeiden, ging sie hinüber unter die Fenster des Iseeum-Klubs. Als sie zufällig aufblickte, sah sie Monsieur Profond mit einem großen starken Mann am Bogenfenster. Beim Einbiegen in die Green Street hörte sie ihren Namen rufen und sah »diesen Schleicher« herankommen. Er nahm den Hut ab – einen niedrigen glänzenden Filzhut, wie sie ihn ganz besonders verabscheute.

»Gut'n Abend, Miß Forsyte. Kann ich Ihnen nicht mit etwas dienen?«

»Ja, auf die andere Seite hinübergehen.«

»Ei was! Weshalb mögen Sie mich nicht?«

»Mag ich Sie nicht?«

»Es sieht so aus.«

»Nun, weil ich in Ihrer Gegenwart das Gefühl habe, daß das Leben nicht wert ist, gelebt zu werden.«

Monsieur Profond lächelte.

»Hören Sie, Miß Forsyte, grämen Sie sich nicht. Es wird alles gut. Nichts ist von Bestand.«

»Doch«, rief Fleur, »wenigstens bei mir – namentlich Neigungen und Abneigungen.«

»Das machen mich ein wenig unglücklich.«

»Ich dachte, daß nichts Sie jemals glücklich oder unglücklich machen könnte.«

»Ich ärgern nicht gern andere Leute. Ich gehen auf meine Jacht.«

Fleur blickte ihn verdutzt an.

»Wohin?«

»Eine kleine Reise in die Südsee oder irgendwohin«, sagte Monsieur Profond.

Fleur empfand Erleichterung und hatte dabei doch das Gefühl, verhöhnt zu werden. Er wollte deutlich zu verstehen geben, daß er mit ihrer Mutter brach. Wie durfte er wagen, etwas zu besitzen, mit dem er brechen konnte, und wie durfte er wagen, damit zu brechen?

»Gute Nacht, Miß Forsyte! Empfehlen Sie mich Mrs. Dartie. Ich bin wirklich nicht so schlimm. Gute Nacht!« Fleur ließ ihn mit dem Hut in der Hand stehen. Verstohlen schaute sie sich um und sah ihn – tadellos und schwerfällig – wieder in seinen Klub zurückgehen.

»Er kann nicht einmal mit Überzeugung lieben«, dachte sie. »Was wird Mutter anfangen?«

Ihre Träume in dieser Nacht waren endlos und unruhig; sie stand matt und unausgeruht auf und ging gleich an das Studium von Whitakers Almanach. Ein Forsyte merkt instinktiv, daß Tatsachen das Wesentlichste jeder Situation sind. Sie konnte Jons Vorurteil vielleicht besiegen, aber ohne einen genauen Plan, ihren desperaten Entschluß auszuführen, konnte nichts geschehen. Aus dem unschätzbaren Buch erfuhr sie, daß sie beide einundzwanzig Jahre alt sein mußten, oder es war eine Zustimmung von jemand notwendig, die natürlich nicht zu erlangen sein würde; dann verlor sie sich in Anweisungen betreffs Lizenzen, Zeugnisse, Anzeigen, Bezirke und kam schließlich auf das Wort »Meineid«. Aber das war Unsinn! Wer würde wohl wirklich etwas dagegen haben, wenn sie ihr Alter falsch angaben, um sich aus Liebe zu heiraten! Sie aß kaum etwas zum Frühstück und kehrte wieder zu Whitaker zurück. Je mehr sie darin studierte, desto unsicherer ward sie, bis sie beim müßigen Umwenden der Seiten auf Schottland kam. Dort konnte man ohne all diesen Unsinn heiraten! Sie brauchte nur für einundzwanzig Tage hinzugehen, dann konnte Jon kommen, und sie durften sich im Beisein von zwei Personen für verheiratet erklären. Und was noch mehr war – sie würden es sein! Es war bei weitem der beste Weg, und sie ging sogleich all ihre Schulkameraden durch. Da war Mary Lambe, die in Edinburg wohnte und keine Spielverderberin war. Sie hatte auch einen Bruder. Sie konnte bei Mary Lambe wohnen, die mit ihrem Bruder als Zeuge auftreten würde. Wohl wußte sie, daß manche junge Mädchen all dies für unnötig halten würden, und daß sie und Jon nichts weiter zu tun brauchten, als für eine Woche zusammen fortzugehen und dann zu ihren Familien zu sagen: »Wir sind auf natürliche Weise verheiratet, nun müssen wir auch auf die gesetzliche heiraten.« Als echte Forsyte aber sah Fleur ein, daß ein solches Vorgehen unsicher war und sie das Gesicht ihres Vaters zu fürchten hatte, wenn er davon hörte. Außerdem glaubte sie nicht, daß Jon es tun würde; er hatte eine solche Meinung von ihr, daß sie es nicht ertragen konnte, sie einzubüßen. Nein! Mary Lambe war vorzuziehen, und es war jetzt gerade die Zeit im Jahr, nach Schottland zu gehen. Etwas beruhigter packte sie, ging ihrer Tante aus dem Wege und nahm einen Omnibus nach Chiswick. Sie kam zu früh und ging in die Kew Gardens. Doch sie fand keine Ruhe zwischen den Blumenbeeten, den mit Schildern versehenen Bäumen und weiten grünen Plätzen, kehrte daher nach ihrem Frühstück von Anchovisbrötchen und Kaffee nach Chiswick zurück und zog die Glocke an Junes Haus. Die Österreicherin ließ sie in das »kleine Eßzimmer« ein. Jetzt, wo sie wußte, was ihrer und Jons nun wartete, hatte ihre Sehnsucht nach ihm sich verzehnfacht, als wäre er ein Spielzeug mit scharfen Rändern und gefährlichem Anstrich, wie man ihr als Kind eines fortzunehmen versucht hatte. Wenn sie ihren Willen nicht haben konnte und Jon nicht für immer ihr eigen wurde, wäre es, als müsse sie vor Entbehrung sterben; irgendwie mußte und würde sie ihn bekommen! Ein runder trüber Spiegel von sehr altem Glas hing über dem roten Backsteinkamin. Sie betrachtete sich darin und sah sich blaß und mit ziemlich dunkeln Rändern unter den Augen; leise Schauer ließen ihre Nerven erbeben. Dann hörte sie die Klingel läuten, stahl sich ans Fenster und sah ihn an der Schwelle stehen und sich übers Haar und die Lippen streichen, als versuche er ebenfalls, das Zittern seiner Nerven zu beschwichtigen.

Sie saß auf einem der beiden Strohstühle, mit dem Rücken gegen die Tür, als er hereinkam, und sagte gleich:

»Setze dich, ich muß ernsthaft mit dir reden.«

Jon setzte sich auf den Tisch neben ihr, und ohne ihn anzusehen, fuhr sie fort:

»Wenn du mich nicht verlieren willst, müssen wir heiraten.«

Jon schnappte nach Luft.

»Weshalb? Ist irgend etwas vorgefallen?«

»Nein, aber ich fühlte es in Robin Hill und zu Haus bei den Meinen.«

»Aber –« stammelte Jon, »in Robin Hill ging doch alles glatt – und sie sagten nichts zu mir.«

»Aber sie wollen uns trennen. Das Gesicht deiner Mutter war deutlich genug. Und das meines Vaters.«

»Hast du ihn seitdem gesehen?«

Fleur nickte. Was schadeten ein paar ergänzende Lügen?

»Aber«, sagte Jon eifrig, »ich begreife nicht, wie sie nach all diesen Jahren noch so fühlen können.«

Fleur blickte zu ihm auf.

»Vielleicht liebst du mich nicht genug.«

»Dich nicht genug lieben! Aber – ich –«

»Dann sichere mich dir.«

»Ohne es ihnen zu sagen?«

»Nicht bis nachher.«

Jon schwieg. Wieviel älter er aussah als an dem Tage vor kaum zwei Monaten, als sie ihn zuerst gesehen – ganze zwei Jahre älter!

»Es würde Mutter furchtbar verletzen«, sagte er.

Fleur entzog ihm ihre Hand.

»Du mußt eben wählen.«

Jon glitt vom Tisch herunter auf die Knie.

»Aber weshalb sollen wir es ihnen nicht sagen? Sie können uns doch nicht wirklich trennen, Fleur.«

»Sie können es. Ich sage dir, sie können es.«

»Wie?«

»Wir sind vollständig abhängig – indem sie uns Geldschwierigkeiten und allerlei andere Schwierigkeiten machen. Ich habe keine Geduld, Jon.«

»Aber das heißt sie betrügen.«

Fleur erhob sich.

»Du kannst mich nicht wirklich lieben, oder du würdest nicht zögern.«

Jon hob die Hände bis zu ihrer Taille und zwang sie, sich wieder zu setzen. Sie sprach eilig weiter:

»Ich habe alles überlegt. Wir brauchen nur nach Schottland zu gehen. Wenn wir verheiratet sind, werden sie sich bald darein finden. Alle Menschen finden sich immer leicht mit Tatsachen ab. Siehst du das nicht ein, Jon?«

»Aber sie so furchtbar zu verletzen!«

Also wolle er lieber sie verletzen als die Seinen zu Haus! »Gut denn, laß mich gehen!«

Jon stand auf und stellte sich mit dem Rücken gegen die Tür. »Ich glaube, du hast recht«, sagte er langsam, »aber ich muß es mir überlegen.«

Sie konnte sehen, daß Gefühle ihn übermannten, die er auszudrücken strebte, aber sie wollte ihm nicht helfen. Sie haßte sich in diesem Augenblick und haßte beinah auch ihn. Warum mußte sie all dies tun, ihre Liebe zu sichern? Es war nicht schön. Und dann sah sie seine Augen traurig und anbetend.

»Sieh mich nicht so an, Jon! Ich möchte dich nur nicht verlieren.«

»Du kannst mich nicht verlieren, solange du mich willst.«

»O doch, ich kann.«

Jon legte die Hände auf ihre Schultern.

»Fleur, weißt du irgend etwas, das du mir nicht gesagt hast?«

Es war die Kernfrage, die sie gefürchtet hatte. Sie sah ihn fest an und erwiderte: »Nein.« Sie hatte die Schiffe hinter sich verbrannt; doch was machte das, wenn er der Ihre wurde? Er würde ihr verzeihen. Sie schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund. Der Sieg war ihr gewiß! Sie fühlte es am Schlagen seines Herzens gegen das ihre, in dem Schließen seiner Augen. »Ich möchte wissen, woran ich bin! Ich möchte wissen, woran ich bin!« flüsterte sie. »Versprich es mir!«

Jon antwortete nicht. Sein Gesicht hatte die Starrheit äußerster Qual. Schließlich sagte er:

»Es ist wie ein Schlag für sie. Ich muß es mir ein wenig überlegen, Fleur. Ich muß es wirklich.«

Fleur schlüpfte aus seinen Armen.

»Oh! Sehr gut!« Und plötzlich brach sie vor Enttäuschung, Scham und Überanstrengung in Tränen aus. Worauf fünf Minuten akuten Elends folgten. Jons Zärtlichkeit und Reue waren grenzenlos, aber er versprach nichts. Trotz ihrer Absicht, zu schreien: »Gut, wenn du mich nicht genug liebst – dann lebe wohl!« wagte sie es nicht. Von Geburt an gewohnt, immer ihren Willen durchzusetzen, verblüffte und beschämte sie dieser Widerstand des jungen Mannes, der so zärtlich und liebevoll war. Sie wollte ihn von sich stoßen, wollte versuchen, was Zorn und Kälte vermochten, und wieder wagte sie es nicht.

Der Gedanke, daß sie plante, ihn blindlings zu Unwiderruflichem zu drängen, schwächte alles – schwächte die Aufrichtigkeit ihrer Empfindlichkeit und die Aufrichtigkeit ihrer Leidenschaft; sogar ihre Küsse hatten nicht den Reiz, den sie für sie wünschte. Die stürmische kleine Begegnung endete unentschieden.

»Wünschen Sie etwas Tee, gnädiges Fräulein?«

Jon von sich stoßend, rief sie:

»Nein – nein, danke! Ich will eben gehen.«

Und ehe er sie noch hindern konnte, war sie fort.

Sie ging langsam und rieb sich die glühenden gefleckten Wangen, war erschreckt, zornig und fühlte sich sehr elend. Sie hatte Jon so furchtbar aufgerüttelt, und doch war nichts Bestimmtes versprochen oder eingeleitet! Je ungewisser und fraglicher die Zukunft jedoch war, desto tiefer arbeiteten sich die Fühlfäden des »Willens zu haben« in ihr Herz hinein – wie ein bohrender Holzbock!

Es war niemand zu Haus in der Green Street. Winifred war mit Imogen ausgegangen, um ein Stück zu sehen, von dem einige sagten, daß es allegorisch sei, andere »sehr aufregend, wissen Sie«. Diese verschiedenen Meinungen hatten Winifred und Imogen gelockt. Fleur fuhr zur Paddington-Station. Die Luft der Ziegeleien von West Drayton und der späten Heuwiesen fächelte ihre noch im Wagen glühenden Wangen. Blumen zum Abpflücken hatte es wohl genug gegeben, jetzt aber waren sie alle stachlig und dornig. Doch die goldene Blume in der Krone von Dornen schien ihrem beharrlichen Geiste um so schöner und begehrenswerter.


 << zurück weiter >>