Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Trio

Unter den vier Forsytes der dritten und, wie man sagen möchte, der vierten Generation hatte ein kurzer Aufenthalt in Wansdon under the Downs, der bis zu neun Tagen verlängert wurde, die verschlungenen Fäden zäher Hartnäckigkeit beinah bis zum äußersten gespannt. Nie war Fleur so » fine«, Holly so wachsam, Val so geheimnisvoll, Jon so schweigsam und verstört gewesen. Was er in der Woche von der Landwirtschaft gelernt hatte, konnte auf der Spitze eines Federmessers balanciert und fortgeblasen werden. Er, dessen Natur sich gegen jede Intrige auflehnte und jeden Versuch, zu verbergen, daß er Fleur anbetete, als »Unsinn« betrachtete, tobte und wütete innerlich, gehorchte jedoch und tröstete sich, so gut er konnte, in den wenigen Minuten, wo sie allein waren. Am Donnerstag, als sie, zum Abendessen angekleidet, im Wohnzimmer standen, sagte sie zu ihm:

»Jon, ich fahre Sonntag mit dem Zuge 3,40 von Paddington nach Haus; wenn du am Samstag nach Haus fahren würdest, könntest du Sonntag hinkommen und mich abholen und dann gerade noch mit dem letzten Zug zurückfahren. Du wärst dann doch jedenfalls zu Haus gewesen, nicht wahr?«

Jon nickte.

»Alles, wenn ich mit dir zusammen sein kann«, sagte er; »nur weshalb vorgeben – –«

Fleur schob ihren kleinen Finger in seine Hand.

»Du hast keinen Instinkt, Jon; du mußt mir alles überlassen. Es ist eine ernste Geschichte mit unsern Leuten. Wir müssen vorläufig einfach verschwiegen sein, wenn wir zusammen sein wollen.« Die Tür wurde geöffnet, und sie fügte laut hinzu: »Sie sind ein Tölpel, Jon.«

Etwas in Jon wehrte sich dagegen; er konnte diese Vorwände für ein so natürliches, so überwältigendes und süßes Gefühl nicht ertragen.

Am Freitag abend gegen elf Uhr hatte er seine Reisetasche gepackt und lehnte halb unglücklich, halb in einem Traum von der Paddingtonstation versunken aus dem Fenster, als er einen ganz leisen Ton vernahm, wie wenn jemand mit dem Fingernagel an seine Tür klopfte. Er stürzte hin und lauschte. Wieder der Ton. Es war ein Nagel. Er öffnete. Oh! Welch ein entzückendes Wesen kam da herein!

»Ich wollte dir mein Phantasiekleid zeigen«, sagte es und stellte sich an das Fußende seines Bettes.

Jon lehnte sich tief atmend an die Tür. Die Erscheinung trug weißen Musselin auf dem Kopf, ein Fichu um den bloßen Hals über einem weinfarbenen Kleid, das sich um die schlanke Taille bauschte. Sie hielt einen Arm in die Seite gestemmt und den andern mit einem Fächer in der Hand, der den Kopf berührte, rechtwinklig erhoben.

»Dies müßte ein Korb mit Trauben sein«, flüsterte sie, »aber ich habe keinen hier. Es ist mein Goyakleid. Und dies ist die Stellung wie auf dem Bild. Gefällt es dir?«

»Es ist ein Traum.«

Die Erscheinung drehte sich im Kreise. »Fasse es an und sieh.«

Jon kniete nieder und umfaßte ehrfürchtig den Rock.

»Traubenfarbe«, hörte er sie flüstern, »nur Trauben – ›La Vendimia‹ – Weinlese.«

Jons Finger berührte kaum ihre Taille zu beiden Seiten; er blickte mit anbetenden Augen zu ihr auf.

»Oh! Jon!« flüsterte sie, beugte sich herab und küßte seine Stirn, drehte sich wieder auf der Fußspitze, glitt hinaus und war fort.

Jon blieb auf den Knien, und sein Kopf sank gegen das Bett. Wie lange er so blieb, wußte er nicht. Er hörte noch das leise Geräusch des klopfenden Nagels, der Füße, das Rascheln der Röcke – wie in einem Traum; und vor seinen geschlossenen Augen stand die Gestalt lächelnd und flüsternd, und ein feiner Duft von Narzissen erfüllte die Luft. Und seine Stirn hatte, wo sie geküßt war, eine kleine kühle Stelle zwischen den Brauen, wie von der Berührung einer Blume. Liebe erfüllte seine Seele, jene Liebe des Knaben zum Mädchen, die noch so wenig weiß, so viel erhofft, nicht um die Welt den Flaum davon entfernen würde und mit der Zeit eine flüchtige Erinnerung werden mußte – eine zehrende Leidenschaft – eine schlafmützige Kameradschaft – oder, einmal unter vielen, eine Weinlese mit Trauben, voll und süß, in den Farben des Abendrots.

Es ist hier und an anderer Stelle schon genug von Jon Forsyte gesagt, um zu zeigen, wie groß der Abstand zwischen ihm und seinem Ururgroßvater, dem ersten Jolyon in Dorset unten an der See, war. Jon war empfindsam wie ein Mädchen, empfindsamer als neun Mädchen von zehn heutzutage; phantastisch wie einer der »lahmen Enten«-Maler seiner Halbschwester June, liebevoll, wie ein Sohn seines Vaters und seiner Mutter natürlich sein mußte. Und doch war in seinem Innern etwas von dem alten Gründer der Familie, eine geheime Hartnäckigkeit des Herzens, eine Furcht, seine Gefühle zu zeigen, der Vorsatz, sich nicht wissen zu machen, wenn er geschlagen war. Empfindsame, phantastische, liebevolle Knaben sind schlimm daran auf der Schule, aber Jon hatte sie dort instinktiv über seine Natur im Dunkeln gelassen und sich nur ganz normal unglücklich gefühlt. Nur mit seiner Mutter war er bis dahin absolut frei und natürlich gewesen, und als er an diesem Sonntag nach Robin Hill fuhr, war das Herz ihm schwer, weil Fleur gesagt hatte, daß er nicht offen und natürlich mit ihr sein dürfe, der er doch nie etwas verschwiegen hatte, ihr nicht einmal sagen dürfe, daß sie sich wieder getroffen hatten, wenn sie es nicht bereits wußte. So unerträglich schien ihm das alles, daß er nahe daran war, eine Entschuldigung nach Haus zu telegraphieren und in London zu bleiben. Und das erste, was seine Mutter zu ihm sagte, war:

»Du warst dort also mit deiner kleinen Freundin aus der Konditorei zusammen, Jon. Wie ist sie bei näherer Betrachtung?«

Mit Erleichterung und hochrot antwortete Jon:

»Oh! Furchtbar nett, Mam.«

Ihr Arm preßte den seinen.

Nie hatte Jon sie so geliebt wie in dieser Minute, die Fleurs Befürchtungen zu widerlegen und seine Seele zu befreien schien. Er wandte sich um, sie anzusehen, aber etwas in ihrem lächelnden Gesicht – etwas, das vielleicht nur er bemerken konnte – drängte die Worte zurück, die aus ihm hervorsprudeln wollten. Konnte Furcht sich unter diesem Lächeln verbergen? Wenn es so war, war Furcht in ihrem Gesicht. Und es kamen ganz andere Worte, über Landwirtschaft, über Holly und die Hügel. Er sprach schnell und wartete darauf, daß sie wieder auf Fleur zurückkommen sollte. Aber sie tat es nicht. Noch erwähnte sein Vater sie, obwohl er es natürlich auch wissen mußte. Welch Verzicht für ihn, welch mörderische Unaufrichtigkeit lag in diesem Schweigen über Fleur – wo er so erfüllt von ihr war; wo seine Mutter so erfüllt von ihm war und sein Vater so erfüllt von seiner Mutter! Und so verlebte das Trio den Abend und den Sonntag darauf.

Nach dem Dinner spielte seine Mutter, spielte alle Stücke, die er am meisten liebte, und er saß da, die Hände um das Knie gefaltet und das Haar gesträubt, wo seine Finger hindurchgefahren waren. Er schaute seine Mutter an, während sie spielte, aber er sah nur Fleur – Fleur in dem vom Mond erhellten Garten, Fleur in der sonnigen Kiesgrube, Fleur in dem Phantasiekleid sich neigen, flüstern, sich niederbeugen und seine Stirn küssen. Einmal beim Zuhören vergaß er sich und blickte hinüber zu seinem Vater in dem andern Sessel. Weshalb sah er so aus? Der Ausdruck seines Gesichts war so traurig und beunruhigend. Er machte sich Vorwürfe, stand auf und setzte sich auf die Lehne von seines Vaters Sessel. Von dort konnte er sein Gesicht nicht sehen; und wieder sah er Fleur – in den Händen seiner Mutter, die schlank und weiß auf den Tasten ruhten, in dem Profil ihres Gesichts, ihrem wie gepuderten Haar und am Ende des langen Raumes in dem offenen Fenster und der Maiennacht, die draußen webte.

Als er oben zu Bett ging, kam seine Mutter in sein Zimmer. Sie stand am Fenster und sagte:

»Die Zypressen dort unten, die dein Großvater pflanzte, sind wundervoll geworden. Ich finde sie immer so schön unter einem sinkenden Mond. Ich wünschte, du hättest deinen Großvater gekannt, Jon.«

»Warst du mit Vater verheiratet, als er noch lebte?« fragte Jon plötzlich.

»Nein, Liebling; er starb im Jahre 1892 – sehr alt – fünfundachtzig, glaube ich.«

»Sah Vater ihm ähnlich?«

»Ein wenig, aber er ist zarter, nicht ganz so kräftig.«

»Ich weiß es, von Großvaters Porträt; wer malte es?«

»Eine von Junes ›lahmen Enten‹. Aber es ist ganz gut.«

Jon schob seine Hand unter den Arm seiner Mutter. »Erzähle mir doch von dem Familienstreit, Mam.«

Er fühlte ihren Arm beben. »Nein, Liebling; das muß dein Vater tun, wenn er es eines Tages für richtig hält.«

»Dann war es also Ernst«, sagte Jon atemlos.

»Ja.« Und es entstand ein Schweigen, in dem keiner wußte, ob der Arm oder die Hand darin mehr bebte.

»Manche Leute«, sagte Irene sanft, »mögen den abnehmenden Mond nicht, ich finde ihn immer wundervoll. Sieh dort die Schatten der Zypressen! Jon, Vater sagt, wir beide, du und ich, dürfen auf zwei Monate nach Italien gehen. Hättest du Lust dazu?«

Jon zog die Hand aus ihrem Arm; seine Gefühle waren so ungestüm und verwirrt. Italien mit seiner Mutter! Vor vierzehn Tagen wäre es eine Wonne gewesen, jetzt erfüllte es ihn mit Schrecken: er fühlte, daß der plötzliche Vorschlag mit Fleur in Zusammenhang stand und stammelte:

»O ja! nur – ich weiß nicht. Soll ich – wo ich eben erst angefangen habe? Ich möchte es mir überlegen.«

Ihre Stimme erwiderte kühl und sanft: »Ja, Kind, überlege es dir. Aber besser jetzt, als wenn du im Ernst mit der Landwirtschaft begonnen hast. Italien mit dir –! Es wäre schön!«

Jon legte den Arm um ihre Taille, die noch schlank und fest war wie die eines jungen Mädchens.

»Glaubst du, du könntest Vater verlassen?« sagte er kleinlaut und fühlte sich sehr gemein.

»Vater schlug es vor, er fand, du müßtest wenigstens Italien sehen, bevor du dich irgendwie festsetzest.«

Das Gefühl der Gemeinheit in Jon verlor sich; er wußte, ja, er wußte, daß sein Vater und seine Mutter nicht offen waren, nicht offener als er selbst. Sie wollten ihn von Fleur fernhalten. Sein Herz verhärtete sich. Und als fühlte sie, was in ihm vorging, sagte seine Mutter:

»Gute Nacht, Liebling. Schlafe gut und überlege es dir. Aber es wäre herrlich!«

Sie drückte ihn so schnell an sich, daß er ihr Gesicht nicht sah. Jon fühlte sich genau wie zuweilen als unartiger Bub, war gereizt, weil er nicht liebevoll war und sich in seinen eigenen Augen gerechtfertigt fühlte.

Aber Irene ging, nachdem sie einen Moment in ihrem eigenen Zimmer stehengeblieben war, durch das Ankleidezimmer zwischen diesem und dem ihres Mannes.

»Nun?«

»Er will es sich überlegen, Jolyon.«

Er sah ihre Lippen, um die ein verzerrtes leises Lächeln spielte, und sagte ruhig:

»Du solltest mich es ihm lieber sagen lassen und die Sache los sein. Schließlich hat Jon die Instinkte eines Gentleman. Er muß nur verstehen –«

»Nur! Er kann es nicht verstehen. Es ist unmöglich.«

»Ich glaube, ich hätte es können in seinem Alter.«

Irene ergriff seine Hand. »Du warst immer mehr Realist als Jon und nie so unschuldig.«

»Das ist wahr«, sagte Jolyon. »Es ist merkwürdig, nicht wahr? Du und ich würden der Welt unsere Geschichten ohne eine Spur von Scham erzählen, aber unser eigener Junge bringt uns in Verlegenheit.«

»Wir haben uns nie etwas daraus gemacht, ob die Welt es billigt oder nicht.«

»Jon würde bei uns nichts mißbilligen.«

»Oh! Jolyon, doch. Er liebt. Ich fühle, daß er liebt. Und er würde sagen: ›Meine Mutter heiratete einst ohne Liebe! Wie konnte sie nur!‹ Er wird es als ein Verbrechen betrachten! Und es war eins!«

Jolyon nahm ihre Hand und sagte mit einem wehmütigen Lächeln:

»Ach! Weshalb werden wir jung geboren? Wenn wir jetzt alt geboren wären und von Jahr zu Jahr jünger würden, verstünden wir, wie alle Dinge geschehen, und würden all unsere verwünschte Unduldsamkeit fallen lassen. Wenn der Junge aber wirklich liebt, weißt du, wird er nicht vergessen, auch nicht, wenn er nach Italien fährt. Wir sind eine hartnäckige Rasse; und er wird instinktiv wissen, weshalb er fortgeschickt wird. Nichts wird ihn heilen als die Erschütterung, wenn er es erfährt.«

»Laß es mich wenigstens versuchen.«

Jolyon stand einen Augenblick da, ohne zu sprechen. Zwischen dem Teufel und der tiefen See – dem Schmerz einer gefürchteten Enthüllung und dem Kummer, seine Frau auf zwei Monate zu verlieren – hoffte er heimlich auf den Teufel; wenn sie sich aber für die tiefe See entschied, mußte er auch damit fertig zu werden suchen. Schließlich würde es eine gute Übung für die Trennung von ihr sein, bei der es keine Rückkehr gab. Und er nahm sie in die Arme, küßte ihre Augen und sagte:

»Wie du willst, meine Liebe.«


 << zurück weiter >>