Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Entscheidung

Als Fleur ihn verlassen hatte, starrte Jon die Österreicherin an. Es war eine hagere Frau mit einem dunkeln Gesicht und dem besorgten Ausdruck eines Menschen, der das eine bißchen Gute nach dem andern aus dem Leben hatte schwinden sehen.

»Keinen Tee?« fragte sie.

Die Enttäuschung in ihrer Stimme merkend, murmelte Jon:

»Nein, wirklich; danke.«

»Ein kleines Täßchen – er ist fertig. Ein kleines Täßchen und eine Zigarette.«

Fleur war fort! Stunden der Gewissensbisse und der Unentschiedenheit lagen vor ihm! Und mit einem schweren Gefühl von Unbeholfenheit lächelte er und sagte: »Danke – besten Dank.«

Sie brachte eine kleine Teekanne mit zwei Tassen und einer kleinen Zigarettendose auf einem kleinen Tablett.

»Zucker? Miß Forsyte hat viel Zucker – sie kauft meinen Zucker und auch den meiner Freunde. Miß Forsyte ist eine sehr gute Dame. Ich bin glücklich, bei ihr zu dienen. Sind Sie Ihr Bruder?«

»Ja«, sagte Jon und begann die zweite Zigarette seines Lebens zu rauchen.

»Ein sehr junger Bruder«, sagte die Österreicherin mit einem leisen, ängstlichen Lächeln, das ihn an das Wedeln eines Hundeschwanzes erinnerte.

»Darf ich Ihnen etwas einschenken?« sagte er. »Und wollen Sie sich nicht setzen, bitte?«

Die Österreicherin schüttelte den Kopf.

»Ihr Vater ist ein sehr netter alter Herr – der netteste alte Herr, den ich je gesehen. Miß Forsyte erzählt mir alles von ihm. Geht es ihm besser?«

Ihre Worte trafen Jon wie ein Vorwurf. »O ja! Ich glaube, es geht ihm ganz gut.«

»Ich würde ihn gern wiedersehen«, sagte die Österreicherin, indem sie eine Hand aufs Herz legte, »er hat ein sehr gutes Herz.«

»Ja«, sagte Jon. Und wieder empfand er ihre Worte wie einen Vorwurf.

»Er fällt nie jemand lästig und lächelt so sanft.«

»Ja, nicht wahr?«

»Er schaut Miß Forsyte mitunter komisch an. Ich habe ihm meine ganze Geschichte erzählt, er ist so sympathisch. Und Ihre Mutter – ist sie hübsch und wohl?«

»Ja, sehr wohl.«

»Er hatte ihre Photographie auf seinem Toilettentisch. Sehr schön.«

Jon schluckte seinen Tee hinunter. Diese Frau mit ihrem besorgten Gesicht und ihren mahnenden Worten erfüllte ihn mit Grauen.

»Danke«, sagte er, »ich muß nun gehen. Darf ich – darf ich Ihnen dies geben?«

Zögernd legte er einen Zehnschillingschein auf das Teebrett und ging zur Tür. Er hörte die Österreicherin nach Luft schnappen und eilte hinaus. Er hatte gerade noch Zeit, seinen Zug zu erreichen, und blickte auf dem ganzen Wege hoffnungslos hoffend in jedes Gesicht, das vorüberkam, wie Verliebte zu tun pflegen. In Worthing angelangt, brachte er sein Gepäck in den Lokalzug und ging zu Fuß über die Hügel nach Wansdon, um der schmerzenden Unentschiedenheit Herr zu werden. Solange er unentwegt vorwärts ging, konnte er die Schönheit der grünen Matten genießen, rastete hier und dort, um sich im Grase auszustrecken, die Vollkommenheit einer wilden Rose zu bewundern und dem Gesang einer Lerche zuzuhören. Aber der Kampf in ihm war nur aufgeschoben – der Kampf zwischen der Sehnsucht nach Fleur und dem Abscheu vor Betrug. Er erreichte die alte Kreidegrube bei Wansdon, ohne einen Entschluß gefaßt zu haben. Mutig beide Seiten einer Frage zu betrachten, war Jons Stärke und Schwäche zugleich. Er kam an, als gerade die Tischglocke zum erstenmal läutete. Seine Sachen waren schon nach oben gebracht. Er nahm eilig ein Bad und fand Holly allein, als er herunterkam – Val war zur Stadt gefahren und wollte erst mit dem letzten Zug zurückkommen.

Seit Val ihm geraten, seine Schwester zu fragen, was zwischen ihren beiden Familien vorgefallen war, hatte sich soviel ereignet – Fleurs Enthüllung im Greenpark, ihr Besuch in Robin Hill, die Begegnung heute –, daß nichts mehr zu fragen übriggeblieben war. Er sprach von Spanien, seinem Sonnenstich, van Vals Pferden, der Gesundheit ihres Vaters. Holly erschreckte ihn, als sie sagte, daß sie ihren Vater durchaus nicht wohl fände. Sie wäre am Ende der Woche zweimal in Robin Hill gewesen. Er sei ihr furchtbar matt vorgekommen, schiene zuweilen sogar Schmerzen zu haben, hätte sich aber immer geweigert, über sich zu sprechen.

»Er ist unsagbar lieb und selbstlos – findest du nicht auch, Jon?«

In dem Gefühl, selbst durchaus nicht lieb und selbstlos zu sein, antwortete Jon: »Sehr!«

»Ich finde, er ist einfach ein vollkommener Vater gewesen, solange ich denken kann.«

»Ja«, erwiderte Jon sehr kleinlaut.

»Er hat sich nie in etwas hineingemischt und schien immer zu verstehen. Ich werde ihm nie vergessen, daß er mich im Burenkrieg nach Südafrika hat gehen lassen, als ich in Val verliebt war.«

»Das war, bevor er die Mutter heiratete, nicht wahr? sagte Jon plötzlich.

»Ja, weshalb?«

»Oh! Nichts. Nur, war sie nicht erst mit Fleurs Vater verlobt?«

Holly legte den Löffel hin und schaute ihn an. Ihr Blick war forschend. Was wußte der Junge? Genug, um ihm lieber alles zu sagen? Sie konnte sich nicht entschließen. Er sah abgespannt und müde aus, aber das konnte auch der Sonnenstich sein.

»Es war etwas zwischen ihnen«, sagte sie. »Wir natürlich waren damals da draußen und bekamen gar keine Nachrichten.« Sie konnte es nicht riskieren. Es war nicht ihr Geheimnis. Überdies war sie im ungewissen über seine Gefühle. Vor Spanien hatte sie sicher gewußt, daß er verliebt war; aber Knaben sind eben Knaben; das war sieben Wochen her, und Spanien lag dazwischen.

Sie sah, daß er merkte, wie sie ihn hinhielt, und fügte hinzu: »Hast du von Fleur etwas gehört?«

»Ja.«

Sein Gesicht sagte ihr mehr als die ausführlichste Erklärung. Er hatte also nicht vergessen!

Sie sagte sehr ruhig: »Fleur ist ungeheuer anziehend, Jon, aber du weißt – Val und ich mögen sie nicht sehr.«

»Weshalb?«

»Wir finden, daß ›Haben‹ eine große Rolle bei ihr spielt.«

»Haben? Ich weiß nicht, was du meinst. Sie – sie –.« Er schob seinen Teller mit dem Nachtisch fort, stand auf und ging ans Fenster.

Holly erhob sich ebenfalls und legte den Arm um seine Taille. »Sei nicht böse, lieber Jon. Wir können nicht alle Menschen in demselben Licht sehen, nicht wahr? Weißt du, ich glaube, jeder von uns hat nur einen oder zwei Menschen, die das Beste in uns sehen und es herauslocken können. Für dich ist es, glaube ich, deine Mutter. Ich sah sie einst einen Brief von dir lesen, es war wundervoll, ihr Gesicht dabei zu beobachten. Ich glaube, sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen – die Zeit scheint spurlos an ihr vorüberzugehen.«

Jons Gesicht wurde sanft, bekam dann aber wieder den gespannten Ausdruck. Alle – alle waren gegen ihn und Fleur! Es bestärkte die Forderung in ihren Worten: »Sichere mich dir – heirate mich, Jon!«

Hier, wo er die wunderbare Woche mit ihr verlebt hatte, steigerten sich das Entzücken über ihre Anmut, der Schmerz in seinem Herzen mit jeder Minute, wo sie nicht da war, dem Zimmer, dem Garten, sogar der Luft ihren Zauber zu geben. Würde er je imstande sein, hier zu leben und sie nicht zu sehen? Er wußte keinen Rat und ging früh zu Bett. Es würde ihn nicht heilen oder klüger machen, aber er würde allein mit der Erinnerung an Fleur in ihrem Phantasiekostüm sein. Er hörte Vals Ankunft, hörte die Insassen aussteigen, dann kehrte die Stille der Sommernacht wieder – nur ein Blöken der Schafe in der Ferne und das heisere Krächzen eines Nachtraben. Er lehnte sich weit hinaus. Kalter Mond – warme Luft – die Hügel wie Silber! Kleine Flügel, ein gurgelnder Strom, die Kletterrosen! Herrgott – wie leer alles das ohne sie! In der Bibel stand geschrieben: Du sollst Vater und Mutter verlassen und – Fleur anhangen!

Er mußte Mut fassen und es ihnen sagen! Sie konnten ihn nicht davon abhalten, sie zu heiraten – sie würden es gar nicht wollen, wenn sie wußten, wie er fühlte. Ja! Er wollte zu ihnen gehen! Mutig und offen – Fleur hatte unrecht!

Der Nachtrabe verstummte, die Schafe waren still; der einzige Laut in der Dunkelheit war das Gurgeln des Stromes. Und Jon schlief in seinem Bett, befreit von dem schlimmsten Übel im Leben – der Unentschiedenheit.


 << zurück weiter >>