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Zehntes Kapitel

Fleurs Hochzeit

Die Oktoberberichte, die die Hochzeit Fleur Forsytes mit Michael Mont beschrieben, wurden der symbolischen Bedeutung dieses Ereignisses kaum gerecht. Die Vereinigung der Urenkelin des ersten Forsyte mit dem Erben eines neunten Baronet war das äußere und sichtbare Zeichen der Verschmelzung der Klassen, die die Stabilität eines Reiches stützen. Die Zeit war gekommen, wo die Forsytes ihre natürliche Abneigung gegen allen überflüssigen »Firlefanz«, der nicht zu ihnen paßte, aufgeben und ihn als die noch natürlichere Beigabe ihrer Stellung annehmen mußten. Überdies waren sie genötigt, emporzusteigen, um für all die neuen Reichen Platz zu machen. Bei der stillen, aber geschmackvollen Zeremonie in Hanover Square und danach in der Wohnung in der Green Street war es für diejenigen, die nicht Bescheid wußten, unmöglich, die Forsytetruppen von dem Montkontingent zu unterscheiden. War auch nur der geringste Unterschied zwischen der Hosenfalte, dem Ausdruck seines Schnurrbarts, seiner Aussprache oder dem Glanz seines Zylinders bei Soames und dem neunten Baronet? War Fleur nicht ebenso beherrscht, behende, strahlend, hübsch und herb wie irgendeins der anwesenden jungen Muskham-, Mont- oder Charwellmädchen? Wenn die Forsytes etwas voraushatten, war es die Kleidung, ihr Aussehen und ihre Manieren. Sie gehörten jetzt der »Oberklasse« an, und ihr Name würde nun feierlich im Almanach verzeichnet stehen, ihr Geld mit Landbesitz vereinigt sein. Ob das ein wenig spät geschah und der Lohn ihres Strebens nach Besitz, Land und Geld für den Schmelztiegel bestimmt sein würden – war noch eine so strittige Frage, daß sie gar nicht erörtert wurde. Schließlich hatte Timothy ja gesagt, daß Konsols steigen würden. Timothy, das letzte, das fehlende Glied; Timothy in extremis in der Bayswater Road – so hatte Francie berichtet. Es ging auch das Gerücht, daß der junge Mont so eine Art von Sozialist war – merkwürdig klug von ihm und eigentlich eine gewisse Versicherung, wenn man die Zeit in Betracht zog, in der sie lebten. In der Hinsicht brauchte man sich nicht zu beunruhigen. Die gutsituierten Klassen begingen diese liebenswürdige Torheit, die eine Gewähr für die Erhaltung der Sitten ist und auf Theorien beschränkt bleibt. Wie George seiner Schwester gegenüber bemerkte: »Sie werden bald Junge haben – das wird ihn auf andere Gedanken bringen.«

Die Kirche mit weißen Blumen und etwas Blauem in der Mitte des Ostfensters sah außerordentlich keusch aus, als bemühe sie sich, dem etwas düstern Stil eines Gottesdienstes, der berechnet war, die Gedanken aller auf den Nachwuchs hinzulenken, das Gegengewicht zu halten. Forsytes, Haymans, Tweetymans saßen in dem linken Seitenschiff, Monts, Charwells und Muskhams in dem rechten, während ein paar Leidensgenossinnen Fleurs aus der Schule und einige von Monts Leidensgenossen aus dem Kriege ohne Unterschied an jeder Seite zuschauten und drei junge Damen, die auf dem Wege vom Kaufhaus zufällig hereingekommen waren, mit zwei Mont-Nachzüglern und Fleurs alter Kinderfrau die Nachhut bildeten. Bei dem unbestimmten Zustand des Landes ein so volles Haus, wie man es nur erwarten konnte.

Mrs. Val Dartie, die mit ihrem Manne in der dritten Reihe saß, drückte ihm während der Trauung mehr als einmal die Hand. Ihr, die das Komplott dieser Tragikomödie kannte, war deren dramatischer Moment beinah peinlich. »Ich möchte wissen, ob Jon es instinktiv weiß, da draußen in Britisch-Kolumbia«, dachte sie. Sie hatte gerade an diesem Morgen einen Brief von ihm erhalten, der ihr ein Lächeln entlockt hatte.

»Jon ist in Britisch-Kolumbia, Val«, hatte sie zu ihrem Mann gesagt, »weil er in Kalifornien bleiben wollte. Er findet es so schön dort.«

»Oh!« sagte Val, »also fängt er wieder an, Spaß an etwas zu haben.«

»Er hat etwas Land gekauft und nach seiner Mutter geschrieben.«

»Was in aller Welt will sie da draußen?«

»Jon ist ihr alles. Hältst du es noch immer für eine glückliche Lösung?«

Vals scharfe Augen verengten sich zu grauen Nadelspitzen zwischen den dunklen Wimpern.

»Fleur hätte gar nicht für ihn gepaßt. Sie stammt nicht von den rechten Leuten.«

»Arme kleine Fleur!« seufzte Holly. Ach! Sie war seltsam, diese Heirat. Der junge Mann, Mont, hatte sie beim Rückprall in der trostlosen Stimmung einer Schiffbrüchigen natürlich aufgefangen. Solch ein Sturz konnte nur – wie Val es nannte – ein äußerlicher Zufall sein. Von der Rückansicht des Schleiers ihrer jungen Kusine war wenig zu sagen, und Hollys Augen musterten das allgemeine Bild dieser christlichen Hochzeit. Sie, die eine Liebesheirat geschlossen hatte, die glücklich geworden war, hatte ein Grauen vor unglücklichen Ehen. Diese würde vielleicht schließlich keine sein – aber es war eine übereilte, und eine Übereilung auf diese Art mit gemachter Andacht vor einer Menge moderner Freidenker einzusegnen – denn wer dachte anders als frei oder gar nicht, wenn er so »aufgeputzt« war –, betrachtete sie beinah als Sünde, sofern es in dieser Zeit noch eine gab. Ihre Augen wanderten von dem Prälaten in seinem Ornat (er war ein Charwell – die Forsytes hatten es bis jetzt noch zu keinem Prälaten gebracht) auf Val neben ihr, der – sicherlich – an die Mayflystute mit fünfzehn zu eins für das Cambridgeshire dachte. Sie wanderten weiter und fielen auf das Profil des neunten Baronets bei dem heuchlerischen Prozeß des Niederkniens. Sie konnte eben die feste Falte über seinen Knien sehen, wo er seine Beinkleider in die Höhe gezogen hatte, und dachte: »Val hatte vergessen, die seinen in die Höhe zu ziehen!« Ihre Augen wanderten jetzt zu dem Kirchenstuhl vor ihr, wo Winifred saß, die kräftige Gestalt mit Inbrunst gekleidet, und weiter auf Soames und Annette, die nebeneinander knieten. Ein leises Lächeln kam auf ihre Lippen – Prosper Profond, der von der See zurück war, kniete wohl auch sechs Reihen weiter hinten. Ja! Dies war eine komische »kleine« Geschichte, wie sie auch ausfallen mochte; allein es war in einer richtigen Kirche und würde morgen früh in richtigen Zeitungen stehen.

Sie hatten angefangen eine Hymne zu singen, und sie konnte den neunten Baronet über das Seitenschiff hin hören. Ihr kleiner Finger berührte Vals Daumen – sie hielten dasselbe Gesangbuch –, und ein leises Zittern überlief sie, wie vor zwanzig Jahren. Er bückte sich und flüsterte:

»Erinnerst du dich der Ratte?« Der Ratte bei ihrer Hochzeit in der Kapkolonie, die sich hinter dem Tisch des Standesbeamten die Barthaare putzte! Und sie drückte seinen Daumen fest zwischen ihrem dritten und dem kleinen Finger.

Die Hymne war aus, der Prälat hatte mit seiner Rede begonnen. Er sprach von den gefährlichen Zeiten, in denen sie lebten, und der schrecklichen Haltung des House of Lords hinsichtlich der Ehescheidung. Sie alle wären Soldaten in den Schützengräben unter den giftigen Gasen des Fürsten der Finsternis – sagte er – und müßten standhaft sein. Der Zweck der Ehe seien Kinder, nicht nur sündige Lust.

Ein Teufelchen tanzte in Hollys Augen – Vals Wimpern berührten sich. Was auch geschah, er durfte nicht schnarchen. Ihr Finger und Daumen kniffen ihn in den Schenkel, bis er unruhig wurde.

Die Rede war aus, die Gefahr vorüber. Sie unterschrieben in der Sakristei, und eine allgemeine Entspannung trat ein.

Eine Stimme hinter ihr sagte:

»Wird sie das Rennen überstehen?«

»Wer ist das?« flüsterte sie.

»Der alte George Forsyte!«

Holly musterte ihn heimlich, sie hatte so oft von ihm gehört. Frisch aus Südafrika, ohne Freunde und Verwandte zu kennen, betrachtete sie jeden von ihnen mit fast kindlicher Neugierde. Er war sehr groß und sehr gewandt; seine Augen gaben ihr das seltsame Gefühl, nicht sonderlich gekleidet zu sein.

»Sie brechen auf«, hörte sie ihn sagen.

Sie kamen von der Kanzel her. Holly blickte zuerst in das Gesicht des jungen Mont. Seine Lippen und Ohren zuckten, seine Augen, die von den Füßen zu der Hand in seinem Arm wandelten, starrten plötzlich geradeaus, als müsse er einem feuernden Haufen entgegentreten. Er erweckte in Holly den Eindruck, als sei er in einem geistigen Rausch. Aber Fleur! Ach! Das war ganz etwas anderes! Das Mädchen war ganz gelassen, hübscher denn je in ihren weißen Gewändern und Schleiern über dem kurzgeschnittenen dunkeln, kastanienbraunen Haar, ihre Lider verdeckten die ernsten dunkeln, haselnußbraunen Augen. Äußerlich schien sie ganz dabei zu sein. Aber innerlich, wo war sie? Als sie vorüberkamen, hob Fleur die Lider – der unstete Blick dieser klaren Augen erinnerte sie an das Flattern eines gefangenen Vogels im Käfig.

In der Green Street stand Winifred, nicht ganz so gelassen wie sonst, zum Empfang bereit. Soames' Bitte, ihr Haus herzugeben, war in einem sehr kritischen Moment an sie herangetreten. Unter dem Einfluß einer Bemerkung Prosper Profonds hatte sie begonnen, ihre Empireeinrichtung gegen eine expressionistische zu vertauschen. Es waren die amüsantesten Zusammenstellungen mit violetten, grünen und orangefarbenen Tupfen und Kringeln bei Mealard zu haben. Noch einen Monat, und die Umwandlung wäre beendet gewesen. Gerade jetzt stimmten die »auffallendsten« Rekruten, die sie angeworben, mit der alten Garde nicht recht überein. Es sah aus, als wäre ihr Regiment halb in Khaki, halb in Scharlach und in Bärenfellen. Aber ihr starker und gutmütiger Charakter half ihr in ihrem Wohnzimmer, das vielleicht ein vollkommenerer Typ des halbbolschewistischen Imperialismus ihres Landes war, als sie ahnte, darüber hinweg. Schließlich war dies ein Tag der Verschmelzung, und davon konnte man gar nicht genug haben! Ihre Augen wandelten befriedigt unter ihren Gästen umher. Soames hatte die Lehne eines Boulesessels umfaßt, der junge Mont stand hinter dem »furchtbar drolligen« Wandschirm, den ihr bis jetzt noch niemand hatte erklären können. Der neunte Baronet war heftig vor einem runden scharlachroten Tisch mit blauen australischen Schmetterlingsflügeln unter Glas zurückgeschreckt und flüchtete sich in ihr Louis-Quinze-Kabinett; Francie Forsyte lehnte an dem neuen Kaminsims, der zierlich mit kleinen purpurnen Grotesken auf Ebenholzgrund geschnitzt war; George drüben an dem alten Spinett hielt ein kleines himmelblaues Buch, wie um Wetten darin einzutragen; Prosper Profond drehte an dem Knopf der offenen schwarzen Tür mit pfaublauen Täfelungen; und Annettens Hand, dicht daneben, umfaßte ihre eigene Taille. Zwei Muskhams suchten auf dem Balkon unter den Pflanzen Zuflucht, als fühlten sie sich nicht wohl; Lady Mont, die schmal und tapfer aussah, hatte ihre langstielige Lorgnette aufgenommen und starrte auf den Lampenschirm von elfenbein- und orangefarbener Seide, von dunklem Magenta durchschossen, als hätte der Himmel sich geöffnet. Wirklich, jeder schien sich an irgend etwas zu halten. Nur Fleur, noch in ihrem Brautkleid, war ohne jeden Halt, und ihre Blicke und Worte sprühten nach rechts und links.

Das Zimmer war erfüllt von dem Lärm und Gesumm der Unterhaltung. Niemand konnte verstehen, was der andere sagte, das hatte aber nur wenig zu sagen, da keiner auf so etwas Langweiliges wie eine Antwort wartete. Moderne Unterhaltung schien Winifred so verschieden von den Tagen ihrer Blütezeit, wo schleppendes Sprechen so » en vogue« war. Dennoch war es »amüsant«, und das war natürlich die Hauptsache. Sogar die Forsytes – Fleur und Christopher, Imogen und Patrick, Nicholas' Jüngster – sprachen mit äußerster Geschwindigkeit. Soames natürlich war schweigsam, aber George, am Spinett, machte fortwährend seine Bemerkungen, ebenso Francie an ihrem Kaminsims. Winifred näherte sich dem neunten Baronet, er schien einen gewissen Ruhepunkt zu verheißen; seine Nase war fein und hing ein wenig herab, sein grauer Schnurrbart ebenfalls; und sie sagte gedehnt mit ihrem Lächeln:

»Es ist ganz nett, nicht wahr?«

Seine Antwort schoß aus seinem Lächeln hervor wie ein fortgeschnelltes Brotkügelchen:

»Erinnern Sie sich des Stammes bei Frazer, der die Braut bis zur Taille eingräbt?«

Er sprach so schnell wie kein anderer! Dazu hatte er dunkle kleine lebhafte Augen mit lauter Fältchen ringsum wie ein katholischer Priester. Winifred fürchtete plötzlich, er könnte Dinge sagen, die ihr peinlich wären.

»Hochzeiten«, murmelte sie, »sind immer so amüsant«, und ging zu Soames hinüber. Er war merkwürdig still, und Winifred sah augenblicklich, was die Ursache seiner Unbeweglichkeit war. Ihm zur Rechten stand George Forsyte, links neben ihm Annette und Prosper Profond. Er konnte sich nicht bewegen, ohne entweder diese beiden zu sehen oder ihre Widerspiegelung in George Forsytes spöttischen Augen. Er hatte völlig recht, sie gar nicht zu beachten.

»Sie sagen, mit Timothy gehe es bergab«, sagte er düster.

»Wohin willst du ihn bringen, Soames?«

»Nach Highgate.« Er zählte an seinen Fingern ab. »Es wären dann zwölf von ihnen dort, die Frauen mit eingerechnet. Wie findest du, daß Fleur aussieht?«

»Außerordentlich gut.«

Soames nickte. Er hatte sie nie hübscher gesehen, dennoch konnte er den Eindruck nicht loswerden, daß diese Sache unnatürlich war – wenn er der zusammengekauerten Gestalt gedachte, die sich in die Sofaecke vergraben hatte. Seit jener Nacht bis heute hatte sie ihm nichts mehr anvertraut. Von seinem Chauffeur wußte er, daß sie noch einen Versuch in Robin Hill gemacht hatte, aber vergeblich – ein leeres Haus, niemand darin. Er wußte, daß sie einen Brief erhalten hatte, aber nicht, was darin stand, nur, daß sie sich danach verbarg und weinte. Er hatte bemerkt, daß sie ihn mitunter anschaute, wenn sie glaubte, daß er es nicht merkte, als denke sie noch darüber nach, was er nur getan haben mochte, daß jene Menschen ihn so haßten. Annette war zurückgekommen, und die Dinge waren den Sommer hindurch so weitergegangen – es war jammervoll –, bis Fleur plötzlich erklärte, daß sie den jungen Mont heiraten werde. Sie war ein wenig liebevoller gewesen, als sie es ihm sagte. Und er hatte eingewilligt – welchen Zweck hatte es auch, sich zu widersetzen? Er hatte, Gott weiß, nie gewünscht, sie in irgend etwas zu hindern! Und der junge Mann schien ganz wahnsinnig verliebt zu sein. Ohne Zweifel war sie in trostloser Stimmung, und sie war jung, unerhört jung. Doch wenn er widersprach, wußte er nicht, was sie tun würde; sie käme womöglich auf den Gedanken, einen Beruf zu wählen, Ärztin zu werden oder irgend so etwas Unsinniges. Sie hatte kein Talent zum Malen, Schreiben oder zur Musik, seiner Ansicht nach die einzig passende Beschäftigung für unverheiratete Frauen, wenn sie heutzutage schon etwas tun mußten. Im ganzen genommen war sie verheiratet sicherer, denn er sah nur zu gut, wie fieberhaft und ruhelos sie zu Haus war. Auch Annette war dafür gewesen – Annette, die gedeckt war durch seine Weigerung zu erfahren, was sie unternahm, wenn sie etwas unternahm. »Laß sie den jungen Mann heiraten«, hatte sie gesagt, »er ist ein netter Mensch – und gar nicht ein solcher Brausewind, wie es den Anschein hat.« Wo sie ihre Ausdrücke her hatte, wußte er nicht – aber ihre Ansicht milderte seine Zweifel. Seine Frau hatte, wie ihr Benehmen auch sein mochte, einen klaren Blick und eine beinah bedrückende Dosis gesunden Menschenverstands. Er hatte fünfzigtausend für Fleur ausgesetzt und dafür gesorgt, daß nichts seine Bestimmungen durchkreuzen konnte, falls es nicht gut ablief. Konnte es denn gut ablaufen? Sie war über die Sache mit dem andern jungen Mann nicht hinweggekommen – das wußte er. Sie wollten ihre Flitterwochen in Spanien verleben. Er würde noch einsamer sein, wenn sie fort war. Aber später, vielleicht, würde sie vergessen und sich ihm wieder zuwenden!

Winifreds Stimme unterbrach seine Träumerei.

»Was! Nicht zu glauben – June!«

Da, in einem Djibbah – was für Sachen sie trug! –, das Haar unter einem Stirnband hervorquellend, sah Soames seine Kusine und Fleur auf sie zugehen, sie zu begrüßen. Dann gingen die beiden zusammen auf die Treppe hinaus. »Wirklich«, sagte Winifred, »sie macht die unmöglichsten Dinge! Denke dir, daß sie kommen würde!«

»Weshalb hast du sie eingeladen?« murmelte Soames.

»Weil ich sicher glaubte, daß sie nicht kommen würde.«

Winifred hatte vergessen, daß sich in der Handlungsweise der Hauptzug des Charakters zeigt, oder mit andern Worten, sich nicht klargemacht, daß Fleur nun eine »lahme Ente« war.

Als sie die Einladung erhielt, hatte June zuerst gedacht: »Nicht um die Welt würde ich zu ihnen gehen!« und war dann eines Morgens aus einem Traum von Fleur erwacht, die ihr von einem Schiff aus mit einer wilden unglücklichen Gebärde zuwinkte. Da war sie andern Sinnes geworden.

Als Fleur auf sie zukam und sagte: »Komm doch mit herauf, während ich mich umkleide«, war sie mit ihr die Treppe hinaufgegangen. Das Mädchen führte sie in Imogens altes Schlafzimmer, das für sie bereit stand.

June setzte sich aufs Bett, dünn und aufrecht, wie ein kleiner Kobold, so dürr und gelb. Fleur schloß die Tür zu.

Dann stand sie vor ihr, nachdem sie das Brautkleid abgelegt. Wie hübsch sie war!

»Vermutlich hältst du mich für eine Törin«, sagte sie mit bebenden Lippen, »wo es doch hätte Jon sein sollen. Aber was tut es? Michael begehrt mich, und mir ist alles einerlei. Ich komme dadurch von Hause fort.« Sie tauchte die Hand in die Spitzen auf ihrer Brust und holte einen Brief hervor: »Jon schrieb mir das.«

June las: »Lake Okanagen, Britisch-Kolumbia. Ich komme nicht nach England zurück. Mögest du immer glücklich sein. Jon.«

»Sie hat sich gesichert, wie du siehst«, sagte Fleur.

June gab ihr den Brief zurück.

»Da tust du Irene unrecht«, sagte sie, »sie stellte es Jon immer frei, zu tun, was er wollte.«

Fleur lächelte bitter. »Sage mir, hat sie dir dein Leben nicht auch verdorben?«

June blickte auf. »Niemand kann ein Leben verderben, meine Liebe. Das ist Unsinn. Die Dinge geschehen, aber wir kommen darüber hinweg.«

Mit Schrecken sah sie das Mädchen auf die Knie sinken und das Gesicht in dem Djibbah vergraben. Ein ersticktes Schluchzen traf Junes Ohr.

»Nicht doch – nicht doch«, murmelte sie.

Aber die Spitze von Fleurs Kinn drückte sich immer fester in ihren Schenkel, und ihr Schluchzen klang furchtbar.

Ja, das mußte kommen. Ihr würde besser sein danach! June strich das kurze Haar von dem ebenmäßigen Kopf zurück, und all die verstreute Mütterlichkeit in ihr sammelte sich und strömte durch ihre Fingerspitzen in des Mädchens Herz.

»Laß dich nicht niederdrücken, meine Liebe«, sagte sie endlich. »Wir können das Leben nicht kontrollieren, aber wir können dagegen ankämpfen. Nimm die Dinge von ihrer besten Seite. Ich habe es auch gemußt. Ich konnte nicht los davon wie du, und ich weinte, wie du jetzt weinst. Und sieh mich an!«

Fleur hob den Kopf, ein Seufzer verschmolz plötzlich mit einem leisen erstickten Lachen. Es war aber auch ein magerer, ziemlich wilder und wüster kleiner Kobold, den sie da vor sich sah, doch er hatte tapfere Augen.

»Schon gut!« sagte sie. »Es tut mir leid, aber ich werde ihn vergessen, denke ich, wenn ich schnell und weit genug fliehe.« Dann erhob sie sich und ging zum Waschtisch hinüber.

June sah zu, wie sie die Spuren der Erregung mit kaltem Wasser entfernte. Außer einer leisen, kleidsamen Röte war nichts zurückgeblieben, als sie vor dem Spiegel stand. June stand vom Bett auf und nahm ein Nadelkissen in die Hand. Zwei Nadeln an der falschen Stelle festzustecken war alles, womit sie ihre Teilnahme beweisen konnte.

»Gib mir einen Kuß«, sagte sie, als Fleur fertig war, und grub ihr Kinn in die warme Wange des Mädchens.

»Ich muß ein paar Züge rauchen«, sagte Fleur, »warte nicht auf mich.«

June verließ sie auf dem Bett sitzend, mit einer Zigarette zwischen den Lippen, die Augen halb geschlossen, und ging hinunter. In der Tür des Wohnzimmers stand Soames, als beunruhigte ihn die Saumseligkeit seiner Tochter. June warf den Kopf zurück und ging weiter auf den nächsten Treppenabsatz zu, wo ihre Kusine Francie stand.

»Siehst du!« sagte June, mit dem Kinn auf Soames weisend. »Der Mann ist vom Schicksal verfolgt!«

»Wie meinst du das?« fragte Francie.

June antwortete ihr nicht. »Ich werde nicht warten, sie abfahren zu sehen«, sagte sie. »Leb wohl!«

»Leb wohl!« erwiderte Francie, und ihre Augen, von einem keltischen Grau, starrten sie an. Diese alte Fehde! Wirklich, es war ganz romantisch!

Soames, der an die Treppe kam, sah June fortgehen und atmete befriedigt auf. Weshalb kam Fleur nicht? Sie würden den Zug versäumen. Dieser Zug würde sie von ihm fortführen, und doch konnte er nicht anders als sich beunruhigen bei dem Gedanken, daß sie ihn nicht erreichen würden. Und dann kam sie, kam in ihrem braunen Kleid und der schwarzen Samtmütze heruntergelaufen und ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Er sah sie ihre Mutter küssen, ihre Tante, Vals Frau, Imogen und dann zurückkommen, flink und hübsch wie immer. Wie würde sie zu ihm sein in diesem letzten Augenblick ihrer Mädchenzeit? Es war nicht viel zu hoffen für ihn!

Ihre Lippen drückten sich mitten auf seine Wange.

»Papachen!« sagte sie, und fort war sie. Papachen! Seit Jahren hatte sie ihn nicht so genannt. Er schöpfte tief Atem und folgte ihnen langsam hinunter. Dort hatten sie noch all die Torheiten mit Konfetti und allem übrigen zu überstehen. Aber er hätte gern ihr Lächeln aufgefangen, wenn sie sich herauslehnte, wobei man sie sicher mit dem Schuh am Auge treffen würde, wenn man sich nicht vorsah. Die Stimme des jungen Mont sagte ungestüm in sein Ohr:

»Leben Sie wohl, Sir, und vielen Dank! Ich bin so schrecklich verliebt!«

»Leben Sie wohl«, erwiderte er, »versäumen Sie Ihren Zug nicht.«

Er stand auf der drittletzten Stufe, von wo aus er über die Köpfe hinwegsehen konnte – über die albernen Köpfe und Hüte hinweg. Sie saßen jetzt im Wagen, und da kam dieses Zeug, ein Konfettiregen, und auch der Schuh. Es wallte etwas auf in Soames, und – er wußte nicht – er konnte nichts sehen!


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