Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Die fixe Idee

Die »fixe Idee«, die so manchem Polizisten mehr zu schaffen gemacht hat als irgendeine andere Form menschlicher Wirrungen, hat nie mehr Lebenskraft und Erfolg, als wenn sie die leidenschaftliche Gestalt der Liebe annimmt. Auf Hecken und Gräben, auf Türen, auf Menschen ohne fixe oder andere Ideen, auf Kinderwagen und ihren Inhalt, selbst auf andere an dieser bösen Krankheit Leidende – nimmt die fixe Idee der Liebe keine Rücksicht. Sie hat die Augen nach innen auf das eigene Licht gerichtet und denkt an keinen andern Stern. Alle, die von der fixen Idee beherrscht sind, daß menschliches Glück von ihrer Kunst abhängt, von der Vivisektion ihrer Hunde, von ihrem Haß auf die Ausländer, von dem Zahlen hoher Steuern, davon, Minister zu bleiben, Räder sich drehen zu lassen, ihre Nachbarn daran zu hindern, sich scheiden zu lassen, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, von griechischen Stammwörtern, Kirchendogmen, Paradoxen und Überlegenheit allen andern gegenüber, nebst allen andern Formen der Egomanie – sind nichts im Vergleich zu denen, deren fixe Idee der Besitz einer bestimmten männlichen oder weiblichen Person ist. Und obwohl Fleur in diesen kühlen Sommertagen das zerfahrene Leben einer kleinen Forsyte führte, deren Kleider bezahlt sind, und deren Tätigkeit Vergnügen ist, war sie all diesem gegenüber vollständig gleichgültig. Sie wünschte und wünschte sich den Mond, der am kalten Himmel über dem Fluß oder dem Greenpark segelte, wenn sie zur Stadt kam. Sie bewahrte sogar Jons Brief, in rosa Seide eingeschlagen, an ihrem Herzen, so daß es in einer Zeit, wo Korsette so niedrig waren, Gefühle so verachtet und Busen so aus der Mode, vielleicht keinen größeren Beweis für die Festigkeit ihrer fixen Idee geben konnte.

Nachdem sie von dem Tode seines Vaters gehört, schrieb sie an Jon und erhielt seine Antwort drei Tage später bei ihrer Rückkehr von einem Picknick auf dem Fluß. Es war sein erster Brief seit ihrer Begegnung bei June. Sie öffnete ihn mit Besorgnis und las ihn mit Bangigkeit.

»Seit ich Dich sah, habe ich alles über die Vergangenheit erfahren. Ich möchte es Dir nicht sagen – ich glaube, Du wußtest es, als wir uns bei June trafen. Sie sagt, daß es so ist. Wenn Du es wußtest, Fleur, hättest Du es mir sagen müssen. Ich vermute, daß Du nur erfuhrst, was Deinen Vater betrifft. Ich erfuhr, was meine Mutter betrifft. Es ist furchtbar. Jetzt, wo sie so traurig ist, kann ich nichts tun, das sie noch mehr verletzen könnte. Natürlich sehne ich mich den ganzen Tag nach Dir, aber ich glaube jetzt nicht mehr, daß wir je zusammenkommen werden – etwas zu Ernstes treibt uns auseinander.«

So! Ihre List war also entdeckt worden. Aber Jon – das fühlte sie – hatte es ihr verziehen. Nur was er von seiner Mutter sagte, verursachte ihr solch ein Herzklopfen und diese Schwäche in den Beinen.

Ihr erster Impuls war, ihm zu antworten – ihr zweiter, es nicht zu tun. Diese Impulse wiederholten sich fortwährend in den folgenden Tagen, wo die Verzweiflung in ihr wuchs. Sie war nicht umsonst das Kind ihres Vaters. Die Hartnäckigkeit, die Soames zu etwas gemacht und soviel Unheil über ihn gebracht hatte, war auch ihr Rückhalt, durch französische Grazie und Gewandtheit verbrämt und verziert. Instinktiv konjugierte sie das Verbum »haben« stets mit dem Pronomen »ich«. Sie verbarg jedoch alle Zeichen ihrer wachsenden Verzweiflung und nahm an allen Flußvergnügungen teil, die Wind und Regen eines unangenehmen Juli erlaubten, als hätte sie keine Sorge in der Welt; und kein »neugebackener Baronet« vernachlässigte das Geschäft eines Verlegers regelmäßiger als ihr ständiger Begleiter Michael Mont.

Soames war sie ein Rätsel. Ihn täuschte beinah ihre sorglose Heiterkeit. Beinahe – weil es ihm nicht entging, daß ihre Augen oft ins Leere blickten und das Licht aus ihrem Schlafzimmerfenster bis spät in die Nacht hinein leuchtete. Was dachte und grübelte sie in den kurzen Stunden, wo sie hätte schlafen müssen? Aber er wagte nicht zu fragen, was sie im Sinne hatte; und seit dem einen kurzen Gespräch im Billardzimmer sagte sie ihm nichts.

In dieser Zeit verschlossenen Schweigens kam zufällig eine Einladung Winifreds zum Lunch und danach zu einem »höchst amüsanten« kleinen Stück, » The Beggars Opera«, mit der Aufforderung, noch einen Herrn mitzubringen, damit sie vier wären. Soames, dessen Standpunkt den Theatern gegenüber war, in keins zu gehen, nahm sie an, weil Fleurs Standpunkt war, in alle zu gehen. Sie fuhren im Auto hin und nahmen Michael Mont mit, der im siebenten Himmel war und von Winifred »sehr amüsant« gefunden wurde. Die Oper verwirrte Soames. Die Leute waren sehr unangenehm und das ganze Ding sehr zynisch. Winifred war »überwältigt« von den Kleidern. Auch die Musik mißfiel ihr nicht. Michael war entzückt von allem. Und alle drei hätten gern gewußt, wie Fleur darüber dachte. Aber Fleur dachte gar nichts darüber. Ihre fixe Idee stand auf der Bühne und sang mit Polly Peachum, mimte mit Filch, tanzte mit Jenny Diver, posierte mit Lucy Lockit, küßte, tollte und war zärtlich mit Macheath. Ihre Lippen lächelten wohl, ihre Hände applaudierten, aber das komische alte Meisterstück machte nicht mehr Eindruck auf sie, als wenn es sentimental gewesen wäre wie eine moderne »Revue«. Als sie in das Auto stiegen, um nach Haus zu fahren, schmerzte es sie, daß nicht Jon anstatt Michael Monts neben ihr saß. Als bei einem Stoß der Arm des jungen Mannes wie zufällig den ihren berührte, dachte sie nur: »Wenn das doch Jons Arm wäre!« Als seine muntere Stimme, durch ihre Nähe gemildert, in dem Geräusch, das das Auto verursachte, etwas murmelte, lächelte sie und antwortete, dachte aber dabei: »Wenn das doch Jons Stimme wäre!« Und als er sagte: »Fleur, Sie sehen aus wie ein Engel in dem Kleide!«, erwiderte sie: »Ach, gefällt es Ihnen?«, während sie dachte: »Wenn doch Jon es sehen könnte!«

Während dieser Fahrt faßte sie einen Entschluß. Sie wollte nach Robin Hill hinaus und ihn sehen – allein; sie wollte das Auto nehmen, ohne ihm oder ihrem Vater vorher etwas zu sagen. Neun Tage waren seit dem Brief vergangen, und sie vermochte nicht länger zu warten. Am Montag wollte sie fahren! Der Entschluß brachte sie Mont gegenüber in gute Stimmung. Da sie sich auf etwas freuen durfte, konnte sie sich's leisten, zu dulden und zu antworten. Mochte er zu Tisch dableiben, um sie werben wie gewöhnlich, mit ihr tanzen, ihr die Hand drücken, seufzen – tun, was er wollte. Er war ihr nur lästig, wenn er sie in ihrer fixen Idee störte. Er tat ihr sogar leid, soweit es ihr gerade jetzt möglich war, Mitleid mit jemand außer sich selbst zu haben. Bei Tisch sprach er lebhafter als gewöhnlich über das »Ende parlamentarischer Korruption«, wie er es nannte – sie achtete wenig darauf, aber ihr Vater mit dem Lächeln, das Opposition, wenn nicht gar Zorn bedeutete, schien desto aufmerksamer zuzuhören.

»Die jüngere Generation denkt nicht wie Sie, Sir, nicht wahr, Fleur?«

Fleur zuckte die Achseln – die jüngere Generation war nur Jon, und sie wußte nicht, was er dachte.

»Die jungen Leute werden in meinem Alter denken wie ich, Mr. Mont. Die menschliche Natur ändert sich nicht.«

»Das gebe ich zu, Sir, aber die Form der Gedanken ändert sich mit der Zeit. Das Verfolgen selbstsüchtiger Interessen ist eine Gedankenform, die aufhört.«

»So! Die Wahrnehmung seiner eigenen Angelegenheiten ist nicht eine Gedankenform, Mr. Mont, sondern ein Instinkt.«

Ja, wenn es sich um Jons Angelegenheiten handelte.

»Aber was sind eigene Angelegenheiten, Sir? Das ist die Sache. Jedermanns Angelegenheiten werden schließlich eigene Angelegenheiten. Nicht wahr, Fleur?«

Fleur lächelte nur.

»Wenn nicht«, fügte Mont hinzu, »fließt Blut.«

»So haben die Leute seit undenklichen Zeiten gesprochen.«

»Aber Sie werden doch zugeben, daß der Sinn für Besitz im Aussterben ist?«

»Ich meine eher, er nimmt zu unter denen, die keinen haben.«

»Nun, sehen Sie mich an! Ich bin Erbe eines Fideikommisses. Ich will das Ding nicht; ich würde es morgen aufteilen.«

»Sie sind nicht verheiratet, und Sie wissen nicht, was Sie reden.«

Fleur sah die Augen des jungen Mannes kläglich auf sich gerichtet.

»Glauben Sie wirklich, daß eine Heirat –?« begann er.

»Die Gesellschaft ist auf Ehe aufgebaut«, kam es von den fest geschlossenen Lippen ihres Vaters, »auf Ehe und ihre Folgen. Wollen Sie damit aufräumen?«

Der junge Mann machte eine zerfahrene Gebärde. Unter dem elektrischen Licht in einer Alabasterampel herrschte Schweigen an dem Tisch, der mit dem Silber gedeckt war, das das Wappen der Forsytes – einen stehenden Fasan – trug. Und draußen dunkelte der Abend am Fluß mit seiner schwülen Feuchtigkeit und süßen Düften.

»Montag«, dachte Fleur, »Montag!«


 << zurück weiter >>