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Viertes Kapitel

Soames überlegt

Die Anzeige vom Tode seines Vetters Jolyon in der »Times« machte natürlich Eindruck auf Soames. So war der Mann also dahin! Es hatte nie eine Zeit im Leben der beiden gegeben, in der von Zuneigung zwischen ihnen die Rede gewesen. Das raschblütige Gefühl Haß war längst in Soames' Herz erloschen, und er hatte sich dagegen gewehrt, es wieder aufleben zu lassen, aber er sah in diesem frühen Tod gewissermaßen eine poetische Gerechtigkeit. Zwanzig Jahre hatte dieser Mann den Besitz seiner Frau und seines Hauses genossen – nun war er tot! Der Nachruf, der ein wenig später erschien, machte – seiner Meinung nach – ein wenig zuviel Wesens von Jolyon. Er sprach von »dem fleißigen und liebenswürdigen Maler, dessen Werke wir als typisch für die beste spätere Aquarellkunst der viktorianischen Zeit zu betrachten gewohnt waren«. Soames, der beinah mechanisch Mole, Morpin und Caswell Baye vorgezogen und immer die Nase gerümpft hatte, wenn er auf ein Bild seines Vetters gestoßen war, blätterte die »Times« mit geräuschvollem Knittern um. Er mußte an diesem Morgen in Forsyte-Angelegenheiten zur Stadt und merkte deutlich Gradmans Blick von der Seite über seine Brille hinweg. Den alten Buchhalter umgab eine Aura teilnahmsvollen Beileids. Er roch förmlich nach alten Tagen. Man konnte ihn beinah denken hören: »Mr. Jolyon, ja-a – gerade in meinem Alter, und tot – du liebe Zeit! Sie fühlt es sicher, kann man wohl sagen. Sie war eine sehr hübsche Frau. Fleisch ist Fleisch! Es steht ein Nachruf über ihn in der Zeitung. Denken Sie nur!« Die Atmosphäre um ihn trieb Soames tatsächlich dazu, einige Pachtverträge und Änderungen mit ausnahmsweiser Schnelligkeit zu erledigen.

»Und das Vermächtnis für Miß Fleur, Mr. Soames?«

»Ich habe mir das überlegt«, erwiderte Soames kurz.

»Ah! Das freut mich. Ich fand, Sie waren ein wenig übereilt. Die Zeiten ändern sich.«

Wie dieser Tod auf Fleur wirken würde, begann Soames zu beunruhigen. Er war nicht sicher, ob sie etwas davon wußte – sie sah selten in die Zeitung, niemals las sie die Geburts-, Heirats- und Todesanzeigen.

Er beeilte sich mit seinen Angelegenheiten und ging zum Lunch in die Green Street. Winifred war beinah traurig. Jack Cardigan hatte sich irgend etwas gebrochen, wie man glaubte, und würde einige Zeit nicht gut »in Form« sein. Sie konnte sich an den Gedanken nicht gewöhnen.

»Ist Profond eigentlich abgereist?« sagte er plötzlich.

»Er ist fort«, erwiderte Winifred, »aber wo – weiß ich nicht.«

Ja, so war es immer – unmöglich, etwas zu sagen! Nicht, daß er es wissen wollte. Briefe von Annette kamen aus Dieppe, wo sie mit ihrer Mutter war.

»Du hast wohl von Jolyons Tod gelesen?«

»Ja«, sagte Winifred. »Es tut mir leid – seiner Kinder wegen. Er war sehr liebenswürdig.« Soames ließ einen sonderbaren Laut hören. Eine Ahnung der alten, tiefen Wahrheit, daß Menschen in dieser Welt eher nach ihrem Wesen beurteilt werden als nach ihrem Tun, dämmerte in ihm und rüttelte ihn in tiefster Seele auf.

»Ich weiß, diese Ansicht war allgemein«, murmelte er.

»Man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, da er jetzt tot ist.«

»Ich hätte ihm gern früher Gerechtigkeit widerfahren lassen«. sagte Soames, »aber ich hatte nie Gelegenheit dazu. Hast du einen ›Adelsalmanach‹ bei der Hand?«

»Ja, dort in der untersten Reihe.«

Soames nahm das dicke rote Buch heraus und blätterte darin. »Mont – Sir Lawrence, 9. Baronet, cr. 1620, Sohn Geoffreys, 8. Baronet und Lavinias, Tochter des Sir Charles Muskham, Baronet, Muskham Hall, Shropshire; verehelicht 1890 mit Emily, Tochter von Conwey Charwell Esq. aus Candaford Grange, ein Sohn: Erbe Michael Conwey, geb. 1895; zwei Töchter. Wohnort: Lippinghall Manor, Folwell, Buckinghamshire. Klubs: Snooks, Kaffeehaus: Aeroplan. Siehe Bidlicott.«

»Hm!« sagte er. »Hast du jemals einen Verleger gekannt?«

»Onkel Timothy!«

»Einen lebenden, meine ich.«

»Monty kannte einen in seinem Klub. Er brachte ihn einmal zum Essen mit. Monty dachte immer daran, ein Buch darüber zu schreiben, weißt du, wie man auf der Rennbahn Geld machen könnte. Er versuchte den Mann dafür zu interessieren.«

»Nun, und?«

»Er ließ ihn auf ein Pferd wetten – mit zweitausend. Wir sahen ihn nie wieder. Er war ein ganz gewandter Mann, wenn ich mich recht erinnere.«

»Gewann es?«

»Nein, es kam als letztes, glaube ich. Du weißt, Monty war wirklich ganz klug in seiner Art.«

»Wirklich?« sagte Soames. »Kannst du irgendeine Beziehung zwischen einem ›neugebackenen Baronet‹ und einem Verleger sehen?«

»Die Leute unternehmen heutzutage alles mögliche«, erwiderte Winifred. »Niemand scheint jetzt mehr müßig zu gehen – so anders als in unserer Zeit. Nichts zu tun, war damals das übliche. Aber ich glaube, das kommt wieder.«

»Dieser junge Mont, von dem ich spreche, ist sehr verliebt in Fleur. Wenn das der andern Geschichte ein Ende machen könnte, würde ich ihn ermutigen.«

»Hat er Stil?« fragte Winifred.

»Er ist keine Schönheit, ganz angenehm, ein wenig zerfahren. Er wird ziemlich viel Land erben, glaube ich. Er scheint wirklich an ihr zu hängen. Aber ich weiß nicht.«

»Nein«, murmelte Winifred, »es ist sehr schwer. Ich fand es immer am besten, gar nichts zu tun. Es ist eine langweilige Sache mit Jack, wir werden jetzt wohl erst nach dem Bankfeiertag fortkommen. Aber ich werde in den Park gehen und die Leute beobachten, die sind ja immer amüsant.«

»Wenn ich du wäre«, sagte Soames, »ich hätte ein kleines Landhaus und ginge Feiertagen und Streiks aus dem Wege, wenn es mir beliebt.«

»Das Landleben langweilt mich«, erwiderte Winifred, »und ich fand den Eisenbahnerstreik ganz spannend.«

Winifred hatte immer für kaltblütig gegolten.

Soames verabschiedete sich. Den ganzen Weg nach Reading hinunter überlegte er, ob er Fleur etwas vom Tode Jolyons, dem Vater des Knaben, sagen sollte. Es änderte die Lage zwar nicht, außer daß er jetzt unabhängig sein und nur dem Widerstand seiner Mutter zu begegnen haben würde. Ohne Zweifel würde er zu einer Menge Geld und vielleicht in den Besitz des Hauses kommen – des Hauses, das für Irene und ihn selbst gebaut worden war –, des Hauses, dessen Baumeister seinen häuslichen Ruin herbeigeführt hatte. Seine Tochter – Herrin dieses Hauses! Das wäre poetische Gerechtigkeit! Soames lachte auf, es war ein leises, unfrohes Lachen. Er hatte das Haus dazu bestimmt, seine mißglückte Ehe wiederherzustellen, es sich als Wohnsitz seiner Nachkommen gedacht, wenn er Irene dazu hätte bewegen können, ihm einen zu geben! Ihr Sohn und Fleur! Ihre Kinder würden gewissermaßen Sprößlinge der Vereinigung zwischen ihr und ihm sein!

Das Theatralische dieses Gedankens war seinem nüchternen Sinn zuwider. Und doch – wäre es der leichteste und vorteilhafteste Weg aus dem Irrsal, wo Jolyon jetzt tot war.

Die Vereinigung von zwei Forsytevermögen hatte einen gewissen Reiz. Und sie – Irene – würde noch einmal mit ihm verbunden sein. Unsinn! Absurd! Er schlug sich diese Idee aus dem Kopf.

Als er zu Haus ankam, hörte er das Aneinanderschlagen der Billardbälle, und durch das Fenster sah er den jungen Mont um den Tisch herumzappeln. Fleur stand mit dem Queue in die Seite gestemmt daneben und beobachtete ihn mit einem Lächeln. Wie hübsch sie aussah! Kein Wunder, daß der junge Mann den Verstand verlor um ihretwillen. Ein Titel – Land! Land hatte nur einen geringen Wert heutzutage, ein Titel vielleicht noch weniger. Die alten Forsytes hatten Titel immer verachtet, die sie als etwas Rückständiges und Gekünsteltes ansahen, der Kosten nicht wert, die sie verursachten, und dazu hatten sie noch mit dem Hof zu tun. Sie alle hatten dieses Gefühl gehabt, wenn auch in verschiedenem Maßstabe, wie Soames sich erinnerte. Swithin hatte einmal in seinen ausschweifendsten Tagen einem Lever beigewohnt. Als er davon zurückgekommen war, hatte er gesagt, daß er nie wieder hingehen würde – es sei alles doch nur »Kinderei«. Man hatte ihn im Verdacht, in seinen Kniehosen zu stark ausgesehen zu haben. Soames erinnerte sich, wie seine eigene Mutter gewünscht hatte, vorgestellt zu werden, weil der Vorgang etwas so Vornehmes habe, und sein Vater sich mit ungewohnter Entschiedenheit widersetzt hatte. Was sollte ihr dieser eitle Tand – es sei nur Geld- und Zeitverschwendung, nicht der Mühe wert!

Der Instinkt, der das britische Volk zur Hauptmacht im Staate gemacht hatte, ein Gefühl, daß ihre eigene Welt gut genug und ein wenig besser war als irgendeine andere, weil sie eben ihre Welt war, hatte die alten Forsytes merkwürdig frei von allem überflüssigen »Firlefanz« gehalten. Soames' Generation, die selbstbewußter und ironischer veranlagt war, hatte der Gedanke an Swithins Kniehosen gerettet, während die dritte und vierte Generation, wie es ihm scheinen wollte, alles ins Lächerliche zog.

Jedoch war ja nichts Böses darin, daß der junge Mensch Erbe eines Titels und eines Landsitzes war – er konnte nichts dafür. Er trat still ein, als Mont eben einen Stoß verfehlte. Er sah die Augen des jungen Mannes auf Fleur geheftet, die jetzt an der Reihe war und sich vorbeugte, und die Anbetung darin rührte ihn beinah.

Sie zögerte, das Queue auf die Brücke ihrer schlanken Hand gestützt, und schüttelte ihren Schopf dunkeln, kastanienbraunen Haares.

»Es wird mir nie gelingen.«

»Auf gut Glück!«

»Gut denn!« Das Queue stieß, der Ball rollte. »Da!«

»Pech! Macht nichts!«

Dann sahen sie ihn, und Soames sagte:

»Ich werde für euch markieren.«

Er setzte sich müde und abgespannt auf den erhöhten Sitz unter der Tafel und studierte eifrig die beiden jungen Gesichter. Als das Spiel aus war, kam Mont zu ihm.

»Ich hab' mit dem Verlag schon angefangen, Sir. Ganz lustige Sache solch Geschäft, nicht? Ich glaube, Sie müssen ein ganz Teil menschlicher Naturen gesehen haben als Anwalt.«

»Jawohl.«

»Soll ich Ihnen sagen, was ich bemerkt habe? Die Menschen fangen es ganz falsch an, wenn sie weniger bieten, als sie geben können; sie sollten mehr bieten und dann heruntergehen.«

Soames zog die Brauen hoch.

»Gesetzt aber, das Mehr wird angenommen?«

»Das macht nichts«, sagte Mont; »es ist viel lohnender, einen Preis herabzusetzen, als ihn zu erhöhen. Sagen wir zum Beispiel, wir bieten einem Schriftsteller gute Bedingungen – so nimmt er sie natürlich an. Dann beginnen wir, finden, daß wir das Werk nicht mit einem anständigen Gewinn veröffentlichen können, und sagen es ihm. Er hat Vertrauen zu uns gefaßt, weil wir freigebig gewesen sind, und er ist wie ein Lamm und trägt es uns nicht nach. Bieten wir ihm aber von vornherein elende Bedingungen an, so geht er darauf nicht ein, wir müssen ihm entgegenkommen, um ihn willfährig zu machen, und er hält uns dazu noch für abgefeimte Blutsauger.«

»Versuchen Sie einmal Bilder nach diesem System zu kaufen«, sagte Soames, »ein Anerbieten, das angenommen wird, ist ein Kontrakt – haben Sie das noch nicht gelernt?«

Der junge Mann wandte seinen Kopf nach dem Fenster, wo Fleur stand.

»Nein«, sagte er, »ich wünschte, ich hätte es. Dann noch eins. Man muß die Leute immer den Kauf rückgängig machen lassen, wenn sie ihn rückgängig zu machen wünschen.«

»Als Reklame?« sagte Soames trocken.

»Es ist natürlich eine, aber ich meinte eigentlich grundsätzlich.«

»Arbeitet Ihre Firma nach diesen Grundsätzen?«

»Noch nicht«, sagte Mont, »aber es wird dazu kommen.«

»Und sie wird dabei zum Teufel gehen.«

»Nein, wirklich nicht, Sir. Ich mache eine Menge Beobachtungen, und sie alle bestätigen meine Theorie. Die menschliche Natur wird bei Geschäften beständig unterschätzt, die Menschen kommen dadurch um ein gut Teil Vergnügen und Nutzen. Natürlich muß man vollkommen unbefangen und offen sein, aber das ist ganz leicht, wenn man so fühlt. Je humaner und freigebiger man ist, desto bessere Chancen hat man im Geschäft.«

Soames erhob sich.

»Sind Sie Teilhaber?«

»Erst in sechs Monaten.«

»Der Rest der Firma sollte sich beeilen und sich zurückziehen.« Mont lachte.

»Sie werden schon sehen«, sagte er. »Es ist eine große Veränderung im Gange. Das Besitzprinzip hat Konkurs gemacht.«

»Was?« sagte Soames.

»Das Haus ist zu vermieten! Gute Nacht, Sir, ich gehe jetzt.«

Soames beobachtete, wie seine Tochter ihm die Hand gab, sah sie zusammenzucken, als er sie drückte, und hörte deutlich den Seufzer des jungen Mannes beim Hinausgehen. Dann kam sie vom Fenster auf ihn zu, indem sie mit dem Finger an dem Mahagonirand des Billards entlang strich. Soames merkte, daß sie ihn etwas fragen wollte. Ihr Finger tastete um das letzte Loch, und sie blickte auf.

»Hast du irgend etwas getan, um Jon vom Schreiben an mich abzuhalten, Vater?«

Soames schüttelte den Kopf.

»Hast du es denn nicht gesehen?« sagte er. »Sein Vater starb gerade heute vor einer Woche.«

»Ach!«

In ihrem erschreckten, verzerrten Gesicht sah er, wie sie mit der Furcht vor den Folgen kämpfte, die es für sie haben könnte.

»Armer Jon! Warum sagtest du es mir nicht, Vater?«

»Ich weiß nie –« jagte Soames langsam, »du hast kein Vertrauen zu mir.«

»Ich hätte es, wenn du mir helfen wolltest, mein Lieber.«

»Vielleicht werde ich es.«

Fleur preßte die Hände zusammen. »Ach! Du Lieber – wenn man so schrecklich gern etwas möchte, denkt man nicht an andere. Sei mir nicht böse.«

Soames streckte die Hand aus, wie um eine Verunglimpfung abzuwehren.

»Ich brüte darüber«, sagte er. Was in aller Welt trieb ihn nur dazu, ein solches Wort zu gebrauchen! »Hat der junge Mont dich wieder gequält?«

Fleur lächelte. »Ach! Michael! Er quält immer, aber er ist so ein guter Kerl – ich habe nichts gegen ihn.«

»Ich bin müde«, sagte Soames, »ich werde vor Tisch ein wenig schlafen.« Er ging hinauf in die Bildergalerie, legte sich dort auf den Diwan und schloß die Augen. Eine furchtbare Verantwortung mit diesem Mädel – dessen Mutter eine – ah! was war sie eigentlich? Eine furchtbare Verantwortung! Ihr helfen – wie konnte er ihr helfen? Er konnte die Tatsache, daß er ihr Vater war, nicht ändern. Oder daß Irene –! Was hatte der junge Mont doch gesagt – irgendeinen Unsinn über das Besitzprinzip – Konkurs machen – vermieten. Albern!

Die schwüle Luft mit dem Duft von Wiesenkraut, von Fluß und Rosen umfing seine Sinne und schläferte ihn ein.


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