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Dritter Teil

Erstes Kapitel

Der alte Jolyon geht um

Ein zwiefacher Impuls hatte Jolyon getrieben, beim Frühstück zu seiner Frau zu sagen: »Fahren wir zum Kricketturnier zu ›Lords‹.«

Er »brauchte« etwas, die Angst niederzuhalten, in der sie beide während der sechzig Stunden gelebt, seit Jon ihnen Fleur gebracht hatte. »Brauchte« auch etwas, die Pein der Erinnerung zu mildern, wo er wußte, daß er sie jeden Tag verlieren konnte! Vor achtundfünfzig Jahren war Jolyon Eton-Schüler geworden, denn es war eine Grille des alten Jolyon gewesen, ihm eine vornehme und möglichst kostspielige Erziehung geben zu lassen. Jahr um Jahr hatte er »Lords« Kricketplatz mit seinem Vater besucht, der seine Jugend in den achtzehn-zwanziger Jahren verlebt hatte, ohne es zu einem vollendeten Kricketspieler gebracht zu haben. Der alte Jolyon sprach ganz unbefangen von Schlägen, Stößen, halben und dreiviertel Bällen, und der junge Jolyon hatte in der aufgeblasenen Überhebung der Jugend davor gezittert, daß jemand es hören könnte. Nur wenn es sich um das hochwichtige Kricketspiel handelte, war er nervös gewesen, denn sein Vater – der damals einen Backenbart trug – war ihm immer als » beau idéal« erschienen. Obwohl er selbst keine vornehme Erziehung genossen, hatten sein natürlicher Stolz und sein Gleichmaß ihn vor Mißgriffen Ungebildeter bewahrt. Wie köstlich war es, nachdem man im Zylinder bei erstickender Hitze an den Spielen teilgenommen, mit seinem Vater in einer Droschke nach Haus zu fahren, zu baden, sich umzukleiden und dann weiter in den »Disunion«-Klub, dort Breitling, Kotelett und Torte zu essen und darauf – als zwei »Stutzer«, ein alter und ein junger, mit lavendelfarbenen Glacéhandschuhen – in die Oper oder ins Schauspiel zu gehen. Und am Sonntag, wenn das Turnier vorüber und der Zylinderhut gehörig zerbeult war, mit seinem Vater in einer besonderen Droschke ins »Krone und Zepter« mit der Terrasse über dem Fluß zu fahren – damals in den goldenen sechziger Jahren, als die Welt noch einfach war, die Dandys blendeten, die Demokratie noch nicht existierte und die Bücher von Whyte Melville einander dick und rasch folgten.

Eine Generation später hatte Jolyon mit seinem eigenen Sohn, Jolly, mit Kornblumen im Knopfloch, wie es in Harrow üblich war – der alte Jolyon hatte seinen Enkel auf eine etwas weniger kostspielige Art studieren lassen –, nochmals den Eifer und die leidenschaftlichen Gegensätze von heute kennengelernt und war dann zu der Kühle und den Erdbeerbeeten von Robin Hill und seinem Billardspiel nach Tisch zurückgekehrt, wobei sein Junge die herzzerbrechendsten Stöße machte und versuchte, gelassen und erwachsen auszusehen. An jenen beiden Tagen im Jahr war er mit seinem Sohn allein auf der Welt gewesen, jeder auf seiner Seite – und die Demokratie eben geboren!

Und so hatte er nun einen grauen Zylinder ausgegraben, sich von Irene ein winziges Stückchen blauen Bandes geliehen und, vorsichtig jede Erregung meidend, im Auto, Zug und Taxameter »Lords« Kricketplatz erreicht. Dort hatte er neben ihr in einem ecrufarbenen Kleide mit schmalen schwarzen Säumen das Spiel beobachtet und gespürt, wie die alten Gefühle sich in ihm regten.

Als Soames vorüberkam, war ihm der Tag verdorben. Irenens Gesicht verzerrte sich durch ein Zusammenpressen der Lippen. Es hatte keinen Zweck, länger hier zu sitzen, wo ein Vorübergehen Soames' oder vielleicht seiner Tochter sich wiederholen könnte wie ein periodischer Dezimalbruch. Und er sagte:

»Wenn du genug davon hast, meine Liebe, laß uns gehen!«

An diesem Abend fühlte Jolyon sich erschöpft. Er wollte nicht, daß sie ihn so sah, wartete daher, bis sie zu spielen begann, um sich in das kleine Lesezimmer zu stehlen. Er öffnete das lange Fenster, um Luft hereinzulassen, und die Tür, um ihre Musik hereinströmen zu hören, setzte sich dann in den alten Lehnstuhl seines Vaters, schloß die Augen und lehnte den Kopf an das abgenutzte braune Leder. Wie diese Passage aus César Francks Sonate war sein Leben mit ihr gewesen, ein göttlicher dritter Satz. Und nun diese Sache mit Jon – eine böse Geschichte. An der Grenze des Unbewußten, war er sich kaum klar darüber, ob er im Schlaf den Duft einer Zigarre roch und seinen Vater in der Dunkelheit vor seinen geschlossenen Augen sah. Die Gestalt kam, ging und kam wieder, als sähe er in dem Stuhl, in dem er selber saß, seinen Vater im schwarzen Rock, ein Bein über das andere geschlagen, die Brille zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, als sähe er den weißen Schnurrbart und die tiefliegenden Augen unter der Wölbung der Stirn emporblicken, die seinen suchen und den Versuch machen, zu sprechen: »Bist du dir klar darüber, Jo? Die Entscheidung mußt du treffen. Sie ist nur eine Frau!« Ach! Wie gut er diese Worte seines Vaters kannte, wie das ganze viktorianische Zeitalter damit wieder auflebte! Und seine Antwort: »Nein, ich fürchtete mich – fürchtete sie und Jon und mich selbst zu verletzen. Ich habe ein Herz, ich fürchtete mich.« Aber die alten Augen, so viel älter, so viel jünger als die seinen, ließen nicht ab: »Es ist deine Frau, dein Sohn, deine Vergangenheit! Nimm die Sache in die Hand, mein Junge!« War es eine Botschaft von einem wandernden Geist oder nur die Seele seines Vaters, die in ihm fortlebte? Und wieder kam der Duft von Zigarrenrauch – von dem alten, verräucherten Leder. Nun, er würde es in die Hand nehmen, an Jon schreiben und die ganze Sache schwarz auf weiß auseinandersetzen! Und plötzlich atmete er mit Beschwer, mit einem Gefühl des Erstickens, als schwelle sein Herz. Er erhob sich und ging an die Luft hinaus. Die Sterne waren sehr hell. Er ging an der Terrasse entlang, um das Haus herum, bis er durch das Fenster des Musikzimmers Irene am Flügel sehen konnte, wo das Lampenlicht auf ihr wie gepudertes Haar fiel; sie schien ganz in sich versunken, ihre dunkeln Augen starrten gerade vor sich hin, die Hände ruhten. »Sie denkt an Jon«, dachte er, »nur an Jon! Ich scheide völlig für sie aus – das ist ganz natürlich!«

Und vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, stahl er sich zurück. Am nächsten Tage, nach einer schlechten Nacht, machte er sich an die Arbeit. Er schrieb mit Beschwerde und vielen Streichungen.

»Mein liebster Junge!

Du bist alt genug, zu verstehen, wie sehr schwer es für Eltern ist, sich ihren Kindern ganz zu offenbaren. Namentlich, wenn sie – wie Deine Mutter und ich selbst – ihr Kind, dem sie etwas bekennen müssen, so völlig in ihr Herz geschlossen haben. Ich kann nicht sagen, daß wir uns bewußt sind, wirklich gesündigt zu haben – ich glaube, Menschen im gewöhnlichen Leben sind sich dessen sehr selten bewußt –, aber die meisten Leute werden sagen, daß wir es getan haben, jedenfalls hat unser Verhalten, mag es richtig gewesen sein oder nicht, gegen uns gesprochen. Die Wahrheit ist, mein Lieber, daß wir beide eine Vergangenheit haben, die Dich kennen zu lehren jetzt meine Aufgabe ist, weil sie so schmerzlich und tief Deine Zukunft berührt. Vor vielen, vielen Jahren, es war 1883, als sie erst zwanzig Jahre alt war, hatte Deine Mutter das große, schwere Mißgeschick, eine unglückliche Ehe einzugehen. Aber nicht mit mir, Jon. Ohne eigenes Geld zu besitzen und mit einer Stiefmutter – eng verwandt mit Jezebel –, fühlte sie sich sehr unglücklich in ihrem Elternhaus. Es war Fleurs Vater, den sie heiratete, mein Vetter Soames Forsyte. Er hatte sie sehr hartnäckig verfolgt und, man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, er empfand eine tiefe Liebe für sie. Innerhalb einer Woche wußte sie, welchen furchtbaren Mißgriff sie getan. Er war nicht schuld daran, ihr Mangel an Urteil ward – ihr Verhängnis.«

Soweit hatte Jolyon seine Ironie einigermaßen aufrechterhalten, doch jetzt riß sein Gegenstand ihn mit sich fort.

»Jon, ich möchte Dir erklären, wenn ich kann – es ist sehr schwer –, wie leicht eine unglückliche Ehe, wie diese, entstehen kann. Du wirst natürlich sagen: ›Wenn sie ihn nicht wirklich liebte, wie konnte sie ihn da nur heiraten?‹ Du hättest recht, wenn nicht eines oder zweierlei zu beachten wäre. Durch diesen ersten Mißgriff von ihr sind all der nachfolgende Kummer, Schmerz und die Tragödie entstanden, und daher muß ich es Dir erklären, wenn ich kann. Sieh, Jon, damals und selbst heutzutage – ich sehe trotz allen Geredes über Aufklärung nicht, wie es anders sein könnte – heirateten die meisten Mädchen in völliger Unwissenheit über die sexuelle Seite des Lebens. Selbst wenn sie wissen, was es bedeutet, haben sie doch keine Erfahrung. Das ist der Haken. Dieser tatsächliche Mangel an Erfahrung eben, welch buchstäbliches Wissen sie auch haben mögen, macht den ganzen Unterschied aus und verursacht allen Kummer. In unzähligen Ehen – und die Deiner Mutter war eine davon – wissen die Mädchen nicht wirklich, ob sie den Mann, den sie heiraten, lieben oder nicht; sie wissen es erst nach jenem Akt der Vereinigung, der die Ehe in Wahrheit zu einer solchen macht. In manchen, vielleicht in den zweifelhaftesten Fällen aber, und das war der Deiner Mutter, kommt es zur Enthüllung des Mißgriffs, zur Zerstörung einer Zuneigung, die vorher bestand. Es gibt nichts Tragischeres im Leben einer Frau, als eine solche Enthüllung, die täglich, nächtlich klarer wird. Roh empfindende und gedankenlose Menschen lachen wohl über solch einen Irrtum und sagen: ›Wieviel Lärm um nichts!‹ Beschränkte und selbstgefällige Menschen, die nur imstande sind, das Leben anderer nach ihrem eigenen zu beurteilen, werden diejenigen verdammen, die diesen tragischen Irrtum begehen, werden sie lebenslänglich zu dem Kerker verdammen, den sie für sich selbst gemacht. Du kennst den Spruch: ›Wie man sich bettet, so liegt man!‹ Es ist ein harter Spruch, ganz unwürdig eines Mannes oder einer Frau im besten Sinne des Wortes, und ich kann ihn nicht streng genug verurteilen. Ich war nicht, was man einen moralischen Menschen nennt, aber ich möchte Dir gegenüber nicht Worte gebrauchen, mein Lieber, die Dich veranlassen könnten, leichtfertig über Verpflichtungen und Verträge zu denken, die Du eingehst. Gott behüte! Aber mit den Erfahrungen eines Lebens hinter mir sage ich, daß diejenigen, die die Opfer dieses tragischen Irrtums verdammen, sie verdammen und keine Hand rühren, ihnen zu helfen, inhuman sind oder vielmehr es sein würden, wenn sie verstünden, was sie tun. Aber sie verstehen es nicht! Laß sie gehen! Sie sind für mich ebenso verfemt wie ich für sie. Ich mußte all dies sagen, weil ich Dich in die Lage versetzen wollte, Deine Mutter zu beurteilen, und Du sehr jung bist und ohne Erfahrung in bezug auf das, was Leben ist. Laß mich nun fortfahren mit der Geschichte. Nach drei Jahren angestrengten Bemühens, ihren Schauder zu unterdrücken – ich müßte eigentlich sagen, ihren Abscheu, das Wort ist nicht zu stark, denn Schauder wird unter solchen Umständen bald zum Abscheu –, drei Jahren eines Zustands, der für eine sensitive, Schönheit liebende Natur wie Deine Mutter eine Qual gewesen, Jon, begegnete sie einem jungen Mann, der sich in sie verliebte. Er war der Baumeister dieses Hauses, in dem wir jetzt leben, er hatte es für sie und Fleurs Vater gebaut, um darin zu wohnen, ein neues Gefängnis für sie an Stelle desjenigen, das sie in London mit ihm bewohnte. Vielleicht spielte diese Tatsache eine Rolle in dem, was nun kam. Jedenfalls aber verliebte sie sich auch in ihn. Ich weiß, daß es nicht notwendig ist, Dir zu erklären, daß man sich nicht gerade aussucht, in wen man sich verlieben will. Es kommt von selbst. Und so kam es auch hier. Ich kann mir den Kampf vorstellen – obwohl sie nie viel zu mir darüber sprach –, der damals in ihr entstand, weil sie streng erzogen und nicht leichtfertig in ihren Ansichten war –, durchaus nicht, Jon. Jedoch, dies war ein überwältigendes Gefühl, und es kam so, daß sie sich in Wirklichkeit liebten wie in Gedanken. Dann kam eine furchtbare Tragödie. Ich muß davon sprechen, weil Du, wenn ich es nicht tue, nie die wahre Situation verstehen würdest, die Du jetzt vor Dir sehen wirst. Der Mann, den sie geheiratet hatte – Soames Forsyte, der Vater Fleurs – machte eines Abends, als die Leidenschaft für diesen jungen Mann den höchsten Punkt erreicht hatte, zwangsweise wieder seine Rechte über sie geltend. Am nächsten Tage traf sie ihren Geliebten und sagte es ihm. Ob er Selbstmord beging, oder ob er in der Verzweiflung zufällig überfahren wurde, haben wir nie erfahren, aber das geschah. Denke Dir Deine Mutter, wie sie an dem Abend war, als sie von seinem Tode hörte. Ich sah sie zufällig. Dein Großvater schickte mich hin, ihr beizustehen, wenn ich konnte. Ich sah sie nur einen Augenblick, als mir die Tür von ihrem Manne vor der Nase zugeschlagen wurde. Aber ich habe ihr Gesicht nie vergessen können, ich sehe es noch vor mir. Ich liebte sie damals noch nicht, sondern erst zwölf Jahre danach, aber ich habe es nie vergessen. Mein lieber Junge – es ist nicht leicht, so zu schreiben. Aber Du siehst, daß ich es muß. Deine Mutter geht völlig in Dir auf, vollständig, voller Liebe. Ich möchte nicht unfreundlich über Soames Forsyte schreiben. Ich denke nicht unfreundlich über ihn. Er tat mir immer leid, vielleicht hatte ich selbst damals Mitleid mit ihm. Nach dem Urteil der Welt war sie die Schuldige, er in seinem Recht. Er liebte sie – auf seine Weise. Sie war sein Eigentum. Das ist der Standpunkt, den er im Leben, den er menschlichen Gefühlen und Herzen gegenüber einnimmt – Eigentum. Er kann nicht dafür – er ist so geboren. Für mich ist es ein Standpunkt, den ich immer verabscheute – so bin ich geboren! Da ich nun sicher bin, Dich gut zu kennen, fühle ich, daß es nicht anders als verabscheuungswürdig für Dich sein kann. Ich fahre mit der Geschichte fort. Deine Mutter floh in jener Nacht aus seinem Hause; zwölf Jahre lebte sie ruhig allein, ohne jede Gesellschaft, bis im Jahre 1899 ihr Mann – Du siehst, er war noch ihr Mann, denn er machte nicht den Versuch, sich von ihr scheiden zu lassen, und sie natürlich hatte kein Recht zu einer Scheidung – offenbar den Mangel an Kindern empfand und dauernd Versuche machte, sie zu bewegen, zu ihm zurückzukehren und ihm ein Kind zu schenken. Ich war damals ihr Berater, durch das Testament Deines Großvaters dazu bestimmt, und beobachtete dies Vorgehen. In dieser Zeit gewann ich sie lieb, innig lieb. Sein Drängen steigerte sich, bis sie eines Tages zu mir heraus kam und sich unter meinen Schutz stellte. Ihr Mann, der von all ihren Unternehmungen Nachricht erhielt, versuchte uns zu trennen, indem er die Scheidungsklage einreichte, oder es möglicherweise tun wollte, ich weiß es nicht, jedenfalls wurden unsere Namen vereint öffentlich genannt. Das führte zur Entscheidung, und wir vereinigten uns wirklich. Sie wurde geschieden, heiratete mich, und Du wurdest geboren. Wir haben in vollkommenem Glück gelebt, wenigstens ich, und ich glaube, Deine Mutter ebenfalls. Soames heiratete bald nach der Scheidung Annette Lamotte, und Fleur wurde geboren. Das ist die Geschichte, Jon. Ich habe sie erzählt, weil Du durch die Liebe, die Du, wie wir gesehen, für die Tochter dieses Mannes gefaßt hast, blindlings auf die Zerstörung des Glückes Deiner Mutter, wenn nicht Deines eigenen, zusteuerst. Ich möchte nicht von mir selbst sprechen, weil es bei meinem Alter keinen Zweck mehr hat, anzunehmen, daß ich noch lange auf Erden wandeln werde, überdies würde, was ich leide, hauptsächlich um ihret- und um Deinetwillen sein. Was ich Dich aber bitte, Dir klarzumachen, ist, daß Gefühle des Schauders und des Abscheus, wie jene, niemals begraben und vergessen werden können. Sie sind noch heute lebendig in ihr. Erst gestern auf ›Lords‹ Kricketplatz sahen wir Soames Forsyte zufällig. Ihr Gesicht hätte Dich überzeugt, wenn Du es gesehen hättest. Der Gedanke, daß Du seine Tochter heiraten könntest, ist ein Alpdruck für sie, Jon. Ich habe nichts gegen Fleur zu sagen, als daß sie seine Tochter ist. Aber Deine Kinder, wenn Du sie heiratetest, wären ebenso die Enkel von Soames wie die Deiner Mutter, eines Mannes, der Deine Mutter einst besaß, wie man wohl eine Sklavin besitzt. Bedenke, was das bedeuten würde. Durch solch eine Heirat betrittst Du das Lager, wo Deine Mutter einst gefangengehalten wurde und sich vor Leid verzehrte. Du bist gerade an der Schwelle des Lebens, Du kennst dies Mädchen erst seit zwei Monaten, und wie sehr Du sie auch zu lieben glaubst, bitte ich Dich doch, sofort mit ihr zu brechen. Bereite Deiner Mutter nicht diesen brennenden Schmerz und die Demütigung für den Rest ihres Lebens. So jung sie mir auch immer scheint, ist sie doch siebenundfünfzig Jahre alt. Außer uns beiden hat sie niemand auf der Welt. Bald wird sie nur Dich haben. Fasse Mut, Jon, und brich es ab. Bringe nicht diese Wolke zwischen euch. Brich ihr nicht das Herz! Gott segne Dich, mein Junge, und nochmals, verzeih mir all die Pein, die dieser Brief Dir verursachen muß – wir versuchten Dich damit zu verschonen, aber Spanien, scheint es, brachte nichts Gutes.

Immer Dein Dich liebender Vater
Jolyon Forsyte.«

Nachdem er diese Beichte beendet hatte, stützte Jolyon seine blasse Wange auf die Hand und las den Brief nochmals durch. Es standen Dinge darin, die ihm so schmerzlich waren, wenn er an Jon dachte, der sie lesen würde, daß er nahe daran war, den Brief zu zerreißen. Überhaupt von solchen Dingen zu einem Knaben reden zu müssen – zu seinem eigenen Jungen –, wo es sich um seine eigene Frau und die eigene Mutter des Jungen handelte; davon zu sprechen, war furchtbar für seine verschlossene Forsyte-Seele. Doch wie sollte er Jon die Wahrheit, die tiefe Spaltung, die unheilbare Wunde verständlich machen, wenn er nicht davon sprach? Wie sonst sein Bestreben, die Liebe seines Jungen zu ersticken, rechtfertigen? Dann hätte er ebensogut gar nicht zu schreiben brauchen!

Er faltete das Bekenntnis zusammen und steckte es in die Tasche. Es war – Gott sei Dank! – Samstag; bis Sonntag abend konnte er es sich überlegen, denn, wenn er es auch jetzt zur Post brachte, würde es Jon vor Montag nicht erreichen. Er empfand eine sonderbare Erleichterung bei diesem Aufschub und dem Gedanken, daß es, mochte es abgeschickt sein oder nicht, doch geschrieben war.

Im Rosengarten, der jetzt die Stelle des alten Farnkrautgrundes einnahm, konnte er Irene mit einem Körbchen pflücken und schneiden sehen. Sie war nie müßig, dünkte ihn, und er beneidete sie jetzt, da er fast immer müßig war. Er ging zu ihr hinunter. Sie wies auf ihren schmutzigen Handschuh und lächelte. Ein Stück Spitze, unterm Kinn zugebunden, verbarg ihr Haar, und ihr ovales Gesicht mit den noch dunkeln Brauen sah sehr jung aus.

»Die grünen Fliegen sind schrecklich in diesem Jahr, und dabei ist es kalt. Du siehst ermüdet aus, Jolyon.«

Jolyon nahm das Bekenntnis aus der Tasche. »Ich habe dies geschrieben. Ich denke, du müßtest es sehen.«

»An Jon?« Ihr ganzes Gesicht hatte sich in diesem Augenblick verändert und sah fast verstört aus.

»Ja, jetzt kommt alles ans Licht.«

Er gab es ihr und ging fort unter die Rosen. Dann, als er sah, daß sie fertig mit dem Lesen war und mit den Blättern in der Hand ganz stillstand, ging er zurück zu ihr.

»Nun?«

»Es ist wundervoll dargestellt. Ich weiß nicht, wie es besser gemacht werden könnte. Ich danke dir, Lieber.«

»Möchtest du, daß irgend etwas ausgelassen werde?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, er muß alles wissen, wenn er es verstehen soll.«

»Das dachte ich auch, aber – es ist mir schrecklich!«

Er hatte das Gefühl, daß es ihm schrecklicher war als ihr; ihm war es so viel leichter, das Geschlecht zwischen Mann und Frau zu erörtern, als zwischen Mann und Mann, und sie war immer natürlicher und freier gewesen, nicht so versteckt wie er als echter Forsyte.

»Ich bin neugierig, ob er es, selbst jetzt, verstehen wird, Jolyon? Er ist so jung und schreckt vor dem Physischen zurück.«

»Das hat er von meinem Vater, er war so prüde in solchen Dingen wie ein Mädchen. Wäre es vielleicht besser, das Ganze noch einmal zu schreiben und zu sagen, daß du Soames haßtest?«

Irene schüttelte den Kopf.

»Haß ist nur ein Wort. Es sagt nichts. Nein, besser, es bleibt, wie es ist.«

»Gut denn. Es soll morgen abgehen.«

Sie hob das Antlitz zu ihm empor, und angesichts der vielen umrankten Fenster des großen Hauses küßte er sie.


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