Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Launen

Fleur eilte weiter. Jetzt hieß es rasch vorwärts kommen, denn es war spät, und sie mußte all ihre Klugheit anwenden, wenn sie nach Haus kam. Sie ging an den Inseln vorüber, am Bahnhof, am Hotel und war gerade im Begriff, die Fähre zu benutzen, als sie ein Boot mit einem jungen Mann darin sah, der aufrecht stand und sich an den Büschen festhielt.

»Miß Forsyte«, sagte er, »ich möchte Sie übersetzen. Ich bin in der Absicht hergekommen.«

Sie sah ihn mit unverhohlenem Erstaunen an.

»Es ist alles in Ordnung, ich bin zum Tee bei Ihrem Vater gewesen und dachte, ich könnte Ihnen das letzte Stück Wegs ersparen. Es ist auf meinem Wege, ich wollte gerade zurück nach Pangbourne. Mein Name ist Mont. Ich sah Sie in der Bildergalerie – Sie erinnern sich doch – als Ihr Vater mich einlud, seine Bilder zu sehen.«

»Ach ja!« sagte Fleur, »– ja – das Taschentuch!«

Diesem jungen Manne verdankte sie Jon; sie nahm seine Hand und stieg in das Boot. Noch erregt und ein wenig außer Atem, saß sie still da, nicht aber der junge Mann. Sie hatte nie jemand so viel in so kurzer Zeit reden hören. Er nannte ihr sein Alter, vierundzwanzig; sein Gewicht, seinen Wohnsitz, nicht weit von hier; beschrieb ihr seine Gefühle im Feuer und wie ihm bei einem Gasangriff zumute gewesen; kritisierte die Juno, sprach von seiner eigenen Auffassung dieser Göttin, machte Bemerkungen über die Goyakopie, sagte, daß Fleur ihr gar nicht so sehr ähnlich sei, setzte ihr in aller Geschwindigkeit die Lage Englands auseinander; sprach von Monsieur Profond – oder wie er heißen mochte – als einem »famosen Kerl«; fand, daß ihr Vater einige »fabelhafte« und einige ziemlich »ausgegrabene« Bilder habe; hoffte, wieder herzurudern und sie auf den Fluß mitnehmen zu dürfen, da er völlig zuverlässig sei, fragte sie nach ihrer Ansicht über Tschechow und sagte ihr die seine; wünschte mit ihr zum russischen Ballett gehen zu dürfen – fand den Namen Fleur Forsyte einfach berückend; verwünschte es, den Namen Michael noch als Zugabe zu Mont erhalten zu haben; schilderte ihr seinen Vater und sagte, daß, wenn sie ein gutes Buch lesen wolle, sie »Hiob« lesen solle; sein Vater sei so ziemlich wie Hiob, solange er noch Land besaß.

»Aber Hiob besaß kein Land«, sagte Fleur, »der hatte nur Herden und Vieh und wanderte umher.«

»Ach!« erwiderte Michael Mont, »ich wünschte, mein Alter wanderte umher. Nicht, daß ich sein Land will. Land ist eine schreckliche Last heutzutage, finden Sie nicht auch?«

»Wir haben keins in unserer Familie«, sagte Fleur. »Sonst haben wir alles. Ich glaube, einer meiner Großonkel hatte einst eine romantische Farm in Dorset, weil wir ursprünglich daher stammen, aber sie kostete ihn mehr, als sie ihn glücklich machte.«

»Verkaufte er sie?«

»Nein, er behielt sie.«

»Weshalb?«

»Weil niemand sie kaufen wollte.«

»Das war gut für den alten Knaben!«

»Nein, es war nicht gut für ihn. Vater sagt, es wurmte ihn. Sein Name war Swithin.«

»Was für ein ulkiger Name!«

»Wissen Sie, daß wir immer weiter fortkommen, anstatt näher? Der Fluß hat eine ziemliche Strömung.«

»Köstlich!« rief Mont, seine Ruder lässig eintauchend, »es macht Spaß, ein Mädchen zu treffen, das Geist hat.«

»Aber mehr einen Mann, der ihn im Plural hat.«

Der junge Mont hob eine Hand und raufte sich das Haar.

»Passen Sie auf!« rief Fleur. »Ihr Ruder!«

»Tut nichts! Es ist dick genug, einen Puff zu vertragen.«

»Wollen Sie nicht rudern?« fragte Fleur ernst. »Ich möchte nach Haus.«

»Ach!« sagte Mont; »aber wenn Sie zu Haus sind, sehe ich Sie heute nicht mehr. Fini, wie das französische Mädchen sagte, als sie auf ihr Bett sprang, nachdem sie ihr Gebet gesagt hatte. Segnen Sie nicht den Tag, der Ihnen eine französische Mutter und einen Namen wie den Ihren gab?«

»Ich mag meinen Namen gern, aber mein Vater gab ihn mir. Mutter wollte mich Marguerite nennen.«

»Was sehr abgeschmackt wäre. Hätten Sie etwas dagegen, mich M. M. zu nennen und mich Sie F. F. nennen zu lassen? Es ist im Geiste unserer Zeit.«

»Ich habe gegen nichts etwas, wenn ich nach Haus komme.«

Mont geriet mit den Rudern in eine verwickelte Lage und sagte: »Peinlich!«

»Rudern Sie, bitte.«

»Ich tue es ja.« Und er machte ein paar Schläge, wobei er sie mit reuigem Eifer anblickte. »Sie wissen natürlich«, stieß er, eine Pause machend, hervor, »daß ich kam, um Sie zu sehen, nicht die Bilder Ihres Vaters.«

Fleur erhob sich.

»Wenn Sie nicht rudern, steige ich aus und schwimme. «

»Wirklich wahr? Dann könnte ich nach Ihnen hinein.«

»Mr. Mont, ich habe mich verspätet und bin müde, bitte setzen Sie mich sofort am Ufer ab.«

Als sie am Landungsplatz im Garten ausstieg, stand er auf, griff sich mit beiden Händen ins Haar und schaute sie an.

Fleur lächelte.

»Lachen Sie nicht!« rief der unverwüstliche Mont.

Fleur drehte sich schnell um und winkte ihm mit der Hand zu. »Leben Sie wohl, Mr. M. M.!« rief sie und war zwischen den Rosenstämmen verschwunden. Sie sah auf ihre Armbanduhr und auf die Fenster im Hause. Es kam ihr seltsam unbewohnt vor. Sechs Uhr vorbei! Die Tauben sammelten sich eben zur Nachtruhe, und die Sonne fiel schräg auf den Taubenschlag und ihre schneeigen Federn und drüben im Walde auf die obersten Zweige der Bäume. Das Aneinanderschlagen von Billardkugeln kam von der Kaminecke her – Jack Cardigan jedenfalls; und ein leises Rauschen von einem Eukalyptusbaum, ein seltsamer Fremdling aus dem Süden in diesem alten englischen Garten. Sie erreichte die Veranda und wollte eben hineingehen, blieb aber bei dem Geräusch von zwei Stimmen im Wohnzimmer links stehen. Mutter! Monsieur Profond! Hinter der Verandawand, die die Kaminecke schützte, vernahm sie diese Worte:

»Das tue ich nicht, Annette.«

Wußte Vater, daß er ihre Mutter »Annette« nannte? Immer auf der Seite ihres Vaters – wie Kinder in Häusern, wo die Beziehungen etwas gespannt sind, immer auf der einen oder der anderen Seite sind –, stand sie unschlüssig da. Ihre Mutter sprach mit ihrer leisen, angenehmen, leicht metallischen Stimme – ein Wort fing sie auf: » Demain.« Und Profonds Antwort »Gut«. Fleur runzelte die Stirn. Ein leises Geräusch unterbrach die Stille. Dann hörte sie Profonds Stimme: »Ich machen einen kleinen Spaziergang.«

Fleur sprang durch das Fenster in das Frühstückszimmer. Da kam er – aus dem Wohnzimmer, ging über die Veranda auf den Rasenplatz hinunter. Und das Anschlagen der Billardbälle, das sie beim Lauschen auf andere Laute nicht mehr gehört hatte, begann aufs neue. Sie schüttelte sich, ging in die Halle und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Ihre Mutter saß auf dem Sofa zwischen den Fenstern, ein Knie über das andere geschlagen, ihr Kopf ruhte auf einem Kissen, die Lippen waren halb geöffnet, die Augen halb geschlossen. Sie sah außerordentlich hübsch aus.

»Ah! Da bist du ja, Fleur! Dein Vater ist schon ganz aufgeregt.«

»Wo ist er?«

»In der Bildergalerie. Geh hinauf!«

»Was hast du für morgen vor, Mutter?«

»Für morgen? Ich fahre mit deiner Tante nach London.«

»Das dachte ich mir. Willst du mir einen ganz einfachen Sonnenschirm besorgen?«

»Welche Farbe?«

»Grün. Sie fahren wohl alle zurück?«

»Ja, alle; du mußt deinen Vater trösten. Gib mir doch einen Kuß.«

Fleur ging zu ihr, bückte sich, bekam einen Kuß auf die Stirn und ging hinaus, als sie den Eindruck einer Gestalt auf den Kissen in der andern Ecke des Sofas bemerkte. Sie lief hinauf. Fleur war durchaus nicht die altmodische Tochter, die die Vorschriften für das Leben ihrer Eltern in Übereinstimmung mit denen zu bringen trachtete, die für sie selbst galten. Sie beanspruchte nur freie Verfügung über ihr eigenes Leben, nicht über das von andern; überdies regte sich bereits ein untrüglicher Instinkt für das, was ihrer eigenen Sache wahrscheinlich nützlich sein könnte. In einer erregten häuslichen Atmosphäre würde ihr Herz, das sie an Jon gehängt, eher zu seinem Rechte kommen. Dennoch litt sie darunter wie eine Blume in sengendem Wind. Wenn der Mann wirklich ihre Mutter geküßt hatte, war es – ernst, und ihr Vater müßte es erfahren. » Demain!« »Gut!« Und ihre Mutter, die in die Stadt fuhr! Sie ging in ihr Schlafzimmer und lehnte sich aus dem Fenster, ihr Gesicht zu kühlen, das plötzlich sehr heiß geworden war. Jon mußte jetzt schon am Bahnhof sein! Was wußte ihr Vater wohl von Jon? Wahrscheinlich alles – beinahe alles wenigstens!

Sie zog sich um, damit es aussehe, als wäre sie schon eine Weile zu Haus, und lief in die Galerie hinauf.

Soames stand unbeweglich vor seinem Alfred Stevens – seinem liebsten Bilde. Er drehte sich beim Öffnen der Tür nicht um, aber sie wußte, daß er es gehört, und wußte, daß er sich gekränkt fühlte. Sie trat leise hinter ihn, schlang die Arme um seinen Hals und schob ihr Gesicht über seine Schulter, bis ihre Wange sich an die seine schmiegte. Das hatte noch nie versagt, aber jetzt versagte es, und sie war des Schlimmsten gewärtig.

»Du bist«, sagte er steinern, »also doch noch gekommen!«

»Ist das alles«, murmelte Fleur, was ein ›böser Vater‹ mir zu sagen hat?« Und sie rieb ihre Wange an der seinen.

»Weshalb läßt du mich wie auf Kohlen sitzen, hältst mich immer wieder und wieder hin?«

»Lieber, es war ganz harmlos.«

»Harmlos! Du weißt viel, was harmlos ist und was nicht.«

Fleur ließ die Arme sinken.

»Also, meine Liebe, dann sage es mir nur, und sei ganz offen.«

Sie ging an den Fensterplatz hinüber.

Ihr Vater hatte dem Bilde den Rücken gekehrt und starrte auf seine Füße. Er sah sehr grau aus. »Er hat hübsche, kleine Füße«, dachte sie, als sie seinen Blick auffing, der sich plötzlich von ihr abgewandt hatte.

»Du bist mein einziger Trost«, sagte Soames unvermutet, »und nun benimmst du dich so.«

Fleurs Herz begann zu klopfen.

»Wie denn, mein Lieber?«

Wieder warf Soames einen Blick auf sie, der hätte schief genannt werden können, wenn er nicht so voller Zärtlichkeit gewesen wäre.

»Du weißt, was ich dir sagte«, fuhr er fort. »Ich möchte nichts mit diesem Zweige unserer Familie zu tun haben.«

»Ja, liebster Papa, aber ich weiß nicht, weshalb ich es nicht sollte.«

Soames wandte sich ab.

»Ich möchte keine Gründe angeben«, sagte er, »du solltest mir vertrauen, Fleur!«

Die Art, wie er diese Worte aussprach, rührte Fleur, aber sie dachte an Jon und schwieg, indem sie mit dem Fuß gegen das Getäfel stieß. Unbewußt hatte sie eine ganz moderne Haltung angenommen, als sie da ein Bein über das andere schlug, das Kinn auf ihr Handgelenk stützte, den andern Arm auf die Brust legte und mit der andern Hand den Ellbogen umfaßte; keine Linie an ihr, die nicht gewollt war, und doch bewahrte sie – trotz allem – eine gewisse Grazie.

»Du kennst meine Wünsche«, fuhr Soames fort, »und dennoch bliebst du vier Tage dort. Und ich vermute, daß der Junge heute mit dir kam.«

Fleur wandte den Blick nicht von ihm.

»Ich frage dich nichts«, sagte Soames; »ich forsche nicht nach, wo es dich betrifft.«

Fleur stand plötzlich auf, und das Kinn auf den Händen, lehnte sie sich zum Fenster hinaus. Die Sonne war hinter den Bäumen untergegangen, die Tauben saßen ganz still aneinandergedrängt am Rande des Taubenschlages, das Geräusch der Billardkugeln stieg empor, und eine leise Helligkeit drang unten hervor, wo Jack Cardigan das Licht aufgedreht hatte.

»Würde es dir Freude machen«, sagte sie plötzlich, »wenn ich dir verspreche, ihn, sagen wir – für die nächsten sechs Wochen nicht zu sehen?« Sie war auf ein Zittern in seiner bestürzten Stimme nicht vorbereitet.

»Sechs Wochen? Sechs Jahre – sechzig Jahre eher. Mach' dir nichts vor, Fleur, mach' dir nichts vor!«

Fleur wandte sich beunruhigt um.

»Vater, was ist es denn?«

Soames kam dicht genug zu ihr, um ihr Gesicht zu sehen.

»Sage mir nicht«, sagte er, »daß du töricht genug bist, deine Gefühle für etwas anderes als eine Laune zu halten. Das wäre zuviel!« Und er lachte.

Fleur, die ihn nie so lachen gehört hatte, dachte: »Dann ist es ernst! Ach! Was mag es nur sein?« Und indem sie ihre Hand unter seinen Arm schob, sagte sie leichthin:

»Nein, natürlich Laune. Nur daß ich meine Launen liebe und deine nicht, mein Lieber.«

»Meine!« sagte Soames bitter und wandte sich ab.

Das Licht draußen war kälter geworden und warf eine kreidige Weiße auf den Fluß. Die Bäume hatten alles Heitere ihrer Farbe verloren. Sie hungerte plötzlich nach Jons Gesicht, nach seinen Lippen auf den ihren. Und ihre Arme fest an die Brust pressend, zwang sie sich zu einem leisen Lachen.

»O la la! Was für ein ›kleiner‹ Lärm um nichts, wie Profond sagen würde. Ich mag den Mann nicht, Vater.«

Sie sah ihn aufmerken und etwas aus seiner Tasche nehmen. »Magst ihn nicht?« sagte er. »Weshalb nicht?«

»Weiß nicht«, murmelte Fleur; »eine Laune eben!«

»Nein«, sagte Soames; »keine Laune!« Und er zerriß, was er in der Hand hatte. »Du hast recht. Ich mag ihn auch nicht!«

»Sieh!« sagte Fleur sanft. »Da geht er! Ich hasse seine Schuhe: sie machen keinerlei Geräusch.«

Unten in dem sinkenden Licht schlenderte Prosper Profond mit den Händen in den Seitentaschen und pfiff leise in seinen Bart; er blieb stehen und sah zum Himmel empor, als wolle er sagen: »Ich halten nicht von dem kleinen Mond dort.«

Fleur zog sich zurück. »Sieht er nicht aus wie ein großer Kater?« flüsterte sie; und das scharfe Anschlagen der Billardbälle hörte sich an, als hätte Jack Cardigan den Kater, den Mond, Launen und Tragödie mit seinem Ausruf: »Der rote ist frei!« in die Flucht geschlagen.

Monsieur Profond war mit einem neckischen Liedchen, das er in seinen Bart sang, wieder weitergegangen. Was war es doch? Ach ja! aus »Rigoletto«: » La donna è mobile.« Ganz wie es zu ihm paßte! Sie drückte den Arm ihres Vaters an sich.

»Schleicher!« sagte sie, als er um die Ecke des Hauses bog. Der Tag ging zur Neige, und die Nacht war noch nicht angebrochen – es war still und warm, mit dem Duft von Weißdorn und Flieder in der Luft am Fluß. Eine Amsel hub plötzlich zu singen an. Jon war jetzt wohl schon in London, im Park vielleicht, und dachte an sie! Bei einem leisen Geräusch neben ihr sah sie sich um; ihr Vater zerriß nochmals das Papier in seiner Hand. Fleur sah, daß es ein Scheck war.

»Ich werde ihm meinen Gauguin nicht verkaufen«, sagte er. »Ich begreife nicht, was deine Tante und Imogen in ihm sehen.«

»Oder Mutter!«

»Deine Mutter!« sagte Soames.

»Armer Vater!« dachte sie. »Er sieht nie glücklich aus – wirklich glücklich. Ich möchte ihn nicht kränken, aber natürlich werde ich es müssen, wenn Jon zurückkommt.«

»Ich will mich jetzt umziehen«, sagte sie.

In ihrem Zimmer hatte sie den Einfall, ihr »Phantasiekostüm« anzuziehen. Es war aus einem Goldgewebe mit Höschen von demselben Stoff, die unten fest zugezogen waren, dazu ein Pagenkragen um die Schultern geworfen, kleine, goldene Schuhe und ein Merkur mit goldenen Flügeln auf dem Helm; und überall waren winzige Glöckchen angebracht, besonders am Helm, so daß es läutete, sobald sie sich bewegte. Als sie angekleidet war, fühlte sie sich ganz krank, weil Jon sie nicht sehen konnte; sie bedauerte sogar, daß der muntere junge Mann, Michael Mont, den Anblick nicht haben konnte. Aber das Gong ertönte, und sie ging hinunter.

Sie machte Aufsehen im Wohnzimmer. Winifred fand es höchst amüsant. Imogen war entzückt. Jack Cardigan nannte es »fabelhaft«, »fesch«, »vornehm« und »berückend«. Monsieur Profond sagte mit lächelnden Augen: »Das ist ein hübsches Kleidchen!« Ihre Mutter, sehr hübsch in Schwarz, schaute sie an und sagte gar nichts. Es war ihrem Vater vorbehalten, das Urteil der gesunden Vernunft zu fällen. »Wozu hast du das Ding angezogen? Du wirst doch nicht tanzen.«

Fleur drehte sich wie ein Kreisel, und die Glöckchen läuteten. »Eine Laune!«

Soames starrte sie an, wandte sich dann ab und reichte Winifred den Arm. Jack Cardigan führte ihre Mutter. Prosper Profond Imogen. Fleur ging allein und ließ ihre Glöckchen klingen ...

Der »kleine« Mond war bald untergegangen, und die Mainacht verhüllte die Billionen Launen, Intrigen, Leidenschaften, Sehnsüchte und Gewissensbisse von Mann und Weib mit ihrer Farbe des Traubenflaums und ihren Düften. Glücklich war Jack Cardigan, der beharrlich wie ein Floh in Imogens weiße Schulter schnarchte, oder Timothy in seinem »Mausoleum«, der zu allem zu alt war außer zu dem Kinderschlummer. Viele aber lagen wach oder träumten, von dem Getriebe der Welt gequält.

Der Tau fiel, und die Blumen schlossen sich; Vieh weidete auf den Uferwiesen und tastete mit der Zunge nach dem Grase, das es nicht sehen konnte, und die Schafe auf den Hügeln lagen still wie Steine. Fasanen in den hohen Bäumen der Pangbourne-Wälder, Lerchen in ihren grasigen Nestern über der Kreidegrube in Wansdon, Schwalben in den Dachrinnen von Robin Hill und die Spatzen von Mayfair, sie alle hatten, besänftigt durch die Windstille, eine traumlose Nacht. Die Mayflystute, kaum noch an das neue Quartier gewöhnt, scharrte ein wenig in der Streu; und die wenigen Nachtgeschöpfe – Fledermäuse, Motten und Eulen – tummelten sich munter in der dunklen Wärme; der Friede der Nacht aber ruhte farblos und still im Hirn aller Kreatur, die sich am Tage regte. Männer und Frauen nur, die ihre Steckenpferde der Angst oder Liebe ritten, zündeten die flackernden Traumkerzen an und sannen in einsamen Stunden nach.

Fleur, die aus ihrem Fenster lehnte, hörte die zwölf Schläge der Uhr in der Halle, das leise Plätschern eines Fisches, das plötzliche Rascheln der Blätter einer Espe bei den Windstößen, die sich das Ufer entlang erhoben, das ferne Rasseln eines Zuges und dann und wann Töne in der Dunkelheit, die niemand benennen kann, leise dunkle Äußerungen nicht katalogisierter Empfindungen von Mensch und Tier, Vogel und Maschine oder auch von abgeschiedenen Forsytes, Darties, Cardigans, die Nachtwanderungen zurück in eine Welt unternahmen, der ihre entkörperten Geister einst angehört. Fleur aber beachtete diese Töne nicht; ihr Geist, der durchaus nicht entkörpert war, flog auf raschen Schwingen von Eisenbahnwagen zu Blütenhecke, in Sehnsucht nach Jon, weilte beharrlich bei seinem verbotenen Bild und dem Ton seiner Stimme, die Tabu war. Und sie zog ihr Näschen kraus bei der Erinnerung an den Duft der Nacht am Flußufer, in dem Augenblick, wo seine Hand zwischen die Maiblüten und ihre Wange glitt. Lange lehnte sie in ihrem Phantasiekostüm so aus dem Fenster, erpicht darauf, sich die Flügel am Licht des Lebens zu verbrennen, während die Motten, die nicht wußten, daß in einem Forsytehaus keine offenen Flammen brannten, auf ihrer Pilgerschaft zu der Lampe auf dem Toilettentisch ihre Wange streiften. Schließlich aber wurde auch sie schläfrig und zog den Kopf, ihre Glöckchen vergessend, rasch zurück.

Durch das offene Fenster seines Zimmers, neben dem Annettens, hörte Soames, ebenfalls wachend, ihr leises Geklingel, als käme es von den Sternen, oder wie das Fallen der Tautropfen von einer Blume, wenn man solche Töne vernehmen könnte.

»Laune!« dachte er. »Ich weiß nicht. Sie ist eigenwillig. Was soll ich tun? Fleur?«

Und lange blickte er sinnend in die stille Nacht hinaus.


 << zurück weiter >>