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Fünftes Kapitel

Reine Forsyte-Angelegenheiten

Soames, der mit der Absicht in die City kam, später in der Green Street vorzusprechen und Fleur mit nach Haus zu nehmen, litt unter seinen grübelnden Gedanken. Als stiller Teilhaber kam er jetzt selten in die City, aber er hatte noch ein eigenes Zimmer bei Cuthcott Kingson und Forsyte nebst einem Buchhalter und einem Gehilfen für die Verwaltung von rein Forsyteschen Angelegenheiten. Sie waren gerade jetzt etwas in Fluß gekommen – es war ein günstiger Augenblick für den Verkauf von Häusern. Und Soames hatte über die Grundstücke seines Vaters, Onkel Rogers und teilweise die seines Onkels Nicholas zu verfügen. Seine kluge und selbstverständliche Redlichkeit in allen Geldangelegenheiten hatte ihn auf dem Gebiet dieses ihm anvertrauten Gutes völlig unabhängig gemacht. Hatte Soames eine bestimmte Meinung von etwas, so konnte man sich die Mühe sparen, sich ebenfalls eine zu bilden. Er garantierte förmlich Unverantwortlichkeit bei zahlreichen Forsytes der dritten und vierten Generation. Seine Mitverwalter, die Vettern Roger und Nicholas, seine angeheirateten Vettern Tweetyman und Spender, oder der Mann seiner Schwester Cicely, schenkten ihm alle ihr Vertrauen; er unterzeichnete zuerst, und wo er unterzeichnet hatte, taten sie es ebenfalls, und niemand hatte einen Penny Schaden dabei. Gerade jetzt standen die Dinge besonders günstig, und Soames konnte anfangen, auf den Abschluß gewisser Unternehmungen zu rechnen; es blieb nur noch die Verteilung des Vermögens aus Hypotheken, die so sicher angelegt waren, wie es mit dieser Zeit vereinbar war.

Als er aus den mehr fieberhaften Teilen der City in das vollkommene Stauwasser Londons kam, ward er nachdenklich. Geld war außerordentlich knapp und die Moral außerordentlich locker! Das war eine Folge des Krieges. Die Banken liehen nichts, und die Leute brachen überall ihre Kontrakte. Es lag etwas in der Luft und in dem Ausdruck der Gesichter, das ihm nicht gefiel. Das Land schien dem Spiel und dem Bankrott verfallen. Er empfand eine gewisse Genugtuung bei dem Gedanken, daß weder sein Besitz noch die ihm anvertrauten Grundstücke mit Hypotheken belastet waren, die durch irgend etwas, das auch weniger wahnsinnig war als die Einstellung der staatlichen Zinszahlungen oder eine Kapitalsabgabe, berührt werden konnten. Wenn es etwas gab, an das Soames glaubte, so war es der »englische gesunde Menschenverstand«, wie er es nannte – oder die Macht, die Dinge wenn nicht auf die eine, so doch auf die andere Art zu erhalten. Zwar hätte er – wie sein Vater vor ihm – sagen können, er wisse nicht, wie alles kommen werde, aber er glaubte im Herzen nie daran, daß etwas geschehen würde. Wenn es nach ihm ginge, käme es nicht dazu, und schließlich war er nur ein Engländer wie andere auch, hielt in aller Ruhe hartnäckig an allem fest, was er besaß, und wußte, daß er sich nie davon trennen würde, ohne etwas mehr oder weniger Gleichwertiges dafür einzutauschen. Er verlor nie sein Gleichgewicht in materiellen Angelegenheiten, und seine Art, die nationale Lage in einer Welt zu beurteilen, die aus menschlichen Wesen bestand, war schwer zu widerlegen. Man nehme zum Beispiel seine eigene Lage! Er war wohlhabend. Beeinträchtigte das irgend jemand? Er nahm nicht zehn Mahlzeiten am Tage ein; er aß so viel, vielleicht nicht einmal so viel, wie ein armer Mann. Er vergeudete das Geld nicht lasterhaft, atmete nicht mehr Luft, verbrauchte nicht wesentlich mehr Wasser als der Mechaniker oder der Portier. Freilich hatte er hübsche Sachen um sich, aber ihre Herstellung hatte andere beschäftigt, und jemand mußte sie doch benutzen. Er kaufte Bilder, aber Kunst mußte gefördert werden. Er war nur eigentlich ein zufälliger Kanal, durch den das Geld strömte und Arbeit schuf. Was war dagegen einzuwenden? In seinem Auftrag floß das Geld rascher und nutzbringender, als es im Auftrag des Staates und einer Menge von schwerfälligen, Geld verschlingenden Beamten der Fall wäre. Und seine Ersparnisse jedes Jahr, es war gerade so viel in Umlauf, wie er nicht sparte, wurden in sichern Papieren angelegt oder in etwas Gesundem und Nützlichem. Der Staat zahlte ihm kein Gehalt für die Verwaltung seines Geldes oder das der andern, er tat alles das umsonst. All das sprach gegen die Verstaatlichung; Besitzer privaten Eigentums waren unbezahlt und hatten doch das Bestreben, den Umlauf zu beschleunigen. Bei der Verstaatlichung – gerade das Gegenteil! In einem Lande, das unter seinem Beamtentum litt, hielt er seine Lage für gesund.

Als er dieses Stauwasser vollkommenen Friedens betrat, ärgerte ihn namentlich der Gedanke, daß durch eine Menge skrupelloser Trusts und Verbindungen allerlei Waren auf den Markt geworfen wurden. Solche Schmäher des individualistischen Systems waren die Schufte, die all das Elend verursachten, und es gewährte einige Genugtuung, wenn er daran dachte, sie würden schließlich doch in Verlegenheit kommen, die ganze Sache würde kläglich enden und sie ins Verderben stürzen können.

Die Bureaus von Cuthcott, Kingson und Forsyte nahmen das Erdgeschoß und den ersten Stock eines Hauses an der rechten Seite ein, und als Soames in sein Zimmer hinaufstieg, dachte er: »Es wäre Zeit für einen neuen Anstrich.«

Sein alter Buchhalter, Gradman, saß, wo er immer zu sitzen pflegte, an einem sehr großen Schreibpult mit unzähligen Fächern. Der Gehilfe reichte ihm die Rechnung eines Maklers auf den beim Verkauf des Hauses am Bryanston Square erzielten Erlös auf Roger Forsytes Grundstück. Soames nahm sie und sagte:

»Vancouver City Aktien. Hm! Die sind heute gefallen!«

Mit seiner eigenartigen, knarrenden, einschmeichelnden Stimme antwortete der alte Gradman:

»Ja–a, aber alles ist gefallen, Mr. Soames.« Und der Gehilfe verließ das Zimmer.

Soames legte das Dokument quer auf einen Stapel anderer Papiere und hing seinen Hut auf.

»Ich möchte mein Testament und meinen Ehekontrakt durchsehen, Gradman.«

Der alte Gradman rückte bis an den Rand seines Drehstuhls und zog zwei Fächer der untersten Schublade zur Linken heraus. Dann hob er, sehr rot vom Bücken, den ergrauten Kopf und setzte sich wieder zurecht.

»Abschriften, Sir.«

Soames nahm sie. Es fiel ihm plötzlich auf, wie ähnlich Gradman dem wackern scheckigen Hofhund war, den sie im »Haus Zuflucht« an der Kette hielten, bis Fleur eines Tages darauf bestanden hatte, ihn freizulassen, und er gleich darauf die Köchin biß und getötet werden mußte. Würde Gradman wohl die Köchin beißen, wenn er von der Kette loskäme?

Soames verscheuchte diese frivole Vorstellung und entfaltete seinen Ehekontrakt. Er hatte ihn über achtzehn Jahre nicht angesehen, nicht, seit er nach dem Tode seines Vaters, als Fleur geboren wurde, sein Testament geändert hatte. Er wollte sehen, ob die Worte » during coverture« darin standen. Ja, da standen sie – sonderbarer Ausdruck eigentlich, und vielleicht von der Pferdezucht herstammend! Zinsen von fünfzehntausend Pfund (die er ihr ohne Abzug der Einkommensteuer zahlte), solange sie seine Frau war, und später während ihrer Witwenschaft » dum casta« – altmodisch und ziemlich starke Worte, die zur Sicherung des Verhaltens von Fleurs Mutter hineingesetzt waren. Sein Testament erhöhte es zu einem Jahrgeld von tausend Pfund unter den gleichen Bedingungen. Alles in Ordnung! Er gab Gradman die Abschriften zurück, der sie nahm ohne aufzublicken, den Stuhl herumschwang, die Papiere in ihr Fach zurücklegte und fortfuhr zu rechnen.

»Gradman! Mir gefällt die Lage des Landes nicht; es sind eine Menge Leute ohne jeden gesunden Verstand am Werk. Ich möchte einen Weg finden, Miß Fleur gegen etwas, das entstehen könnte, zu sichern.«

Gradman schrieb die Zahl 2 auf sein Löschblatt.

»Ja–a«, sagte er; »es herrscht ein schlimmer Geist.«

»Gesetzt, diese Arbeitergesellschaft kommt ans Ruder, oder Schlimmeres. Es sind diese Leute mit fixen Ideen, die so gefährlich sind. Sehen Sie Irland an!«

»Ach!« sagte Gradman.

»Wenn ich ihr nun gleich etwas aussetzte, während ich selbst Nutznießer auf Lebenszeit bliebe, könnten sie mir nichts als die Zinsen nehmen, es sei denn, daß sie das Gesetz ändern.«

Gradman schüttelte den Kopf und lächelte.

»Ach!« sagte er. »Da–as werden sie nicht tun!«

»Ich weiß nicht«, murmelte Soames, »ich traue ihnen nicht.«

»Es unterliegt, wenn der Erblasser innerhalb der ersten zwei Jahre stirbt, ohnehin nicht der Erbschaftssteuer, Sir.«

Soames hüstelte. Zwei Jahre! Er war erst fünfundsechzig!

»Darum handelt es sich nicht. Machen Sie einen Entwurf zu einer Bestimmung, daß all mein Vermögen in gleichen Teilen an Miß Fleurs Kinder übergeht, mit einer Leibrente, erst für mich und dann für sie, ohne die Möglichkeit, etwas vorwegzunehmen, und fügen Sie eine Klausel hinzu, daß, falls irgend etwas geschehen sollte, ihr die Leibrente zu entziehen, die Zinsen an die Testamentsvollstrecker gehen sollen, um sie ganz nach ihrem Belieben zu ihren Gunsten zu verwenden.«

»Sehr übertrieben, in Ihrem Alter, Sir«, wandte Gradman ein. »Sie verlieren die Kontrolle.«

»Das ist meine Sache«, sagte Soames scharf.

Gradman schrieb auf ein Stück Papier: »Leibrente – Vorwegnahme – Zinsen entziehen – ganz nach ihrem Belieben ...« und sagte:

»Was für Testamentsvollstrecker? Da ist der junge Kingson, er ist ein netter, gesetzter junger Mann.«

»Ja, er könnte einer sein. Ich brauche drei. Es gibt keinen Forsyte mehr, den ich auffordern könnte.«

»Nicht der junge Mr. Nicholas?«

»Er hat das Pulver nicht erfunden«, sagte Soames.

Ein Lächeln quoll in Gradmans Gesicht auf, das fett von zahllosen Hammelkoteletts war, das Lächeln eines Mannes, der den ganzen Tag sitzt.

»Sie können das in seinem Alter auch nicht erwarten, Mr. Soames.«

»Weshalb? Wie alt ist er? Vierzig?«

»Ja–a, ein ganz junger Mann.«

»Gut, schreiben Sie ihn auf, aber ich brauche jemand, der ein persönliches Interesse daran hat. Ich weiß niemand.«

»Was meinen Sie zu Mr. Valerius, wo er jetzt zu Haus ist?«

»Val Dartie? Mit dem Vater?«

»Ja–a aber«, murmelte Gradman, »er ist seit sieben Jahren tot –«

»Nein«, sagte Soames. »Ich mag diese Verbindung nicht.«

Er erhob sich. Gradman sagte plötzlich:

»Wenn sie eine Vermögensabgabe einführen, können sie die Testamentsvollstrecker heranziehen, Sir. Dann wäre es ganz dasselbe. Ich würde es mir überlegen an Ihrer Stelle.«

»Das ist wahr«, sagte Soames, »das will ich. Was haben Sie anläßlich der Einsturzgefahr in der Vere Street unternommen?«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen. Die Person ist sehr alt. Sie wird in ihrem Alter nicht ausziehen wollen.«

»Ich weiß nicht. Der Geist der Unruhe ist überall zu spüren.«

»Doch ich sehe die Dinge sehr klar, Sir. Sie ist einundachtzig.«

»Versuchen Sie es nur«, sagte Soames, »und sehen Sie, was sie sagt. Oh! Und Mr. Timothy? Ist alles in Ordnung, falls er –«

»Ich habe das Inventar seines Hauses schon fertig, die Bilder und Möbel sind abgeschätzt, so daß wir wissen, was für Abzüge zu machen sind. Es täte mir doch leid, wenn er von uns ginge. Mein Gott! Es ist lange her, seit ich Mr. Timothy zuerst sah.«

»Wir können nicht ewig leben«, sagte Soames, indem er seinen Hut abnahm.

»N–nein«, sagte Gradman, »aber es ist schade – der Letzte der alten Familie! Soll ich die ärgerliche Sache in der Old Compton Street wieder aufnehmen? Diese Leierkasten – es sind garstige Dinger!«

»Tun Sie es. Ich muß Miß Fleur abholen und den Vieruhrzug nehmen. Guten Tag, Gradman.«

»Guten Tag, Mr. Soames. Ich hoffe, Miß Fleur –«

»Es geht ihr gut, aber sie streift zuviel umher.«

»Ja–a«, schnarrte Gradman, »sie ist jung.«

Soames ging fort und überlegte: »Der alte Gradman! Wenn er jünger wäre, würde ich ihn zum Testamentsvollstrecker machen. Bei keinem könnte ich mich so darauf verlassen, daß er wirkliches Interesse hat.«

Als er die öde, mathematische Regelmäßigkeit, den unnatürlichen Frieden dieses Stauwassers verließ, dachte er plötzlich: » During coverture!« »Weshalb können sie Männer wie diesen Profond nicht ausweisen anstatt einer Menge hart arbeitender Deutscher?«, und war überrascht über die tiefe Unruhe, die ein so unpatriotischer Gedanke verursachen konnte. Aber nun war sie da! Man hatte nie einen Moment wirklichen Friedens. Bei allem steckte immer etwas dahinter! Er setzte seinen Weg nach der Green Street fort.

Zwei Stunden später, nach seiner Uhr, stand Thomas Gradman von seinem Drehstuhl auf, schloß das letzte Schubfach seines Schreibpults, steckte einen so großen Schlüsselbund in seine Westentasche, daß es einen Höcker auf der Seite bildete, wo seine Leber saß, bürstete seinen alten Zylinder mit dem Ärmel ab, nahm seinen Schirm und ging hinunter. Dick, untersetzt und eng zugeknöpft in seinem alten Schoßrock, ging er auf den Covent-Garden-Markt zu. Er versäumte nie diesen täglichen Spaziergang zur Untergrundbahn nach Highgate und unterwegs selten eine kritische Unterhandlung zwecks Einkaufs von Gemüse und Obst. Generationen mochten geboren werden, die Hutmode wechseln, Kriege ausgefochten werden und Forsytes hinscheiden, aber Thomas Gradman, treu und grau, machte seinen täglichen Spaziergang und kaufte sein tägliches Gemüse; die Zeiten waren nicht, wie sie gewesen, sein Sohn hatte ein Bein verloren, und man gab ihm nicht mehr die kleinen hübschen geflochtenen Körbe, die Sachen darin zu tragen, und diese Untergrundbahnen waren eigentlich ganz bequem – aber er durfte nicht klagen, seine Gesundheit war in Anbetracht seines Alters gut, und nach vierundfünfzig Jahren Tätigkeit in Rechtssachen erhielt er rund Achthundert im Jahr, war aber in letzter Zeit ein wenig ängstlich gewesen, weil es meist Kommissionsgebühren waren, und bei dieser fortwährenden Beschäftigung mit dem Vermögen der Forsytes hatte man das Gefühl, auf dem trockenen zu sitzen, während die Preise der Lebensmittel immer noch hoch waren; allein es hatte keinen Sinn, sich zu ärgern – »Der liebe Gott hat uns alle geschaffen«, pflegte er zu sagen; zu Grundstücken in London aber – er wußte nicht, was Mr. Roger oder Mr. James sagen würden, wenn sie sehen könnten, daß sie so verkauft wurden – schien man kein Zutrauen zu haben; aber Mr. Soames, der ärgerte sich, doch seine Gesundheit war wunderbar, und Miß Fleur ein hübsches kleines Ding, das muß man sagen; sie würde heiraten; aber eine Menge Leute hatten heutzutage keine Kinder – er hatte sein erstes Kind zu zweiundzwanzig; und Mr. Jolyon, der sich verheiratete, während er in Cambridge war, hatte im selben Jahr sein Kind – du lieber Himmel! Das war im Jahre 1869, lange bevor der alte Mr. Jolyon – ein guter Kenner von Grundstücken – sein Testament von Mr. James fortgeholt hatte – ach ja! Damals kauften sie überall Häuser, und es gab kein Khaki und dies Übereinanderherfallen; und Gurken zu zwei Pence; und eine Melone – die alten Melonen, die einem den Mund wäßrig machten! Fünfzig Jahre, seit er in Mr. James' Bureau eintrat und Mr. James zu ihm gesagt hatte: »Na, Gradman, Sie sind noch ein Grünschnabel – geben Sie sich Mühe, und Sie werden Ihre Fünfhundert im Jahr haben, ehe Sie sich's versehen.« Und so war es, und er fürchtete Gott und diente den Forsytes und behielt abends seine vegetarische Diät bei. Und nachdem er ein Exemplar des »John Bull« gekauft hatte – nicht etwa, weil er etwas davon hielt, es war zu extravagant –, stieg er mit seinem braunen Papierpaket in den Fahrstuhl und ließ sich in das Innere der Erde hinunter befördern.


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