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Die heilige Messe war zu Ende. Ich schritt zur Sakristei, legte die Gewänder ab, schloß die Türe und kniete mich auf die steinerne Altarstufe zur Danksagung.
Die Christen blieben noch eine Weile in der Kirche und rezitierten einigemal zusammen fünf Fragen aus dem Katechismus und die Worte eines Liedes, um sie im Gedächtnis aufzufrischen – ihr täglicher Fortbildungsunterricht.
Die Kirchenpforte tat sich auf; ein Leichenzug trat herein. Die Träger mit der auf den Schultern getragenen Bahre standen still und warteten auf Bescheid.
Ein Meßdiener trat zu mir her: »Pater, sie bringen eine Leiche, den Paul Likaka, den einzigen Christen aus dem Dorfe des Häuptlings Kwakwa, den du vorgestern versehen hast. Sollen wir läuten, das Weihrauchfaß in Glut setzen, Weihwasser bereitstellen?«
»Ja, tut das gleich. Es ist gut, daß die Christen noch versammelt sind. – Sagt aber den Trägern dort, sie möchten die Leiche hier vor dem Altar aufbahren.«
So brachten sie das Bambusbett mit der Leiche und stellten es in die Chormitte vor den Altar. Der Körper war in ein weißes Tuch eingeschlagen – das Taufgewand des Verstorbenen –, sein Gesicht mit einem Schweißtuch verhüllt. Eine schwarze Decke mit aufgenähtem gelben Kreuze ward darüber ausgebreitet, zur Rechten und Linken je zwei Leuchter mit brennenden Kerzen aufgestellt. Die Christen beteten leise für den Toten. Im Hintergrund stand die Schar der Heiden, die die Leiche ihres Bruders gebracht hatten, weil sie wußten, daß die Christen nach dem Tode in die Kirche getragen werden und von dort aus das Begräbnis geschieht unter Anführung des Priesters und unter Begleitung der betenden Christen. Da ja nicht das heilige Meßopfer bevorstand, wies ich sie nicht aus der Kirche. Ich trat dann in schwarzen Gewändern an den Altar, die Einsegnung der Leiche vorzunehmen. Doch zuvor gab ich eine Ermahnung an die Christen: »Heute habt ihr nicht recht gehandelt, liebe Leute: ihr habt die Leiche eures Bruders erst nach der heiligen Messe gebracht. Ich will die Leichen vorher hier sehen, um gleich die heilige Messe für den Verstorbenen lesen zu können. So ist es der Kirche Wunsch.« – »Pater«, flüsterte einer der Ministranten, »die Heiden haben ihn ja gebracht! Wir Christen wußten nichts von seinem Tode; gestern noch waren wir bei ihm; er lebte!« Nach der Vorschrift des Rituale ward nun die Leiche mit Weihwasser besprengt, der Weihrauch eingelegt und die Segnung vorgenommen. Dem letzten »Herr, gib ihm die ewige Ruhe« folgte meinerseits – so erwarten es die Neger und schauen genau darauf – ein kräftiger Guß mit dem geweihten Wasser.
Da – Entsetzen! – Schrecken! – Die Nächstknieenden waren zurückgeprallt, aufgesprungen und davongeflohen. Ich stand und schaute. Unter den Tüchern bewegte es sich! Er lebt! – Ich trat vor, nahm das schwarze Tuch weg, hob das Schweißtuch vom Gesicht: wir starrten uns gegenseitig in die Augen.
»Paul, ist's möglich! Was haben sie dir getan?«
»Ach, – die Heiden – böse! – Ich tot – fort.«
»Wo sind die Männer, die ihn gebracht haben?«
»Wir? Hier, Herr! – Wir sind seine Brüder!«
»Schöne Brüder seid ihr! Wußtet ihr denn nicht, daß er lebt? Weshalb habt ihr mir ihn gebracht?«
»Was! Der lebt? Nennt man das noch leben? Er ißt nicht mehr! Das heißt tot sein! Wo die Sache so steht, begraben wir.«
»Habt doch ein Herz, ihr Menschen! Das ist ja schrecklich! Ihr wollt einen Bruder lebendig begraben? Tragt ihn wieder heim! Ich schicke ihm Medizin und Nahrung.«
Zögernd hoben sie die Bahre auf und traten den Rückweg an, nicht ohne Brummen.
Mehrmals besuchte ich den Kranken. Zu retten gab es allerdings nichts mehr. Er hatte einen Schlaganfall erlitten, war fast ganz gelähmt, und die Speiseaufnahme ging schwer. –
Nach drei Wochen, als ich in der Frühe in die Kirche wollte, wartete dort wieder eine Menschenschar, und vor dem Tore stand wieder die Bahre mit dem eingewickelten Paul.
»Jetzt ist er aber tot, Herr! Jetzt muß er begraben werden!«
»Das will ich sehen. Ich traue euch nicht mehr!«
Wahrhaftig, die Augen waren hell und beweglich; schwaches Mienenspiel; das Herz schlug. Wer hätte da dem Unwillen nicht Luft gemacht! Mit Worten und Fäusten überfiel ich die Schurken und nötigte sie zur Rückkehr. Sie schimpften:
»Ein Mensch, der nicht ißt und sich nicht regt, der ist tot, der wird begraben!«
»So gebt mir ihn; ich behalte ihn in meinem Dorfe.«
»Wir werden dir unsern Bruder geben? Bist du krank in deinem Kopfe?«
In der Nacht klopfte es an meine Türe:
»Pater, die Wilden halten Totengesänge ab. Ob die den Paul begraben? Soll ich schauen?«
»Du nicht, du bist zu klein! Rufe den Isotuma! Er ist ein Riese; die Wilden haben Angst vor seiner Kraft.«
Der Gerufene ging ins Dorf hinein, kam bald wieder und berichtete: »Unser Paul liegt auf dem Bette in seiner Hütte. Die Wilden tanzen, essen und trinken auf dem Platze. Der kleine Alois hat uns unnötig geweckt.«
In der folgenden Frühe stieß ich vor der Kirchentür wieder auf die Bahre, und auf ihr lag Paul, säuberlich in die Tücher eingeschlagen und umbunden, ihm zur Seite Jagdlanze, Messer, Pfeife, Tabak, Stoffe, Messingstäbchen. Auf der Erde standen Töpfe mit Palmsaft, Palmöl und Speisen. Niemand war zu sehen als ein alter Mann, der auf dem Boden kauerte.
»Ich bin sein Vater (= väterlicher Verwandter). Unsre Brüder haben ihn gebracht und gesprochen: ›Wir haben jetzt alles getan, was wir für die Toten tun. Wir haben ihm den Schädel rasiert; alle seine Väter, Mütter, Brüder und Freunde haben ihn der Reihe nach gewaschen, dann haben wir ihn geölt und ihm Körper und Gesicht mit Farben tätowiert und ihn gut eingepackt. Wir haben für ihn getanzt und gesungen, haben für ihn gegessen und getrunken; alle seine verzehrbare Habe ist fort, seine Hühner und Enten und Hunde. Seine Frau haben wir schwarz bemalt und ihr Pfeffer in die Augen gestreut, daß sie nichts von allem sehe und trauere, bis wir sie einem andern Mann verkauft haben. Nun werden wir den ganzen Monat jammern, uns nicht waschen, nicht kämmen, das Haus nicht kehren. Das Gras soll rings um seine Hütte wachsen, weil du nicht willst, daß wir ihn darin bestatten. Unsre Arbeit für den Toten ist fertig; an dir ist es nun, die Geister zu verjagen und ihm auf den Weg ein Zaubermittel mitzugeben. Das ist doch der Grund, weshalb die Christen dir ihre Leichen in die Kirche bringen. Nicht wahr? Danach legst du unsern Bruder in den Boden; doch laß uns wissen, wann und wo.‹«
Bild 5. Katechistenschule.
Bild 6. Missionsfahrt.
Bild 7. Erste Kapelle.
Bild 8. Wangelimadorf.
»Ich will sehen, ob er wirklich tot ist. Entferne die Tücher.«
»Gewiß ist er tot! Bin ich denn nicht sein Vater? Hab' ich nicht auch meinen Verstand?«
Paul rührte sich nicht; doch war er weder starr noch kalt; sein Auge glänzte und hob sich unter dem Drucke. So ließ ich ihn in eine meiner Arbeiterwohnungen tragen und erwärmen. Nach zwei Tagen erlosch er für dieses Leben, worauf wir ihn christlich begruben.
Am darauffolgenden Tage ging ich zu sehen, ob man nicht die Leiche aus dem Grab genommen hatte, um sie, wie es häufig geschah, zu verzehren. Doch nein: über demselben hatten seine Brüder ein hüttenähnliches Dach errichtet und eine Unzahl Töpfe mit Speisen und Palmsaft darauf gestellt. Ich verlangte, daß sie ihre Töpfe und Speisen entfernten, da es nicht Pauls Wille gewesen sei, derlei über seinem Grabe zu haben. – Pauls Frau, die noch Katechumene war, aus ihren Händen zu befreien und christlicher Ehe zuzuführen, war eine langwierige Sache.