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Achtes Kapitel.

Oliver Twist.
1838.

Die ganze Zeit welche »Nickleby« nicht in Anspruch nahm, wurde jetzt »Oliver« gewidmet und indem der Roman sich seinem Ende näherte, übte er eine außerordentliche Gewalt über ihn aus. Meines Wissens arbeitete er bei keiner andern Gelegenheit so häufig nach Tische, oder zu so späten Stunden (eine Gewohnheit, der er nachher völlig entsagte), wie während der letzten Monate dieser Arbeit, die er jetzt vor Oktober zu beendigen hoffte; obgleich sie in dem Magazin erst im folgenden März zum Abschluß zu kommen brauchte. »Ich arbeitete gestern Abend ganz gut,« schrieb er mir mit Bezug darauf im Mai, »in der That sehr gut; aber obgleich ich vor halb eins elf enggeschriebene Seiten fertig hatte, fehlen doch noch vier an der Beendigung des Kapitels, und da ich diese thörichter Weise für heute Morgen aufsparte, muß die Maschine erst von Neuem wieder in Bewegung gesetzt werden.« Einen Monat später schreibt er: »Ich kam gestern Abend bis zur sechszehnten Seite und werde thun was ich kann, daß ich bis zur dreißigsten komme, eh' ich zu Bett gehe.« Hier ist ein anderer Brief aus demselben Monat: »Den ganzen Tag habe ich an »Oliver« gearbeitet und hoffe, vor Schlafengehen das Kapitel zu beendigen. Es wäre mir lieb, von Dir zu erfahren, was Sir Francis Burdett in Birmingham über ihn gesagt hat. Burdett hat mir soeben den » Courier« geschickt, der sich auf seine Rede bezieht, aber die Rede selbst habe ich nicht gesehen.« Dann, an einem »Dienstag Abend«, zu Anfang August, schrieb er: »Noch immer fleißig an der Arbeit. Nancy ist dahin. Ich zeigte das was ich gethan hatte, gestern Abend an Kate, die in einen unaussprechlichen » Zustand« gerieth – woraus und aus meinem eignen Eindruck ich einen günstigen Schluß ziehe. Wenn ich Sikes zum Teufel geschickt habe, muß ich Deine Ansicht darüber hören.« – »Nein, nein,« schrieb er während des folgenden Monats, »laß uns erst morgen reiten, da ich mit dem Juden noch nicht fertig bin, der ein solcher Ausbund ist, daß ich nicht weiß, was ich mit ihm anfangen soll.« Keine geringe Schwierigkeit für einen Erfinder, wenn er findet, daß die Schöpfungen seines Genies ebenso wirklich sind als er selbst – doch auch dies wurde bewältigt und dann blieb weiter nichts mehr übrig, als in dem ruhigen Schlußkapitel von den Schicksalen derjenigen, die in der Geschichte aufgetreten waren, zu berichten. Hierzu beschied er mich in der ersten Septemberwoche zu sich, indem er meine Bitte, mich an jenem Tage zu besuchen, beantwortete: »Komm und besuche mich und laß uns ein Stück Unterredung haben, ehe wir ein Stück von sonst Etwas haben. Meine Frau geht zu Tische aus und auch ich sollte hingehen, bin aber mit einer starken Erkältung behaftet. So komme jedenfalls und sitze hier und lies oder arbeite, oder thu' was Du willst, während ich das letzte Kapitel von »Oliver« schreibe, was nach einem Lammscotelette geschehen wird.« Wie gut erinnere ich mich jenes Abends, und unsrer Unterhaltung darüber, was Charley Bates' Schicksal sein solle, für den Talfourd (wie auch für den Schlaukopf) ebenso ernst um eine Ermäßigung der Strafe plaidirt hatte, wie je für einen wirklichen Clienten den er aufrichtig achtete. Sir Thomas Talfourd, ein Mann von vielseitigem Talent und intimer Freund Dickens', erwarb sich als Jurist, Parlamentsmitglied und dramatischer Dichter einen höchst geachteten Namen. Er starb 1854 in Stafford, auf einer seiner Berufsreisen, als Oberrichter an dem Court of Common Pleas. – D. Uebers.

Die Veröffentlichung des ganzen Romans war für den Oktober angekündigt, aber die Illustrationen zum dritten Bande hielten sein Erscheinen etwas auf. Die Vollendung dieses letzten Bandes ging, wie wir sahen, dem Abdruck in dem Magazin voraus, und da aus diesem Grunde auch die von Cruickshank dafür gelieferten Zeichnungen in Bausch und Bogen ausgeführt werden mußten, wurden sie nothwendigerweise etwas eilig gemacht. Die drei letzten Illustrationen waren: Sikes und sein Hund, Fagin in der Zelle und Rose Maylie und Oliver. Keine dieser Illustrationen hatte Dickens gesehen, ehe er sie am Vorabend der Veröffentlichung in dem Buche sah, und sein Widerspruch gegen eine derselben war so entschieden, daß sie ganz ausgelassen wurde. »Ich kehrte gestern Nachmittag plötzlich nach London zurück,« schrieb er an Cruickshank, »um mir die letzten Seiten von »Oliver Twist« zu betrachten, ehe das Werk an die Buchhändler versandt wurde und sah bei dieser Gelegenheit die Mehrzahl der Radirungen im letzten Bande zum erstenmal. Ohne die Frage großer Eile, oder irgend eine andre Ursache, welche die Illustrationen zu dem gemacht haben was sie sind, hier zu erörtern, kann doch meiner Ueberzeugung nach in Bezug auf die letzte (Maylie und Oliver) hinsichtlich des Resultates wenig Meinungsunterschied zwischen uns bestehen. Darf ich Sie bitten, von diesem Blatte eine neue Zeichnung zu entwerfen und zwar sogleich, damit von dem gegenwärtigen so wenig Exemplare als möglich ins Publikum kommen? Ich bin fest überzeugt, daß Sie mich zu gut kennen, um sich durch diese Frage verletzt zu fühlen, und mit demselben Vertrauen auf Sie habe ich keine Zeit verloren, sie Ihnen vorzulegen.« Dieser Brief, der hier nach einer glücklicherweise meinen Händen anvertrauten, von Dickens selbst herrührenden Copie abgedruckt ist, beseitigt vollständig eine wunderbare Geschichte, Wieder abgedruckt, ohne ein Wort des Widerspruchs oder Zweifels in einer bei Hotten (London 1870) erschienenen Lebensbeschreibung Dickens'. »Dr. Shelton Mackenzie erzählt in der amerikanischen Zeitschrift Round Table folgende Anekdote über Oliver Twist. In London war ich mit den Brüdern Cruikshank befreundet, Robert und George, aber ganz besonders mit dem letzteren. Als ich ihn eines Tages in seinem Hause in Myddleton Terrace besuchte, mußte ich warten, während er eine Radirung fertig machte, die ein Druckerjunge mit fortnehmen sollte. Um mir die Zeit zu vertreiben, folgte ich gern seinem Vorschlage, mir ein auf dem Sopha liegendes Portfolio zu betrachten, das mit Radirungen, Probebogen und Zeichnungen angefüllt war. Unter diesen, nachlässig in ein Stück braunes Papier eingewickelt, befand sich eine Reihe von 25–30 sorgfältig ausgeführten Zeichnungen, die der Mehrzahl nach die wohlbekannten Portraits von Fagin, Bill Sikes und seinem Hunde, Nancy, dem Schlaukopf, Master Charles Bates vorführten – sämmtlich den Lesern »Oliver Twist's wohl bekannt. Es war nicht zu verkennen und als Cruikshank, nach Vollendung seiner Arbeit, sich zu mir umwandte, bemerkte ich dies gegen ihn. Er sagte, er habe lange beabsichtigt, das Leben eines Londoner Diebes in einer von ihm selbst ausgeführten Reihe von Kupferstichen darzustellen, in der, ohne ein einziges erklärendes Wort, die Geschichte klar und schlagend erzählt werden sollte. ›Dickens‹, fuhr er fort, ›kam eines Tages zu mir, grade wie Sie heute, und während er wartete, bis ich ihn sprechen konnte, nahm er jenes selbe Portfolio zur Hand und suchte sich dasselbe Bündel Zeichnungen heraus. Als er an das Blatt kam, das Fagin in der Mörderzelle darstellt, studirte er es eine halbe Stunde lang und sagte mir, er fühle sich versucht, die ganze Anlage seines Romans zu ändern, Oliver Twist nicht auf dem Lande Abenteuer bestehen zu lassen, sondern ihn nach London in eine Diebshöhle zu bringen, zu zeigen, welch ein Leben die Diebe führten und Oliver ohne Sünde oder Schande aus demselben hervorgehen zu lassen. Ich gab meine Einwilligung, daß er so viele von den Zeichnungen, als er wolle, zu diesem Zweck benutzen könne, und auf diese Weise entstanden Fagin, Sikes und Nancy. Sie wurden mehr durch meine Zeichnungen angeregt, als seine Erfindungsgabe zu meinen Zeichnungen anregte.« Seit dies abgedruckt wurde, habe ich das in Amerika veröffentlichte Leben Dickens' von Dr. Shelton Mackenzie gesehen, in dem ich zu meinem Bedauern diese Geschichte wörtlich wiederholt finde. Die einzigen Unterschiede bestehen darin, daß das Jahr 1847 als das Datum des Besuchs genannt und erklärt wird, es seien, außer den erwähnten ›Portraits‹, noch viele andre da gewesen, die nicht in den Roman aufgenommen wurden. welche zuerst in Amerika vorgebracht wurde und zwar mit einer eingehenden Gewissenhaftigkeit des Details, die den Ruf Sir Benjamin Backbite's selbst hätte erhöhen können. Sir Benjamin Backbite ist eine der sprüchwörtlich gewordenen Charakterfiguren aus Sheridan's School for Scandal. Seine Rolle ist die des hinterlistigen Ohrenbläsers und Verläumders. – D. Uebers. Ob jedoch alle Lorbeern Sir Benjamin's dem ursprünglichen Erzähler der Geschichte gebühren, oder ob ein Theil derselben der angeblichen Autorität zukommt, von der er, wie er sagt, dieselbe empfing, ist unglücklicher Weise nicht ganz klar. Wäre die Fabel auf die andre Seite des Atlantischen Oceans beschränkt geblieben, so hätte kaum ein Zweifel darüber bestehen können; aber sie hat auch auf dieser Seite eine weite Verbreitung gefunden und der ausgezeichnete Künstler, den sie verläumdet, indem sie ihm ihre Erfindung zuschreibt, ist, entweder weil er nichts davon wußte, oder weil ihm nicht daran lag, sich zu vertheidigen, gegen diese Verläumdung unvertheidigt geblieben. Der Umstand, daß ich Dickens' Brief anführen konnte, überhebt mich der Nothwendigkeit, die Geschichte selbst durch das eine unhöfliche Wort (in vier Buchstaben) zu charakterisiren, welches allein auf dieselbe anwendbar gewesen sein würde.

Der vollständige »Oliver Twist« fand einen Kreis von Bewunderern, dessen Umfang nicht so weit war, als derjenige andrer seiner Bücher; aber der Charakter und das Ansehen dieser Bewunderer machten ihre ehrliche Liebe zu dem Buche und ihre standhafte Vertretung desselben von Bedeutung für seinen Ruhm und es hat seinen Platz in der ersten Reihe von Dickens' Werken behauptet. Es verdient diesen Platz. Die anerkannten Uebertreibungen in »Pickwick« erklären sich aus dem abenteuerlichen Wesen des Clubs, von dem sie einen Theil bilden und lassen sich von der Wirklichkeit seines Witzes und Humors und seiner unvergleichlichen Frische leicht trennen; aber solche Zugeständnisse waren hier unnöthig. So große Abzüge auch der überpeinliche Leser »Olivers« für die ›Niedrigkeit‹ des Gegenstandes machen mochte, die Schärfe und unübertriebene Kraft der Darstellung konnten nicht bestritten werden. Die Kunst, nach der Natur zu zeichnen, wie sie wirklich in den gewöhnlichen Wegen des Lebens existirt, war von Niemandem zu größerer Vollendung gebracht worden, oder hatte in Bezug auf Combination bessere Erfolge erzielt. Seine Behandlung des Stückes von thatsächlichem, vorhandenem Alltagsleben, das er hier zur Grundlage seines Witzes und seines Zartgefühls machte, war der Art, daß das Buch, welches viel dazu beitrug, die darin geschilderten gesellschaftlichen Uebelstände aus der Welt zu verbannen, wahrscheinlich ihr Bild, wie sie damals waren, am längsten erhalten wird. Bis hierher hatte er in der That Nichts geschrieben, was in höherem oder geringerem Grade an dieser glücklichen Eigenschaft nicht Theil hatte. Zu der Zeit, von welcher ich rede, waren die in »Pickwick« geschilderten Schuldgefängnisse, die in »Oliver« angeklagte Gemeindeverwaltung, und die in »Nickleby« bloßgestellten Schulen von Yorkshire, Alles wirkliche Existenzen, die jetzt keine lebendigere Existenz besitzen, als in den Formen, welche er ihnen verlieh. Von weiseren Zwecken beseelt, setzte er das alte versteinernde Verfahren des Magiers in Tausend und eine Nacht bei Seite und verlieh den Gefängniß- und Gemeindemißbräuchen seines Vaterlandes, seinen Schulen der Verwahrlosung und des Verbrechens, auf immer ein handgreifliches Leben. Ein Theil der Wahrheit der Vergangenheit, des Wesens und sogar der Geschichte der moralischen Mißbräuche seiner Zeit, wird so immer in seinen Schriften erhalten bleiben und man wird sich daran erinnern, daß er, ohne andre Mittel, als die leichten Waffen des Humors und des Gelächters und die milden des Pathos und der Trauer, Reinigung und Reform in jene Augias-Ställe einführte.

Nicht, daß solche Absichten je von diesem am wenigsten didaktischen aller Schriftsteller aufgedrängt würden. Es sind die Thatsachen, welche lehren und nicht die daraus hergeleiteten moralischen Auseinandersetzungen. Oliver Twist ist die Geschichte eines Knaben, der in einem Armenhause geboren und von den Gemeindeaufsehern erzogen wird und nichts mit dem Plane nicht Uebereinstimmendes wird hineingemischt. Eine Reihe von Gemälden aus der Tragikomödie des Lebens der niedern Klassen wird auf völlig natürliche Weise vor uns entfaltet, von der sterbenden Mutter und den hungerleidenden Armen des ersten Bandes, durch die Scenen und Abstufungen eines bald sorglosen, bald vorbedachten Verbrechens, die in dem letzten Bande eine schreckliche Vollendung erreichen, aber nie, trotz aller Entartung, die sie schildern, des menschlichen Hintergrundes und menschlicher Charakterzüge entbehren. Es ist in der That der Hauptzweck der Erzählung, zu zeigen, wie ihr kleiner Held, so arg er in dem kläglichen Gedränge umhergestoßen wird, doch überall durch eine ungemeine Zartheit des Naturgefühls, die ihm auch unter den ungünstigsten Verhältnissen nicht verloren geht, vor dem Laster ihrer Befleckung bewahrt bleibt. Es gibt keinen meisterhafteren Charakterzug aus dem Gebiete des Romans (und durch solche Charakterzüge entwickelt diese schöne Dichtung sich consequent bis ans Ende), als der Ausbruch von Oliver's kindlichem Schmerz bei seiner Entfernung aus dem Arbeitshause, der elenden Heimath, die nur mit Vorstellungen des Leidens und des Hungerns und mit keinem freundlichen Wort oder Blick für ihn verknüpft ist, aber doch seine kleinen Leidensgefährten birgt.

Ueber die Charaktere, mit welchen das Buch alle Welt vertraut gemacht hat, ist es nicht meine Absicht zu reden. Einige von ihnen zu nennen, wird genügen. Bumble und dessen Frau; Charley Bates und der Schlaukopf; der feige Armenschüler Noah Claypole, dessen »Solche Qual, verzeihen Sie« das ganze Schulleben in ein paar Worte zusammendrängt; der sogenannte lustige alte Jude, der geschmeidige und schwarzherzige Fagin und Bill Sikes, der kühner ausschauende, starkknochige Schurke, mit seinem weißen Hut und weißen ruppigen Hunde – wer kennt sie nicht Alle, bis auf die geringsten Punkte ihrer Kleidung, ihres Aussehens, ihres Ganges und aller der kleinen Besonderheiten, die bedeutsame Charaktereigenthümlichkeiten ausdrücken? Ich habe die arme bejammernswerthe Nancy ausgelassen – und doch kann man von ihr sagen, mit so ehrlicher Wahrhaftigkeit sind ihre Stärke und ihre Schwäche in der Tugend, die in ihrer Natur so eng an das Laster grenzt, dargestellt, daß die Leute, welche ganz tugendhaft sein sollen, sich kläglich neben ihr ausnehmen. Aber obgleich Rose und ihr Liebhaber neben Bill und seiner Geliebten unbedeutend genug erscheinen und in Wahrheit die schwache Seite des Romans bilden, ist es das hervorragende Verdienst des Buches, daß das Laster darin nirgends anziehend gemacht ist. Das Verbrechen stellt sich ebenso tief widerwärtig dar, als es tief elend und unglücklich ist. Nicht nur wenn seine Enthüllung kommt, wenn die verborgenen Schlupfwinkel der Schuld aufgedeckt werden und alle Qualen der Reue zu Tage treten, nicht nur in den großen Scenen, sondern in den leichteren Stellen, wo kein solches Ziel die anscheinend nachlässige Hand gelenkt zu haben scheint, ist dies in emphatischer Weise der Fall. Sei es die Komödie oder die Tragödie des Verbrechens – Schrecken und Vergeltung folgen ihm auf den Fersen nach. Sie sind ebenso deutlich sichtbar, wenn Fagin zuerst in seiner Höhle erscheint, beschäftigt, sich in einem Topfe Kaffee zu kochen und immer wieder einhält, und horcht, ob unten das geringste Geräusch ist – denn das schurkische Vertrauen der Gewohnheit tilgt in ihm nie die ängstliche Wachsamkeit und das Lauschen des Verbrechens – wie, wenn wir ihn zuletzt in der Mörderzelle sehen, eine vergiftete menschliche Ratte in ihrem Loch.

Wir wollen ein Wort über die gegen den Gegenstand des Buches gerichteten Angriffe hinzufügen, auf welche Dickens in einer späteren Ausgabe erwiederte, indem er die Ueberzeugung aussprach, daß er versucht, der Gesellschaft einen Dienst zu leisten und ihr jedenfalls keinen Schaden zugefügt habe, indem er eine Bande solcher Gefährten des Verbrechens in ihrer ganzen Entartung und ihrem schmutzigen Elend durch ein klägliches Leben einem schmerzlichen und schmachvollen Tode zuschleichend schilderte. In der That kann der Gegenstand nie verwerflich sein, wenn es nicht die Behandlung ist, wie sich aus vielen seitdem veröffentlichten populären Schriften ergibt, wo tadellos hohe Gegenstände durch herabwürdigende Sinnlichkeit erniedrigt werden. Wenn es der Zweck des Schriftstellers ist, die Gemeinheit des Lasters und nicht seine Ansprüche auf Heroismus oder sein Verlangen nach Sympathie darzustellen, so darf er seinen Gegenstand mit den höchsten Gegenständen messen. Wir begegnen einer Reihe von Schwindlern und Dieben im Gil Blas; wir schütteln einem ganzen Kreise von Räubern und Hausbrechern die Hände in der Beggars Opera Ein berühmtes Melodrama des Humoristen John Gay (1688–1732), dessen Held ein Straßenräuber ist. – D. Uebers., wir mischen die Karten mit La Rüse oder stehlen mit Jonathan in Fielding's Mr. Wild the Great; wir folgen der Grausamkeit und dem Laster von ihren leisesten Anfängen zu ihrem gröbsten Ende in den Kupferstichen Hogarth's – aber unsre Moral erleidet dadurch keine Erschütterung. Wie der Geist des Franzosen reiner Lebensgenuß war, so lag die Stärke der Engländer in ihrer Weisheit und ihrer Satire. Das Niedrige wurde vorgeführt, um die falschen Ansprüche des Hohen zu zerstören. Und obgleich sie in Darstellung und Plan meist von diesen Dickens'schen Romanen abweichen, da sie weniger die Seele des Guten in dem Schlechten zu entdecken, als dem gewöhnlich für gut Gehaltenen den Stempel des Schlechten aufzudrücken streben, sind doch ihre Zwecke und Resultate wesentlich dieselben. Mit der niedrigsten Entartung des Lebens vertraut, benutzen sie wie er ihre Erkenntniß, um zu lehren, worin sein wesentlicher Adel besteht und grade an der Rohheit und Gemeinheit der behandelten Stoffe messen wir den Edelsinn und die Schönheit der vollendeten Arbeit. Der Quacksalber der Moral wird solche Werke immer unmoralisch nennen und die Betrüger werden sich immer über die Ungerechtigkeit beklagen, womit sie den Betrug behandeln; aber der übrigen Welt werden sie trotzdem durch das, was die Menschen sind, die unschätzbare Lehre kundthun, was sie sein sollten. Wir können diese Lehre nicht mehr als genug lernen. Wir können es nicht zu oft hören, daß, wie der Stolz und Pomp bloß äußerlicher Umstände die täuschendsten irdischen Dinge sind, so die Wahrheit der Tugend im Herzen das lieblichste und dauerndste ist, und diese Lehre kann noch einmal auf den Seiten »Oliver Twist's« von Allen empfangen werden, die sie dort suchen wollen.

Während aber »Oliver« eine große Bahn des Erfolges und der Popularität durchlief, fing der Schatten des Romans »Barnaby Rudge«, den Dickens unter ähnlichen Bedingungen schreiben und in dem Miscellany beginnen sollte, nachdem jener zu Ende geführt war, Alles um ihn her zu verdunkeln an. Wir hatten viele Erörterungen darüber und es kostete mir keine geringe Mühe, ihn zu verhindern, daß er das Uebereinkommen vollständig über den Haufen warf; doch die wirkliche Schwierigkeit seiner Lage und die rücksichtsvolle Deutung, welche allen Bemühungen seinerseits, sich Verpflichtungen zu entziehen, die er in Unkenntniß der dadurch bedingten Opfer eingegangen war, zu Theil werden mußte, wird man am besten aus seiner eigenen offenen und ehrlichen Erklärung erkennen. Am 21. Januar 1839 schrieb er mir unter Einschluß eines Briefes, den er am folgenden Morgen an Bentley abschicken wollte, wie folgt: »Nach dem, was ich Dir schon gesagt, wirst Du wohl zu dem Schluß gekommen sein, daß ich eine solche Absicht hegte. Ich weiß, Du wirst mir nicht widerrathen, den Brief zu schicken. Abgehn muß er. Es ist keine Unwahrheit, wenn ich sage, daß ich jetzt diesen Roman nicht schreiben kann. Der ungeheure Profit, welchen Oliver seinem Verleger gebracht hat und noch bringt, die jämmerliche, elende, klägliche Summe, die er mir eingetragen hat (nicht so viel, als jeden Tag für einen Roman bezahlr wird, von dem höchstens 1500 Exemplare verkauft werden); die Erinnerung hieran und das Bewußtsein, daß ich mich noch der Sklaverei und Plackerei unterziehen muß, ein andres Werk für denselben Gesellenlohn zu schreiben; das Bewußtsein, daß meine Bücher sämmtliche Betheiligten bereichern, außer mir selbst, und daß ich, trotz aller Popularität, die ich errungen, mich in alten Banden abmühe und meine Kräfte auf der Höhe meines Ruhms und in der Blüte meines Lebens vergeude, um andrer Leute Taschen zu füllen, während ich für die, welche mir am nächsten und theuersten sind, wenig mehr gewinnen kann als einen anständigen Unterhalt – Alles dies macht mich muthlos und verzagt. Und ich kann mich, kann nicht und will mich nicht unter solchen Umständen, die mich mit eiserner Hand niederhalten, damit quälen, daß ich diesen Roman anfange, ehe ich Zeit gehabt habe, Athem zu schöpfen und ehe das Eintreten des Sommers und einige heitre Tage auf dem Lande mir eine frohere Stimmung und größere Seelenruhe zurückgegeben haben werden. Für sechs Monate bleibt also »Barnaby Rudge« liegen. Und wäre es nicht um Deinetwillen, würde er ganz liegen bleiben. Denn ich erkläre aufs feierlichste, daß ich mich moralisch, vor Gott und Menschen, solcher harten Vergleiche für entbunden halte, nachdem ich so viel für die gethan, die sie betrieben. Dieses Netz, das mich umgarnt hält, bringt mich so auf, erbittert und reizt meinen Geist so sehr, daß ich beständig den Drang fühle, es zu zerreißen, es koste was es wolle. Aber ich habe diesem Drange nicht nachgegeben. Ich erkläre nur, daß ich einen bei allen literarischen Contracten sehr gewöhnlichen Aufschub haben muß – sechs Monate, von der Beendigung »Olivers« in dem Miscellany. – Ich wasche mir die Hände vor jeder frischen Anhäufung von Arbeit und bin entschlossen, mit derjenigen, die bereits auf mir lastet, so heiter als möglich fortzufahren.« Nach Empfang seines Briefes erinnerte ich ihn auf zarte Weise daran, daß ich mich damals gegen das Uebereinkommen erklärt hatte, bei dessen Mißlingen er mich ermächtigte, den Vergleich abzuschließen, den er jetzt bei Seite setzen wollte. Ich kann seine Antwort nicht mittheilen, da es sich nicht schicken würde, die Wärme ihrer Ausdrücke gegen mich zu wiederholen, aber die ersten Reihen will ich, um einer möglichen zukünftigen Mißdeutung vorzubeugen, anführen. »Wenn Du denkst, daß irgend etwas in meinem Briefe im allerentferntesten die geringste Unzufriedenheit gegen Dich kundgibt, so entschlage Dich um Gottes Willen eines solchen Gedankens. Nie wenn Du für mich unterhandelt hast, habe ich auch nur eine augenblickliche Annäherung an Zweifel oder Unzufriedenheit empfunden . . . Ich könnte mehr sagen, aber Du würdest mich für thöricht oder rhapsodisch halten und Gefühle wie die, welche ich für Dich hege, bleiben besser in der Brust bewahrt, als daß man ihnen in unvollkommenen und ungenügenden Worten Ausdruck gibt.«

Was hierauf folgte, braucht nicht ausführlich beschrieben zu werden. Die Mittheilung der Resultate wird genügen. Nachdem in den ersten Monaten des Jahres 1839 der letzte Theil von »Oliver Twist« in dem Miscellany erschienen war, übergab der Verfasser, seiner Verpflichtungen gegen das Magazin entledigt, in einem vertrauten Briefe eines Vaters an sein Kind, die Redaction an Ainsworth und auch der noch bestehende Contract in Bezug auf »Barnaby Rudge« wurde auf Veranlassung Bentley's selbst im Juni des folgenden Jahres (1840) aufgehoben, indem Dickens für das Verlagsrecht von »Oliver Twist« und den noch vorhandenen gedruckten Vorrath der frühern Ausgabe 2500 Pfd. St. bezahlte. Andre Zwischenfälle dieser Verhandlungen sollen später erwähnt werden. Vorläufig wollen wir aus dem vertrauten väterlichen Briefe einige Worte anführen, die in Bezug darauf nicht unwichtig sind. Dieser Brief schildert das Kind als zwei Jahre und zwei Monate alt (so lange hatte er das Magazin überwacht), gibt verschiedene Rathschläge hinsichtlich seiner Circulation und der Wichtigkeit von Licht und angenehmen Nahrungsgegenständen für dasselbe und schließt, nach einigen allgemeinen moralischen Betrachtungen über die Veränderlichkeit dieser Welt, die eine so wundersame Wendung genommen, daß die Conducteure der Postwagen kein Urtheil mehr hätten über Pferdefleisch: »Mein Abschied von Dir bringt mir nicht den geringsten Gewinn, auch wird keine Uebertragung Deines Besitzes erforderlich sein, denn in dieser Beziehung bist Du immer buchstäblich Bentley's Magazin gewesen und nie meines.«

 

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