Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Neunzehntes Kapitel
Der Überfall

Während in der Pfarre Seidentopf und die drei Frauen in dieser Weise plauderten, rückten die Kompanien auf Frankfurt zu. Einzelne Sterne, kaum hervorgekommen, hatten sich ebenso rasch wieder versteckt, und nur der Schnee, der lag, gab gerade Licht genug, um des Weges nicht zu fehlen. Schweigsam, in dunkler Kolonne ging der Marsch, und wer hundert Schritte seitwärts gestanden hätte, hätte nichts wahrgenommen als einen langen Schattenstrich und dann und wann ein paar Funken aus den kurzen Pfeifen der Landsturmmänner. Die Krähen sahen dem Zuge nach, verwundert, aber ohne sich zu rühren, und nur ein paar von ihnen flogen krächzend auf, um es am Wege hin den andern zu melden. Dabei senkte sich das Gewölk immer tiefer, und jeder empfand es wie Schwüle, trotzdem eine kalte Luft strich.

So kamen sie bis Reitwein, wo noch überall Licht war. Viele von den Dörflern, auch hier meistens Frauen, waren bis auf den Fahrweg hinausgetreten, um ihre in der Kolonne befindlichen Angehörigen zu begrüßen, andere blieben in den Türen stehen und wehten und winkten mit weißen Tüchern, was in dem Dunkel, das herrschte, einen unheimlichen Eindruck machte.

Hinter dem Dorfe teilte sich der Weg. Als die Kolonnenspitze den Gabelpunkt erreicht hatte, schwenkten die Barnimschen Bataillone, ganz wie es Seidentopf vermutet hatte, nach links hin in die Niederung ab, während die andere Hälfte des Zuges auf dem Plateau hin weitermarschierte. Bei dieser zweiten Hälfte befand sich, außer dem Kommandierenden und seinem Adjutanten, auch unser Landsturmbataillon Lebus.

An der Spitze desselben, den vordersten Rotten um fünfzig Schritte voraus, ritten Drosselstein und Vitzewitz. Sie kannten Weg und Steg und hatten auf Bammes ausdrücklichen Wunsch die Führung während des Marsches übernommen. Beiden war nicht plauderhaft zu Sinn; endlich aber, als die letzten Reitweinschen Häuser schon in Büchsenschußentfernung hinter ihnen lagen, begann Drosselstein: »Ein Glück, daß wir Hirschfeldt an der Seite des Generals haben. Er ist kaltblütig und kennt den Krieg.«

»Ja«, bestätigte Vitzewitz. »Und ein Glück um so mehr, als der Alte sich selber mißtraut. Er war eitel genug, das Kommando, das wir ihm anboten und in Anbetracht aller Umstände wohl oder übel anbieten mußten, auch wirklich anzunehmen; jetzt aber ist er unsicher, weil er sich seiner Aufgabe nicht gewachsen fühlt. Am liebsten würd' er es jedem einzelnen sagen, und ich rechne es ihm hoch an, daß er darauf verzichtet und sich wenigstens den Leuten gegenüber zum Schweigen zwingt. Er ist kein Mann der ruhigen Überlegung und nur waghalsig für seine Person. Die Verantwortlichkeit drückt ihn. Diese Stunden sind übrigens die schlimmsten. Ist er erst in Aktion, wird er sich selber wiederfinden.«

»Und diese Aktion, wie wird sie ablaufen?« fragte der Graf.

»Ich hoffe, gut; es wäre denn...«

Drosselstein sah ihn fragend an.

»Es wäre denn«, wiederholte Vitzewitz, »daß uns die Russen im Stich ließen.«

»Ich habe nicht nur Tschernitscheffs Zusicherung, ich habe sie, wie Sie wissen, gestern zum zweiten Male empfangen. Er ist kein Mann der Eifersüchteleien.«

»Vielleicht nicht«, antwortete Vitzewitz. »Aber ich kenne die Russen, sie sind launenhaft und lassen es an sich kommen. Dabei haben sie jene glatten gesellschaftlichen Formen, die die Sache nur noch schlimmer machen. Sie versprechen alles und wissen im voraus, daß sie das Versprochene nicht halten werden, wenigstens fühlen sie sich nicht in ihrem Gewissen gebunden. Es fehlt ihnen zweierlei: Ehrgefühl und Mitgefühl. Und Tschernitscheff ist wie die anderen. Es ist möglich, daß er kommt, aber es ist andererseits nicht unmöglich, daß er nicht kommt. Und das ist es, was mir Furcht und Sorge macht.«

Drosselstein suchte zu widerlegen, aber seine Worte verrieten deutlich, daß er im Grunde seines Herzens Berndts Befürchtungen teilte.

 

In der nachrückenden Kolonne war nach wie vor alles still. Schulze Kniehase führte den ersten Zug, Lewin den zweiten, Tubal den dritten. Zwischen dem zweiten und dritten Zuge ging Hanne Bogun. Bamme, seiner hohen Fuchsstute mißtrauend, hatte auf ein Reservepferd bestanden, und der Scharwenkasche Hütejunge war ausersehen worden, den Shetländer am Zaume nachzuführen. In der ganzen Kolonne war er der einzige, dem es wirklich wohl ums Herze war. Eitel und seit dem Tage, wo die »Suche« stattgefunden hatte, von einem immer wachsenden Dünkel gequält, war er auch jetzt wieder begierig, sich hervorzutun, und zweifelte keinen Augenblick, daß sich die Gelegenheit dazu finden würde. Schon sein Aufzug deutete darauf hin; er trug eine Friesjacke und Leinwandhose wie gewöhnlich, aber über die Jacke war ein breiter Ledergurt geschnallt, in den er einen Schlitz gemacht und ein langes, in der Mitte ausgeschliffenes Messer hineingesteckt hatte. Der ganze Junge das Bild eines frechen Tunichtgut.

Tubal, den die Stille bedrückte, trat ein paar Schritte vor und sagte zu dem Einarm: »Hanne, wie heißt das nächste Dorf?«

»Podelzig.«

»Eine halbe Meile, nicht wahr?«

»Joa; awers de de Voß 'meten hett.«

»Wieso?«

»De giwt immer sien'n Swans noch to.«

»Und Podelzig ist halber Weg bis Frankfurt?«

Hanne Bogun nickte.

»Höre, Hanne«, fuhr Tubal fort, »wie war es doch damals, war nicht einer von den Rohrwerderschen aus Podelzig?«

»Joa, Rosentreter.«

»Richtig, Muschwitz und Rosentreter. Nun hab' ich sie wieder. Muschwitz, das war der mit der französischen Uniform und dem Tschako. Weißt du noch?! Was ist denn aus ihm geworden und aus dem andern?«

»De sitten beed' noch.«

»Und die hübsche Frau, die das Kind in dem Schlittenkasten nachfuhr?«

»De sitt ooch noch.«

»Arme Frau.« – Hanne grinste.

»Dat's all nich so schlimm, junge Herr. Rysselmann kachelt in, und upp'n Rohrwerder doa wihr et man küll. Bi Winterdag wüll'n se all insitten; awers wenn de Kalmus kümmt, denn is et wat anners, denn wüll'n se all wedder rut.«

Tubal fragte noch nach dem Spitzkrug und wie weit er vor der Stadt läge. Hanne Bogun wußte aber nichts davon; er war über Podelzig nicht hinausgekommen.

 

An der Queue der Kolonne ritten Bamme und Hirschfeldt.

»Nun, Hirschfeldt, wie ist Ihnen?«

»Gut, Herr General.«

»Freut mich. Ehrlich gestanden, mir will es nicht glücken; ich bin nicht recht in meinem esse, alles kommt mir zu hochbeinig vor, besonders meine Stute. Und solch Überfall ist doch ein eigen Ding, ein Pferd wiehert, ein Hund blafft, und alle Chancen sind hin. Spielen Sie, Hirschfeldt?«

»Ich habe gespielt.«

»Nun, dann wissen Sie, den einen Tag weiß man ganz genau, daß Treff sieben gewinnen wird, und den andern Tag weiß man es nicht.«

»Und solch ein Tag ist heute?«

»Hol' mich der Geier, ja. Sehen Sie die Krähen an, die hier oben sitzen, sie rühren sich nicht einmal. Sie wissen, daß wir ihnen vor Angst nichts tun werden. Kluge Tiere. Eben ritt ich die Kolonne herunter, Gott, wie das alles schleicht, so schwarz und still, als ob dieser Graben der Fluß in der Unterwelt wäre. Wie hieß er doch?«

»Styx.«

»Richtig, Styx. Der reine Leichenzug. Und ich wette, den Kerls ist auch so zumute. Jeder wäre lieber zu Haus.«

Hirschfeldt lächelte.

»Es ist immer so, General. Die beste Truppe macht ein schief Gesicht, eh' es losgeht. Und nun gar bei Nacht. Die Nacht ist keines Menschen Freund, sagt das Sprichwort, und der Soldat ist auch ein Mensch. Aber die Leute sind gut. Die Pikenkompanie unter dem hagern alten Herrn...«

»Rutze.«

»... Diese Pikenkompanie kann als Muster gelten, und die Kompanie Hohen-Vietz kommt ihr gleich. Sehen Sie solchen Mann wie diesen Kniehase, ein Herz wie ein Kind und ein paar Arme wie ein Athlet. Ich habe mir heute bei der Revue jeden einzelnen scharf angesehen. Es wird alles in allem gut ablaufen, immer vorausgesetzt...«

»Nun?«

»Immer vorausgesetzt, daß uns die Russen nicht im Stiche lassen.«

Bamme nickte und sagte dann zustimmend: »Ich traue dem Tettenborn nicht. Flausenmacher. Will sich in die Zeitungen bringen. Berlin, Berlin. Alles dies hier ist ihm zu wenig, macht nicht Aufsehen genug.«

Es war ganz ersichtlich, daß Bamme den ernsten und beinahe feierlichen Tschernitscheff mit dem etwas leichtfüßigen Tettenborn, der seit vollen drei Tagen auf dem Hohen-Barnim, zwischen Küstrin und Berlin, umherschwärmte, verwechselte. Hirschfeldt war auch willens, den Alten respektvollst darüber aufzuklären, dieser aber fuhr ohne Pause fort: »Sie glauben nicht, Hirschfeldt, was ich an solchen Eitelkeiten alles habe scheitern sehen! Und was noch schlimmer ist als die Eitelkeiten, das sind die Rivalitäten, doppelt und dreifach, wenn sie sich ein politisches oder nationales Mäntelchen umhängen können. Und nun gar diese Russen! Ich wette, daß uns jeder von ihnen eine Schlappe gönnt. Es liegt ihnen daran, der Welt und vielleicht auch sich selber weiszumachen, daß es ohne Kosaken nicht geht und daß überall, wo diese Hilfe fehlt, eine Niederlage sicher ist. Sie gefallen sich in ihrer Befreierrolle, und um so mehr, je neuer ihnen die Rolle ist.«

 

Unter solchen Gesprächen setzte sich der Marsch der Kolonne fort, und durch die Nacht hin hörte man nichts als den schweren Tritt der Landsturmmänner auf dem hartgefrorenen Schnee und von Zeit zu Zeit das Klappern ihrer Piken und Gewehre, wenn sie diese von der einen Schulter auf die andere legten. Um zehn Uhr passierten sie Podelzig, um elf die Lebuser Schäferei. Von hier aus war es noch anderthalb Stunde; immer schwankender wurde der lange schattenhafte Zug, bis man es von der Oberkirche her Mitternacht schlagen hörte; einige Minuten später hielten alle am Spitzkrug. Die beiden Barnimschen Bataillone waren schon da und standen zu beiden Seiten des Wegs. Eine kurze Rast war unerläßlich; Bamme ließ die Gewehre zusammenstellen, und gleich darauf saßen die Landsturmmänner auf Zaunplanken und Chausseesteinen und wickelten aus ihren Sacktüchern heraus, was ihnen Weib und Kind an Zehrung mit auf den Weg gegeben hatten. Kein Wort fiel; jeder fragte sich still, ob es wohl seine letzte Mahlzeit sei.

Bamme war während dieser Lagerszene in den Spitzkrug eingetreten, in dessen großem, aber niedrigem und spärlich erleuchtetem Gastzimmer er den erwarteten Vertrauensmann der Frankfurter Bürgerschaften bereits vorfand. Aus seinem Rapport ergab sich, daß alle Häuser am Nikolaikirchplatz mit Bürgerwehren besetzt, in der alten Kirche selbst aber die besten Mannschaften versteckt seien, mit denen Othegraven den General Girard gefangenzunehmen gedenke. All dies wurde mit Freude gehört; eine zweite Mitteilung indessen, dahingehend, daß unten am Eingang in die Vorstadt, keine hundert Schritt' vom »letzten Heller« entfernt, eine französische Schildwache stehe, war desto unerfreulicher und nur angetan, ernste Verlegenheiten zu bereiten. Was tun, wie sollte man an dieser Schildwache vorbei?

Der Spitzkrugwirt erbot sich, noch einmal nachzusehen. Bamme war es zufrieden und ließ inzwischen die Brigade wieder antreten. Er selbst hielt am rechten Flügel, in Front des Bataillons Lebus. Nicht lange, so war der Wirt zurück und bestätigte, daß ein französischer Wachtposten vor dem Sankt Georgshospitale schildere.

»Verdammt!« sagte Bamme, »dieser Kerl ist mir im Wege. Wir müssen ihn beschleichen und niederstoßen. Freiwillige vor!«

Aber keiner rührte sich. Nur Hanne Bogun trat aus Reih' und Glied und sah dem General entschlossen, aber frech und widerwärtig ins Gesicht. Er hatte das lange Messer, das ihm bis dahin zur Seite gehangen hatte, mehr nach vorn hin in den Ledergurt geschoben und hielt es mit seiner einen Hand umfaßt.

Bamme gab dem Jungen einen Jagdhieb und sagte: »Nichts für dich, Hanne«, worauf dieser grinsend zurücktrat, um wieder den Zaum des Shetländers zu nehmen, den er einen Augenblick abgegeben hatte.

Eine peinliche Pause folgte.

Endlich hörte man Kniehases Stimme vom rechten Flügel her: »Wenn es sein muß, Herr General...«

Und es lag etwas in dem Ton und Ausdruck dieser Worte, das eines tiefen Eindrucks nicht verfehlte. Bamme, der mit unter diesem Eindruck war, preßte seine Fuchsstute dicht an die Schulter des athletischen alten Mannes und sagte dann: »Nein, Kniehase, lassen wir's. Es muß nicht sein.« Und damit fiel ein Stein von aller Brust. Ein Vorschlag, der schon vorher gemacht worden war, wurde wieder aufgenommen und im Einklange damit beschlossen, die lange Vorstadt ganz zu vermeiden, vielmehr dicht neben derselben hin, im Schutze des sogenannten »Donischberges«, eines mit Werft und Strauchwerk bestandenen Hügelrückens, bis an die Altstadt vorzudringen. Erst hier, am Tore selbst, sollte dann coûte que coûte der Kampf aufgenommen werden.

Und sofort jetzt, unter Belassung eines den Rückzug sicherstellenden Bataillons am Spitzkruge, wurden alle nötigen Kommandos für den Vormarsch gegeben. Die beiden Barnimschen Bataillone setzten sich über das Plateau hin in Bewegung, um die weiter südlich gelegenen Tore zu gewinnen, während das Bataillon Lebus die mehrgenannte Hügelstraße hinunterrückte. Dicht vor dem »letzten Heller« bog es nach rechts hin ab und marschierte zunächst in aufgelöster Ordnung, immer zwischen den Windungen des Donischberges hin, auf die ringförmige Esplanade zu, die den Kranz der Vorstädte von der Altstadt trennte.


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