Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Feldwebel Klemm aber, der keine Gelegenheit vorübergehen ließ, seine Franzosenfreundlichkeit zu betonen, und durch den wohlberechneten Appell an sein endgültiges Urteil nicht ganz gewonnen worden war, rief über den Tisch hin: »Ich möchte Herrn Ziebold nur bemerken, daß es doch am Ende keine ›Bande‹ war, die damals unter dem Befehl des Marschall Davoust, Herzogs von Auerstädt und späteren Prinzen von Eckmühl, Durchlaucht, durch das Hallesche Tor einzog. Wenn es aber eine Bande war, so war es jedenfalls eine ganz aparte, denn sie kam recte von Jena her, wo wir, um es milde zu sagen, vor dieser Bande nicht zum besten bestanden hatten.«

»Nein, nicht zum besten«, antwortete Frau Hulen. »Aber nichts für ungut, Herr Feldwebel Klemm, davon dürfen wir nicht sprechen, denn das ist ein schlechter Vogel, der sein eigen Nest beschmutzt, und das Unglück von damals oder die Schande von damals, ich weiß nicht, was richtig ist, das muß nun begraben und vergessen sein. Ich habe freilich auch gedacht, es wäre mit uns vorbei, weil es alle Leute sagten, und man ist doch nur eine arme Frau, die nicht ›nein‹ sagen darf, wenn die anderen ›ja‹ sagen. Aber das kann ich Ihnen sagen, Herr Klemm, schon das nächste Jahr, als ich die zwei grünen Särge sah, da wußte ich, daß wir wieder aufkommen würden.«

»Zwei grüne Särge?« fragte Ulrike und versuchte zu lachen.

»Ja, zwei grüne Särge, drin die beiden alten Sängebuschens begraben wurden. Er und sie. Haben Sie denn nicht davon gehört, Ulrikchen? Sie müssen doch damals, mit Permission, schon ein halbwachsenes junges Ding gewesen sein.«

»Nein«, versicherte Ulrike.

»Nun«, fuhr Frau Hulen fort, »die beiden alten Sängebuschens, die hier gleich um die Ecke wohnten, zwei Häuser von der Waisenkirche, die waren es also. Er war Registrator, aber früher war er Soldat gewesen und hatte unter vier Königen gedient, und als das Rheinsberger Denkmal fertig war und Prinz Heinrich alle alten Soldaten einlud, da lud er auch den alten Sängebusch ein, daß er mit dabei sein sollte. Ich habe den Brief selbst gesehen, alles deutsch geschrieben, aber Henri war französisch. Und als er nun starb, ich meine den alten Sängebusch, da fanden sie einen Zettel, darauf geschrieben stand, daß er in einem grünen Sarge begraben werden wolle, bloß um seinen Glauben und seine Zuversicht zu zeigen, daß sein liebes Vaterland Preußen wieder aufkommen würde... Und nun starb ja die Frau, die auch alt und krank war, denselben Tag, und so kam es, daß zwei grüne Särge bestellt wurden. Der alte Prediger Buntebart aber, als sie begraben werden sollten, ließ eine schwarze Bahrdecke darüber decken, weil er ängstlich war und keinen Lärm und keinen Aufstand haben wollte. Aber da kannt' er die Berliner schlecht, und als der Zug sich in Bewegung setzte, rissen sie die Bahrdecke herunter, daß die grünen Särge wieder sichtbar wurden, und so trugen sie sie zwischen vielen tausend Menschen hin, und alles nahm den Hut ab und dachte bei sich: ›Ob wohl der alte Sängebusch recht behalten wird?‹ Und er hat recht behalten. Bäcker Lehweß, als ich heute das Frühstück holte, sagte zu mir: ›Hören Sie, Hulen, Preußen kommt wieder auf.‹ Und der alte Bäcker Lehweß sagt nicht leicht was, was er nicht verantworten kann.«

Herr Ziebold nickte der alten Hulen freundlich zu, Feldwebel Klemm aber, mit dem linken Zeigefinger zwischen Hals und Krawatte hin- und herfahrend, sagte halb ungeduldig, halb herablassend: »Das ist eine rührende Geschichte, Frau Hulen; aber den alten Sängebusch und seinen grünen Sarg in Ehren, er könnte sich doch geirrt haben.«

»Wer nicht?« antwortete Schimmelpenning, der nicht leicht eine Gelegenheit vorübergehen ließ, einer von Klemm geäußerten Ansicht zu widersprechen. »Wer nicht? sage ich noch einmal; Sie, ich, jeder. Irren ist menschlich, aber dieser alte Sängebusch hat sich nicht geirrt. Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen; grüne Särge hin, grüne Särge her, ich bin Protestant und verachte jeden Aberglauben. Diese grünen Särge sind eine Kinderei. Aber wir müssen doch wieder aufkommen, und warum? Weil wir die Gerechtigkeit haben. Da liegt es. Justitia fundamentum imperii. Zeigen Sie mir in der ganzen alten und neuen Geschichte so etwas wie die Mühle von Sanssouci oder wie den Müller Arnoldschen Prozeß. Das Kammergericht, meine Herrschaften. Und ›es gibt noch Richter in Berlin‹, haben selbst unsere Feinde zugestanden. Ich will nichts gegen die Franzosen sagen, aber eins muß ich sagen: sie haben keine Gerechtigkeit. Und wo keine Gerechtigkeit ist, da ist kein Maß, und wo kein Maß ist, da ist kein Sieg. Und wenn ein Sieg da war, so hat er keine Dauer und verwandelt sich in Niederlage. Und der Anfang dieser Niederlage ist da. Der Russe drängt nach, wir legen uns vor, und so zerreiben wir diese französische Herrlichkeit wie zwischen zwei Mühlsteinen.«

»Sie sprechen von zwei Mühlsteinen«, lächelte Klemm, »gut, ich lasse die zwei Steine gelten, aber was dazwischen zerrieben werden wird, das werden nicht die Franzosen sein, sondern die Russen.«

»Nicht doch, nicht doch«, riefen Ziebold und Grüneberg gleichzeitig und setzten dann hinzu: »Oder zeigen Sie uns wenigstens, wie

Dieser Aufforderung hatte Klemm entgegengesehen.

»Es wäre gut, wir hätten eine Karte«, sagte er; »aber ein paar Striche tun es auch. Frau Hulen, ich bitte um einen Bogen Papier.«

Frau Hulen beeilte sich, den gewünschten Bogen herbeizuschaffen, auf dem Klemm nun, mit jener Sicherheit, wie sie nur die tägliche Wiederholung gibt, dieselben Linien zu zeichnen begann, die er schon am Neujahrsabend mit Kreide auf den Tisch gezeichnet hatte.

Dann hob er an: »Dieser dicke Strich also, wie ich zu bemerken bitte, ist die Grenze, rechts Rußland, links Preußen und Polen. Achten Sie darauf, meine Herrschaften, auch Polen. Hier links ist Berlin, und hier, zwischen Berlin und dem dicken russischen Grenzstrich, diese zwei kleinen Schlängellinien, das sind die Oder und die Weichsel. Nun müssen Sie wissen, an der Oder und Weichsel hin, in sechs großen und kleinen Festungen, stecken dreißigtausend Mann Franzosen, und ebenso viele stecken hier unten in Polen, in einer sogenannten Flankenstellung, halb schon im Rücken. Ich wiederhole Ihnen, achten Sie darauf; denn in dieser Flankenstellung liegt die Entscheidung. Jetzt drängt der Russe nach; schwach ist er, denn wenn eine Armee friert, friert die andere auch, und schlottrig geht er über die Weichsel. Und nun geschieht was? Von den Oderfestungen her treten ihm dreißigtausend Mann ausgeruhter Truppen entgegen, während von der polnischen Flankenstellung her andere dreißigtausend Mann heraufziehen, sich vorlegen und ihm die Rückzugslinie abschneiden. Und klapp, da sitzt er drin. Das ist, was man eine Mausefalle nennt. Ich mache mich anheischig, Ihnen die Stelle zu zeigen, wo die Falle zuklappt. Hier, dieser Punkt; es muß Köslin sein oder vielleicht Filehne. Ich gehe jede Wette ein, zwischen Köslin und Filehne kapituliert die russische Armee. Wie Mack bei Ulm. Was nicht kapituliert, ist tot.«

Alles war erstaunt; nur Schimmelpenning, der in den Weißbierlokalen der Stadt nicht viel weniger gut zu Hause war als sein Gegner, sagte mit einschneidender Ruhe: »Es ist bekannt, Herr Klemm, daß Sie diese Sätze jetzt täglich wiederholen, buchstäblich wiederholen, wobei es nichts tut, ob Sie die Weichsel mit Bleistift auf Papier oder mit Kreide auf den Tisch zeichnen. Sie werden über kurz oder lang Ungelegenheiten davon haben; doch das ist Ihre Sache. Eins aber ist meine Sache, Ihnen zu sagen, daß ich alles, was Sie tun und sprechen, unpatriotisch finde.«

»Muß ich bei Ihnen Patriotismus lernen?« brauste Klemm auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ehe Ihnen Ihre Mutter, ich bitte um Entschuldigung, meine Damen, die ersten Hosen anpaßte, war ich schon bei Torgau. Ich habe die Grenadiers gesammelt...«

»Ich weiß davon«, unterbrach ihn Schimmelpenning, »aber das waren nicht Sie, das war der Major von Lestwitz.«

»Ich weiß nicht, was der Major von Lestwitz getan hat«, schrie der immer aufgeregter werdende Klemm, »aber was ich getan habe, das weiß ich.«

»Und behalten es in gutem Gedächtnis«, höhnte Schimmelpenning weiter. »Auch ist es noch keinem eingefallen, Herr Klemm, daß Sie jemals eine von Ihren Großtaten vergessen hätten.«

Bei dem Worte »Groß« machte der Nuntius eine lange, maliziöse Pause; Frau Hulen aber, die den Streit aus der Welt zu schaffen wünschte, wandte sich an Herrn Schimmelpenning und bat ihn mit eindringlicher Stimme, die auf dem linken Flügel noch unberührt stehende Sülze herumgehen zu lassen. Es wurde nicht überhört, so hoch die Wogen auch gingen. Als das neue Gericht bei der Zunzen vorbeikam, die von Zeit zu Zeit an Hustenanfällen litt und deshalb vorsichtig mit reizbaren Sachen sein mußte, beugte sie sich zur Hulen und fragte leise: »Viel Pfeffer?«, worauf diese antwortete: »Nein, liebe Zunz, englisch Gewürz.« Diese beruhigende Erklärung schien von der Alten richtig verstanden zu werden, denn sie nahm ausgiebig von der Schüssel, die sie noch in Händen hielt. Dem ausbrechenden Streit der Gegner aber war glücklich gesteuert. Bald darauf wurde aufgestanden, und nachdem sich, mit Ausnahme von Klemm und Schimmelpenning, alles die Hände gedrückt und eine gesegnete Mahlzeit gewünscht hatte, begab man sich paarweise in Lewins Zimmer, wo nun Punsch und Krausgebackenes herumgereicht wurde.

»Und nun, liebe Laacke, singen Sie uns was; aber nichts Trauriges, nicht wahr, Ulrikchen, nichts Trauriges?« Ulrike stimmte bei, worauf Mamsell Laacke bemerkte, daß sie nichts Trauriges singen wolle, aber auch nichts Heiteres. Das Heitere widerstände ihr, weil es flach und unbedeutend sei; sie liebe das Gefühlvolle, und man solle immer nur das singen, was der eigenen Natur entspräche. Denn »in unserer Stimme ruht unser Herz«.

Es wurden nun Lewins Noten einer wiederholten Durchsuchung unterworfen, bis endlich ein paar Opernarien gefunden waren, in denen der vielgerühmte Tenor des Herrn Ziebold mitwirken konnte. Mamsell Laacke überreichte ihm ein himmelblau broschiertes Heft, auf dessen Titelblatt zu lesen stand: »Fanchon, das Leiermädchen, von Friedrich Heinrich Himmel, Klavierauszug, Akt II«; darunter ein Bildnis Fanchons, kurzärmlig, mit Kopftuch und einer Art Mandoline in der Hand.

Nichts konnte, alles in allem erwogen, willkommener sein als das. Ein Duett hat immer etwas von dem Reize einer dramatischen Szene. Die Laacke intonierte und begann, während Herr Ziebold seine Linke auf die niedrige Stuhllehne legte:

In heitrer Abendsonne Strahlen,
Dort, wo die Alpenrose keimt,
Laß ich die liebe Hütte malen,
Wo meine Kindheit ich verträumt.

Daß eine Grille nie dich lenke,
Die nur gemeine Seelen kränkt;
Entehren jemals die Geschenke
Von dem, der uns sein Herz geschenkt?

Nachdem diese letzte Zeile nicht nur dreimal wiederholt, sondern seitens der gefühlvollen Laacke auch mit besonderem Nachdruck vorgetragen worden war, fiel der Tenor Ziebolds ein, und beide sangen nun die Schlußstrophe:

Die Liebe teilet unbefangen,
Was einem nur das Glück beschied,
Und zwischen Geben und Empfangen
Macht Liebe keinen Unterschied.

Ziebold hatte von alter Zeit her eine Force im Tremulando und erzielte damit auch heute eine solche Wirkung, daß die bis dahin kühle Stimmung umschlug und die Gefühle allgemeiner Menschenliebe wenigstens momentan zum Durchbruch kamen. Der Abend war jetzt entschieden auf seiner Höhe. Frau Hulen empfand dies und schlug deshalb unverzüglich eine Wanderpolonaise vor, die denn auch, durch alle Zimmer hin, unter geschickter Umkreisung des stehengebliebenen Eßtisches ausgeführt wurde. Zum Schluß aber spielte die Laacke zu hastig und ließ absichtlich einige Takte aus. »Bin ich eingeladen, um auf diesem Klimperkasten dieser froschäugigen Mamsell Ulrike zum Tanze aufzuspielen?« So drängten sich die Fragen, und der letzte Moment des Festes war wieder ein Mißakkord.

Eine Viertelstunde später gingen die Paare nach verschiedenen Seiten hin die Klosterstraße hinunter, die Ziebolds links, auf den Hohen Steinweg zu.

»Das ist nun das letztemal gewesen«, sagte Frau Ziebold; »du bringst mich nicht mehr hin. Ich habe nicht Lust, mit Mamsell Laacke auf demselben Sofa zu sitzen. Und dies alberne Ding, die Ulrike! Sah mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen; ich glaube gar, sie dachte, daß ich sie zuerst grüßen sollte. Und wie steht es denn? Sie hilft uns nicht, aber wir helfen ihr. Das gelbe Mohrkleid und die Zuckerzange lagern nun schon in die zehnte Woche.« Hier hielt die Sprecherin, denn die Luft ging scharf, einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen. Dann aber fuhr sie fort: »Und nun gar diese Mannsbilder! Ich weiß wirklich nicht, wer unausstehlicher ist, dieser Klemm, der nur drei Stücke auf seiner Leier hat, oder dieser Schimmelpenning, der aussieht, als habe er die Gerechtigkeit erfunden.«

Ziebold lachte und sagte: »Du vergißt Grünebergen; war er nicht dein Tischnachbar?«

»Freilich war er das; aber glaubst du, daß er ein Wort mit mir gesprochen hätte? Und warum nicht? Weil er ein alter Narr ist und immer das liebe Töchterchen angafft und auf den Prinzen wartet, der sie mit einer goldenen Kutsche abholen soll. Und dann nimm es mir nicht übel, Ziebold, die Hulen ist eine gute Frau, aber was waren das für Pilen? Semmelstücke, und das bißchen Mohn kratzig und multrig.«

 

Die Grünebergs hielten sich derweilen rechts. Als sie um die Ecke der Stralauer Straße bogen, sagte Ulrike: »Ich weiß eigentlich nicht recht, was der Hulen beikommt? Immer so, als ob sie keine arme Frau wäre; drei Gerichte und Krausgebackenes und Punsch. Mir gefällt es nicht, und ich finde es unrecht. Und dann immer in zwei Stuben, als ob ihr alle beide gehörten! Wenn ich eine Stube vermiete, so habe ich sie vermietet; der junge Herr von Vitzewitz, der mir das letztemal aufmachte, als ich klingelte, weil die Hulen nicht zu Hause war, würde sich doch sehr wundern, wenn er diese Mamsell Laacke mit ihren langen knöchernen Fingern auf seinem Klavier hätte herumhantieren sehen. Und diese Singerei! Da hör' ich doch lieber die Kurrende. Aber es soll immer so was sein. Ein bißchen Blindekuh oder ein paar Kartenkunststücke, das ist ihr nicht genug... Und was für Menschen! Er, Ziebold, das muß wahr sein, ist ein kulanter Mann, und man merkt es ihm an, daß es ihm nicht an der Wiege gesungen worden ist. Aber diese Person, seine Frau! Immer in Seide und mit Korallenohrbommeln; ich mag nicht wissen, wem sie gehören. Sie muß doch Mitte Vierzig sein, und dabei ausgeschnitten wie die jüngste. Aber das weiß ich, ich gehe nicht wieder hin. Ich will mir nicht meinen Ruf verderben.«

So dachten auch die andern. Befriedigt war nur Frau Hulen selbst.


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