Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Die Predigt hatte mittlerweile geschlossen, nur das Gebet war noch zu sprechen, und alles sah erwartungsvoll zu der Kanzel auf, auch Marie. Sie fühlte wohl, daß Blicke von dem Chorstuhl her sie trafen, aber sie hatte die Kraft, dieser Blicke nicht zu achten oder doch in ihrer Seele sich ihrer zu erwehren, denn sie war reinen Gemüts und ohne Schein und Falsch.

Seidentopf aber betete: »Barmherziger Gott und Herr. Du hast Großes an uns getan, daß du uns berufst, um ein freies und würdiges Dasein zu kämpfen. Steh uns bei. Der Sieg kommt von dir, und mit Vertrauen ist es, daß wir Heil und Segen für unser Tun von dir erflehen. Schütze den König, verleihe Weisheit und Kraft den Heerführern, Mut denen, die die Waffen tragen, treue Ausdauer aber allen, auch uns. Und wie das Glück des Krieges auch wechseln möge, eines gib uns als seine letzte Segnung, gib uns Freiheit und Frieden

Nun fiel wieder die Orgel ein, der letzte Vers wurde gesungen, und langsam erhoben sich die Hohen-Vietzer und verließen die Kirche. Marie blieb zurück, um Renaten und die Schorlemmer zu begrüßen; dann schritten sie gemeinschaftlich den Mittelgang hinunter. Tubal und Lewin folgten.

Als alle den spitzbogigen Mauereinschnitt erreicht hatten, der von der Seite her in den Turm führte, bemerkte Marie, daß sie das Gesangbuch sehr wahrscheinlich auf ihrem Sitzplatze habe liegen lassen. Sie wollte umkehren, aber Tubal litt es nicht und schritt den Mittelgang wieder hinauf, um das vermißte Buch zu holen. Marie sah ihm nach und wartete, während die andern durch das Außenportal ins Freie traten.

Das Buch war nicht da. Tubal, nachdem er erst auf der Bank und dann am Fußboden hin- und hergesucht hatte, richtete sich endlich wieder auf und machte mit beiden Armen ein Zeichen, das die Vergeblichkeit seiner Bemühungen ausdrücken sollte.

Marie rief ihm zu: »Da muß ich selber kommen«, und ging nun ebenfalls das Kirchenschiff hinauf. Aber in diesem Augenblicke hatte sich das Buch auch schon auf einem schmalen Brett unter der pultartigen Schrägung gefunden, und Tubal hielt es triumphierend in die Höhe und ihr entgegen. Sie nahm es dankend aus seiner Hand, wandte sich dann und schritt eilig wieder dem Ausgange zu; ehe sie diesen jedoch erreicht hatte, hörte sie, daß von außen her zugeschlossen wurde. Der alte Kubalke, von seinem Orgelchor herabkommend, hatte nicht bemerkt, daß noch wer in der Kirche war.

Marie fuhr zusammen, faßte sich indessen rasch und sagte: »Wir sind eingeschlossen, bitte, pochen Sie schnell an die Tür.«

Auch Tubal war erschrocken, aber anders als seine Gefährtin. Er fühlte sich wie von einem elektrischen Schlage getroffen.

»Wozu pochen, Marie«, sagte er, »der Alte würde uns doch nicht hören. Und so wären wir denn Gefangene.«

»Ja, aber in einer Kirche gefangen. Und auf alle Fälle, die Fenster sind nicht hoch... und Renate wird unsere Abwesenheit bemerken.«

»Gewiß, aber hoffen wir, nicht zu früh.«

Marie hörte, wie seine Stimme zitterte.

»Gut«, sagte sie, »so sind wir denn Gefangene. Machen wir das Beste davon und nutzen wir die Zeit. Es verlohnt sich immer zu lernen, und ich wette, Sie kennen unsere Kirche noch nicht. Niemand kennt sie; jeder glaubt genug getan zu haben, wenn er das große holländische Monument bewundert und den Namen des alten Matthias von Vitzewitz oder wohl gar den seiner tugendreichen Veronika von Beerfelde mühsam entziffert hat. Das heißt dann die Hohen-Vietzer Kirche kennen. Wir haben aber hier vielerlei.«

Sie sprach dies alles in beinahe heiterem Tone, ganz ersichtlich, um ihre Befangenheit zu verbergen, und als Tubal, statt aller andern Antwort, ihr nur immer forschender ins Auge sah, setzte sie rascher und hastiger hinzu: »Ich muß Ihnen das alles zeigen. So verlieren wir diese Minuten nicht. Von dem zerbrochenen Taufstein, von dem die Leute sagen, er sei tausend Jahre alt, will ich Ihnen nicht erst erzählen, Sie glauben es doch nicht; aber hier rechts das Muttergottesbild, das müssen Sie sehen. Sehen Sie, die Maria hat ihr Christkind aus den Händen fallen lassen.«

»Vielleicht, weil sie wieder freie Hand haben wollte.«

»O nicht doch, das ist Spott und gottlos. Und ich sehe schon, es paßt so wenig für Sie wie der tausendjährige Taufstein. Aber hier, das ist etwas, das paßt für uns beide«, und dabei zeigte sie mit ihrer Hand auf einen alten, aufrechtstehenden Grabstein, der in die Wandstelle dicht neben dem Muttergottesbilde eingemauert war.

Tubal trat an den Stein heran und las: »Katharina von Gollmitz.«

»Ja, das war ihr Name.«

»Lassen wir den Namen«, sagte Tubal, »was soll er uns? Was sollen uns die Toten?«

»Doch, doch, Sie müssen von ihr hören. Sie war die Freundin eines damaligen Fräulein von Vitzewitz, den Vornamen hab' ich vergessen, aber nehmen wir an, daß sie Renate hieß.«

»Nicht Renate.«

»Ja, nehmen wir an, daß sie Renate hieß. Und ihre Freundin, eben diese Katharina von Gollmitz, deren Grabstein Sie hier vor uns sehen, die starb hier und wurde hier begraben. Aber das tote Fräulein von Gollmitz hatte Sehnsucht in ihre Heimat und wollte fort von hier und aus dem fremden Grabe wieder heraus.«

»Ich glaub' es nicht.«

»Oh, Sie müssen es glauben, denn es ist wahr, und es weiß es jedes Kind hier. Und immer, wenn das Fräulein von Vitzewitz über diesen Grabstein hinschritt, der damals noch mit den andern Steinen im Mittelgange lag, dann hörte sie, wie die Freundin rief: ›Renate, mach auf!‹«

Tubal lächelte.

»Und so rufen auch wir jetzt; nicht wahr?«

»Nicht ich.«

»Doch, doch, Sie müssen es auch rufen, denn so gemahnt uns der Grabstein. Und alles, an das uns die Grabsteine mahnen, auch wenn sie stumm sind, das müssen wir tun.«

»Ja; nur nicht heute, nur nicht in dieser Minute. Wir leben, Marie.«

»Aber wie lange noch?« antwortete diese.

Tubal stutzte. Es war etwas in ihrem Wort, das ihn getroffen hatte. Er entschlug sich indessen des Eindrucks wieder und sagte nur: »Lassen wir die Grabsteine.«

Und damit schritten sie wieder in den Mittelgang der Kirche zurück.

Als sie die vordersten Bänke beinah erreicht hatten, unterbrach Tubal das lange Schweigen und sagte mit weicherer Stimme: »Nicht wahr, Marie, wir wollen gute Kameraden sein? Das Schicksal hat uns hier zusammengeführt. Ist es nicht, als ob wir einander gehören sollten?«

»Nein, nicht wir... Aber horch, ich höre Stimmen.«

»Welche?«

»Ich weiß es nicht.«

»Nicht unsere Stimmen, Marie, nicht Ihre, nicht die meine?«

»Nein, nein, Renatens.«

Sie betonte den Namen, und er fühlte wohl, weshalb. Aber außer sich ergriff er jetzt ihre Hand und sagte mit rasch sich steigernder Heftigkeit: »Renate und immer wieder Renate. Wozu, was soll es? Ich bitte Sie, nur jetzt nicht diesen Namen; ich mag ihn nicht hören. Er will sich zwischen uns stellen, aber er soll es nicht. Nein, nein, Marie!« Und er warf sich nieder und umklammerte sie, während er sein glühendes Gesicht an ihrem Kleide barg. Einen Augenblick war es ihr, als ob sie nach Hilfe rufen oder in der pochenden Angst ihres Herzens das Altartuch erfassen sollte, aber plötzlich von einem andern Gedanken durchblitzt, riß sie die halboffene Türe auf, die zu dem Majorsstuhl führte, und zeigte mit ihrer Rechten auf die Blutstelle, die das Grauen aller derer war, die davon wußten.

Umsonst.

»Und ob Leben und Sterben zwischen uns stünde«, rief er, »ich lasse dich nicht, Marie... ich will es...«

Da wurd' es wirklich von außen her laut, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und gleich darauf erschien der alte Jeserich Kubalke und kam zwischen den Chorstühlen langsam die Fliesen herauf.

»Nichts für ungut, junger Herr. Aber mit einundachtzig da hat man keine Augen mehr, und da hab' ich Sie denn eingeschlossen und gefangengesetzt. Und zwei schmucke Gefangene, das muß ich sagen. Ja, ja, Marie.«

Beide hatten unter dieser Begrüßung ihre Ruhe wiedergewonnen und erzählten nun dem Alten, daß sie die Zeit ausgenutzt und die großen Grabsteine gelesen hätten, auch den von der Gollmitz.

»Auch den von der Gollmitz. Weiß schon, das war das Fräulein, das nicht hier bleiben wollte. Ja, das muß man lesen. Aber die jungen Leute tun's nicht, und wenn sie's tun, so denken sie nichts dabei. Ja, die Grabsteine...«

So plaudernd, waren sie wieder bei dem Ausgange der Kirche angekommen.

»Vater Kubalke«, sagte Marie, »wir haben denselben Weg.«

Tubal trat an sie heran und bot ihr die Hand, wie zum Zeichen, daß Friede zwischen ihnen sein solle. »Es war ein Traum, Marie. Nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf.

Da nahm sie den Arm des Alten, der die letzten Worte kaum gehört, am wenigsten beachtet hatte, und stieg mit ihm einen der schmalen Pfade hinab, die von dem Kirchhügel aus auf die Mitte des Dorfes zuführten.


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