Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Zweites Kapitel
Auf dem Windmühlenberge

In dem »Wieseckeschen Saal auf dem Windmühlenberge«, in dem erst am Abend vorher der große Silvesterball stattgefunden hatte, waren am Neujahrstage wohl an hundert Stammgäste mit ihren Frauen und Kindern versammelt. Alles war wieder an seinem alten Platz, und auf derselben Stelle, wo sich vor kaum vierundzwanzig Stunden die Paare gedreht hatten, standen jetzt, als ob der Ball nie stattgefunden hätte, die grüngestrichenen, etwas wackeligen Tische mit den vier Stühlen drum herum; und zwischen den Stühlen und Tischen, hin und her und auf und ab, preßte sich eine Schar von Verkäufern, die hier seit vielen Jahren heimisch und fast ein zugehöriger Teil des Lokals geworden waren: alte Mütterchen mit Schaumkringeln und Zimmetbrezeln, primitive Tabulettkrämer, in deren vorgebundenen Kästchen Stahl und Schwamm, Schwefelfäden und blaue Glasperlen zum Verkaufe lagen, endlich Stelzfüße, die neben den beiden Berliner Zeitungen auch allerhand Flugblätter feilboten. Über dem Ganzen lag eine angesäuerte Weißbierluft, die, durch Lichterblak und Tabaksqualm ziemlich beschwerlich werdend, nur dann und wann sich auffrischte, wenn ein Glas dampfenden Punsches vorübergetragen wurde.

An einem dieser Tische, der halb schon unter der Musikempore stand, saßen vier Berliner Bürger, zwei von ihnen in eifrigem Gespräch, die beiden andern ebenso eifrige Zuhörer. Es waren Nachbarn aus der Prenzlauer Straße: der Schornsteinfegermeister Rabe, der Bürstenmacher Stappenbeck, der Posamentier Niedlich und der Mehl- und Vorkosthändler Schnökel. Alle vier Männer von vierzig Jahren und drüber, Niedlich und Schnökel in demselben Hause wohnend, nur durch den Flur getrennt.

Rabe war der Angesehenste unter ihnen und hatte nicht nur das, was die meisten Schornsteinfegermeister zu haben pflegen: gute Haltung, frischen Teint und weiße Zähne, sondern auch einen wundervollen Charakterkopf, der jedem Chefpräsidenten Ehre gemacht haben würde. Er wußte das auch und verfuhr darnach, ließ sich lieber erzählen, als daß er selber erzählte, und vermied, obschon er aus einer alten Berliner Familie stammte, alle großen Worte. Er war der Drosselstein dieses Kreises, das aristokratische Element, wie denn die Schornsteinfegermeister, bei denen das Geschäft von Vater auf Sohn geht, wirklich eine Art Bürgeradel bilden.

Wenn Rabe der Drosselstein dieses Kreises war, so war Stappenbeck der Bamme. Niedlich warf ihm vor, daß er den Bürstenmacher nicht verleugnen könne, und das traf in allen Stücken zu; denn wie sein Haar, so war auch seine Manier und Sprechweise: die Borsten immer nach oben. Ein echter Berliner. Er stand an Ansehen hinter Rabe zurück, war ihm aber an Wissen und Witz und selbst an Erfahrung weit überlegen. Er hatte Reisen gemacht, war um seines Geschäftes willen, das er mit Eifer und Umsicht betrieb, in Polen und Rußland gewesen und galt seit Beginn des Zuges gegen Moskau in allen russischen Lokalfragen als unanfechtbare Autorität. Selbst Rabe, ohnehin zu vornehm, um lange zu streiten, unterwarf sich seinen Weisheitssprüchen, die von dem festen Boden der Landeskenntnis aus allerdings mit Vorliebe in das Politisch-Militärische hinüberspielten.

Sein Gegensatz war Posamentier Niedlich, ein kleiner artiger Mann, dessen Redseligkeit nur durch seine Ängstlichkeit gezügelt wurde. Er trug einen hellgrünen Rock und, weil er an Kopfreißen litt, ein Käpsel von geblümtem Sammetmanchester mit einer Puschel daran, »dem Zeichen seines Standes«, wie Stappenbeck versicherte. Er konnte, von Geschäfts wegen an ein beständiges Hin- und Herhüpfen gewöhnt, nie länger als fünf Minuten sitzenbleiben, ganz einem Zeisig ähnlich, der es nicht lassen kann, die Sprossen seines Bauers auf- und abzuspringen. Auf seinen mageren Backen brannten zwei scharfabgezirkelte rote Flecke, als ob er hektisch oder echauffiert sei; er war aber weder das eine noch das andere.

Den Schluß machte Schnökel. Er war der Baß dieses kleinen Männerkonzertes, in Stimme wie Figur. Ein großer, starker Mann mit kurzem Hals; das Bild des Apoplektikus, ein gründlicher Kenner in Sachen Berliner und Cottbuser Weißbieres. Er schmeckte nicht nur die Sorten, sondern auch die Lagerungstage heraus, trank, rauchte und schwieg. Nur dann und wann, wenn das wiederholte Klopfen mit dem Deckel nicht geholfen hatte, rief er über alle zwischenstehenden Tische hinweg mit Stentorstimme nach einer neuen »Weißen«.

Stappenbeck hatte die »Berlinische Zeitung« unter seinem linken Ellbogen. Es war die Nummer vom 26. Dezember, aus der er seinen drei Genossen eben die Hauptstellen des darin abgedruckten neunundzwanzigsten Bulletins vorgelesen hatte. Mit der Rechten fuhr er, sich aufzufrischen, in die große Schnupftabaksdose, die zwischen ihnen mitten auf dem Tische stand; Rabe rauchte still, Schnökel in großen Wolken, während Niedlich, ein ausgesprochener Nichtraucher – der, solange die Vorlesung dauerte, zu Stappenbecks äußerstem Mißbehagen ein ganzes Dutzend Zuckeroblaten geräuschvoll zerbrochen und aufgegessen hatte –, jetzt eine alte Frau heranwinkte, um sich den Schaumkringeln zuzuwenden.

Die Schilderung des Überganges über die Beresina, womit der in der Zeitung gegebene bloße Auszug des Bulletins abschloß, hatte, namentlich bei Rabe, neben der patriotischen Freude doch auch menschliche Teilnahme geweckt, und es war nicht ohne Bewegung, daß er vor sich hinsprach:

»Gerichte Gottes! Was wird aus ihm, Stappenbeck? Kann er sich von diesem Schnee- und Eisfeldzuge wieder erholen?«

»Wie sich ein Karpfen erholt, wenn das Eis bis auf den Grund gefroren ist; er muß sticken. Ich sage dir, Rabe, es is alle mit ihm. Du mußt nicht vergessen: erstens die Gegend und dann den Schnee und dann das Volk. Ich kenn' es. Das is ja nich so wie hier bei uns. Nehmen wir an, du willst nach Potsdam; ja, da is erst der ›Schwarze Adler‹, dann Stimmings, dann Kohlhasenbrück, un überall was Warmes. Aber nu nimm Rußland. Da marschierst du den ganzen Tag immer gradaus, un wenn du am Abend einem begegnest und fragst ihn: ›Wie weit ist es noch?‹, so sagt er: ›Fünf Meilen.‹ Aber du kannst nicht fragen, denn du begegnest keinem.«

Rabe nickte. Trotzdem er das Übertriebene wohl heraushörte, sah er doch ebenso deutlich, daß diese Übertreibung nur das scherzhafte Kleid für eine ernsthaft gemeinte Sache war. Niedlich aber sagte: »Du vergißt bloß eins, lieber Stappenbeck; sie sind ja schon in Wilna, und von Wilna bis an die Grenze is bloß noch neunzig Meilen.«

»Bloß noch neunzig Meilen«, wiederholte Stappenbeck in gedehntem Tone, in dem sich Ärger und gute Laune die Waage hielten. »Wie weit is es doch bis Alt-Landsberg?«

»Drei Meilen.«

»Gut also, drei Meilen. Nu sage mir, Gevatter, denkst du noch an den Grünen Donnerstag – es geht jetzt ins dritte Jahr –, wo wir die Tour zusammen machten? Du hattest einen warmen Rock an und weite Stiefel; von dem Proviant, den wir mit hatten, will ich gar nich reden. Und nu besinne dich, wie der Posamentier Niedlich in den Alt-Landsberger »Blauen Löwen« einrückte! Leugnen is nich, denn ich habe dir selber den Wollfaden durch die Quesen gezogen. Und du redst von ›bloß neunzig Meilen‹.«

Schnökel lachte. »Ja, neunzig Meilen is eine hübsche Ecke. Aber mit dem Kaiser, Stappenbeck, is es drum noch lange nich alle. Warum soll es auch alle mit ihm sein? Is er nich heil heraus? Un sitzt er nich wieder ausgewärmt und ausgefuttert in Paris? Un seine Franzosen, die nich mitgefroren haben, die kenn' ich; die werden ihm bald wieder eine neue Armee machen.«

»Nein, Schnökel, das werden sie nicht«, antwortete Stappenbeck, der sich inzwischen auch eine Pfeife angezündet und den brennenden Fidibus am Tischrand ausgeklopft hatte. Nur ein paar Funken glimmten noch. »Blas an diesem Fidibus, so viel du willst, er brennt nich wieder. Ich glaube nich, daß ihm die Franzosen eine neue Armee machen, und wenn sie's tun, wer soll sie kommandieren? Da liegt der Has' im Pfeffer. Er ist ein Deibelskerl, aber er kann doch am Ende nich allens allein besorgen.«

»Das braucht er auch nicht; dazu hat er seine Generale«, bemerkte Rabe.

»Die hat er eben nich. Vorläufig stecken sie noch mit erfrorenen Zehen in Rußland, und ich sage dir, Rabe, das müßte schnurrig zugehen, wenn auch nur einer wieder nach Paris käme und seinem Empereur vermelden könnte: ›Hier bin ich.‹«

»Sollen wir sie denn alle totmachen?« fragte Niedlich mit einem gemischten Ausdruck von Schauder und Schelmerei.

»Nein, du nicht. Deine reinen Posamentierhände sollen sich nicht mit Marschallsblut besudeln. Du kannst ihnen – denn das hast du um deine Puschelmütze verdient – meinetwegen die Quasten und Raupen liefern, wenn sie erst wieder hier sind. Aber, Niedlich, ›wenn‹. Es sind freilich, wie du sagst, bloß neunzig Meilen von Wilna bis Memel, aber ich müßte die Russen schlecht kennen, wenn sie diesen Spaziergang nicht ausnutzen sollten. Und zwischen Memel und unsrem Prenzlauer Tor liegt auch noch gerade Erde genug, um ein Dutzend Marschälle und alles, was drum und dran hängt, zu begraben.«

»Wer soll das tun?« fragte Rabe mit ablehnender Würde. »So was is nich Mode bei uns.«

»Kann aber werden«, fuhr Stappenbeck fort. »Die Not lehrt nich bloß beten, und die Welt besteht nich aus lauter Posamentiers. Ich sage dir, Rabe, in Litauen und Masuren werden sie schon zufassen. Aber wenn sie auch nicht zufassen, wenn sich keine Hand rührt, der liebe Gott tut es für uns. Sie fallen um wie die Fliegen. Und die paar, die bis hierher kriechen, die müssen wir irgendwo unterbringen.«

»Wo denn?«

»'ne neue französische Kolonie; aber hinter Wall und Graben.«

»Und wenn sie der Kaiser wieder haben will?«

»Dann mag er sie sich holen. Aber er wird nich; denn um die Zeit sind die Russen hier.«

»Vielleicht.«

»Nein, gewiß. Nimm mir's nicht übel, Rabe, das verstehe ich besser. Wer in Wut is, der steht nicht still. Das is überall so. Wenn meine Frau was mit mir hat – und sie hat mitunter was mit mir – und ich geh' in die andere Stube, weil ich genug habe, was tut sie? Sie kommt mir nach. Und da geht es weiter. Das ist, was man die menschliche Natur nennt. Und der Russe is auch ein Mensch. Erst recht. Ich sage dir, Rabe, der Russe kommt, und der Kaiser wird nicht kommen. Denn die Franzosen haben ihn satt; und das kannst du mir glauben, so sehr viel is auch nie mit ihm los gewesen. Ich hab' es schon anno sechs gesagt, als er auf seiner brandroten Fuchsstute hier einritt, mit seinem gelben Gesicht und den stechenden Augen. ›Kinder‹, sagt' ich, ›es is doch man ein ganz kleiner Kerl; der Alte Fritz war auch kleine, aber so kleine war er doch noch lange nich.‹ Ich bin nu mal für die Großen. So wie Saldern war oder Möllendorf.«

Es schien, daß Stappenbeck noch fortfahren wollte, aber ein Krüppel, der mit zurückgebundenen Fußstummeln von Tisch zu Tisch rutschte, hielt ihm eben ein Blatt entgegen und sagte: »Das is was für Sie, Herr Stappenbeck; ein Groschen, aber ich nehm' auch zwei.«

Es war ein löschpapierner Bogen: »Neue Lieder, gedruckt in diesem Jahr«, mit zwei Holzschnitten, von denen der eine die drei Grazien in einem ovalen Rosenkranze, der andere auf der Rückseite einen kleinen Amor darstellte.

Stappenbeck gab dem Krüppel die gewünschte doppelte Löhnung und schlug den Bogen auseinander, in dem er irgendeinen franzosenfeindlichen Reim, wie sie damals mit Hilfe solcher fliegenden Blätter verbreitet wurden, zu finden hoffte. Er überflog die Überschriften: »Ännchen von Tharau«, »Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd«, »Herr Schmidt, Herr Schmidt«, »Das Gespenst in Tegel«. Er wurde ungeduldig und drehte den Bogen um: »Die Schlacht bei Groß-Aspern«, »Oh, Schill, dein Säbel tut weh«; sollte der Krüppel diese beiden gemeint haben? Aber das waren ja bekannte Sachen. Halt hier, das mußt' es sein; es hatte keine Überschrift, aber die beiden ersten Zeilen konnten als solche gelten.

»Lies«, sagte Rabe, der dem Gesichte Stappenbecks ansah, daß er endlich gefunden hatte, was er suchte. Und Stappenbeck las:

»Warte
Bonaparte;
Warte nur, warte, Napoleon,
Warte, warte, wir kriegen dich schon.

Ja der Russ'
Hat uns gezeigt, wie man's machen muß:
Im ganzen Kremmel
Nicht eine Semmel,
Und auf den Hacken
Immer nur Hunger und Kosacken,
Ja der Russ'
Hat uns gezeigt, wie man's machen muß.

Hin ist der Blitz
Deiner Sonne von Austerlitz,
Unterm Schnee
Liegen all deine Corps d'Armée.
Warte
Bonaparte;
Warte nur, warte, Napoleon,
Warte, warte, wir kriegen dich schon.«


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