Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Viertes Kapitel
Genesen

Und es kam alles, wie Doktor Leist gesagt hatte. Am andern Morgen verlangte Lewin aufzustehen und fühlte sich trotz aller Mattigkeit doch kräftig genug, das Zimmer zu verlassen und unten unter dem Vorbau von Renate und Tante Schorlemmer Abschied zu nehmen. Es war des Krügers Gespann; Kemnitz selber fuhr. Er zeigte sich quicker, als seine Gewohnheit war, und als Renate auf ihn hinwies und der Krügersfrau ein gutgemeintes Wort über seine Raschheit ins Ohr flüsterte, sagte diese nicht ohne einen gewissen Stolz: »Oh, er kann schon. Aber er läßt es an sich kommen. Und das ist es eben.« In der nächsten Minute nahmen beide Damen ihre Plätze; Kemnitz hakte das Schutzleder ein und stieg nun auch seinerseits über das Rad weg auf den Kutschersitz ohne Lehne. Noch ein Händedruck, und der Wagen verschwand an der andern Seite der Kirche.

Lewin ging in sein Zimmer zurück. Er hatte sich mehr angestrengt, als seine Kräfte zuließen, und warf sich jetzt angekleidet aufs Bett, nicht um zu schlafen, wohl aber um zu ruhen. Allerhand Bilder zogen an ihm vorüber, wechselnd und phantastisch, aber immer eines aus dem andern sich gestaltend. Er sah Frau Hulens dunkle Küche und den kleinen Wachsstock, den er in der Herdasche mit so viel Mühe angezündet hatte, und aus dem Wachsstock ward eine Kerze, und aus der Kerze wurden zwölf Kerzen, und alle zwölf brannten zu beiden Seiten eines Sarges, darin lag die Tante, die schwarze Witwenhaube tief in die Stirn gerückt. Und neben dem Sarge standen kleine Zypressenbäume, die wuchsen und wuchsen hoch wie Pappeln, und nun war es eine Pappelallee, und zwischen den Pappeln kam ein Wagen rasch herangefahren, dem lief er nach und wollte rufen, aber die Stimme versagte.

Alles dies kam und ging und kam wieder, ohne daß es ihn ernstlich beunruhigt hätte. Ein Druck lag auf ihm, bleiern, aber schmerzlos, und unter dem Einfluß einer beinahe süßen Betäubung wurde das Nächstliegende wie in weite Ferne gerückt und das Wirkliche zum Traum. Erregungen der Phantasie, nichts weiter, und von Empfindungen nur eine: die Sehnsucht nach Hohen-Vietz.

Und nun war wieder ein Tag und eine Nacht vergangen; der helle Morgen schien in die Fenster, und es mochte die zehnte Stunde sein. Krist, der bald nach Mitternacht mit dem Planschlitten und einer ganzen Winterausstattung von Pelzröcken, Schals und Filzstiefeln eingetroffen war, war bereits im Stalle beschäftigt, den beiden Braunen die Sielen und die Geläute aufzulegen, und die Krügersfrau stand in der Stalltür, ebensosehr, um selbst noch zu erzählen, wie, um Hohen-Vietzer Neuigkeiten gegen ihre Bohlsdorfer einzutauschen.

Lewin saß reisefertig in seinem Zimmer, während diese Gespräche geführt wurden. Er hatte schon einen Morgenspaziergang gemacht, nicht ins Freie hinaus, nur in die Kirche hinüber, um noch einmal den Grabsteinspruch zu lesen, den er längst auswendig wußte. Seit einer halben Stunde war er von da zurück und hielt ein zusammengefaltetes Blatt in Händen, dessen Inhalt ihn zu beschäftigen schien. Es war Marie Kniehases Brief, den er sich am Tage vorher, im Momente von Renatens Abreise, von dieser erbeten hatte. »Ich will ihn doch noch einmal überfliegen«, sagte er, beugte sich gegen das Fenster vor und las mit halblauter Stimme:

»Liebe Renate!

Deinen Brief habe ich gestern abend, wo Doktor Leist bei uns vorfuhr, erhalten. Um mit ihm noch persönlich zu sprechen, dazu war keine Zeit; er wollte bei der späten Stunde gleich weiter. Ich las und lief dann in meiner Herzensfreude zum Pastor, der kaum weniger freudig bewegt war als ich. Und doch ist es etwas Trauriges. Du schreibst: ›Warum er Berlin verlassen hat?‹ und fügst dann hinzu: ›Darüber habe ich nur Vermutungen, und auch diese kaum.‹ Ach, meine liebe Renate, ich weiß es, und in Traum und Wachen habe ich diese Stunde kommen sehen.

Hier ist alles still, viele Bauern und ihre Frauen sind zum Begräbnis Deiner Tante hinüber. Denn sie war doch auf ihre Art beliebt, und jeder sprach von ihr. Auch Seidentopf ist seit einer Stunde fort. Er will erst nach Guse, dann nach Küstrin und Hohen-Ziesar, und wir erwarten ihn erst am Schluß der Woche zurück. Welche seltsame Trauerversammlung wird um den Sarg der Tante stehen! Bamme, Rutze, Doktor Faulstich. Und denke Dir, auch Jeetze trauert. Es rührte mich fast, als ich ihn heute sah. Er hat ein paar schwarze Gamaschen hervorgesucht – ›noch von der gnädigen Frau her‹, sagte er, und einen Flor.

Meine Gedanken sind beständig bei Euch; sie wandern von einem Giebelzimmer in das andere, und mir ist immer, als kennte ich das Dorf. Es ist dasselbe, von dem uns Lewin am ersten Feiertage erzählte, und ich sehe noch alles vor mir: den Christbaum mit der jungen, hübschen Krügersfrau und den Blondkopf und dann die dunkle Kirche mit der Stehleiter am Altar und der kleinen Handlaterne. Und vor dem Altar liegt der Grabstein mit dem schönen Spruch, den ich mir seitdem wohl hundertmal vorgesprochen habe. Mir ist dann immer, als wüchse ich und könnte fliegen.«

Hier hielt Lewin einen Augenblick inne und wiederholte sich die Worte: als wüchse ich und könnte fliegen. »Wie gut sie es trifft«, setzte er hinzu. Dann nahm er das Blatt, das er aus der Hand gelegt hatte, wieder auf und las bis zu Ende.

»Gebe Gott, daß sich des alten Leist Prophezeiungen erfüllen; er hat versprochen, diese Zeilen wieder mit zurückzunehmen, und ich schicke sie durch Hoppenmarieken nach Lebus. Sie wartet draußen und stößt mit ihrem Stock auf die Flurfliesen, ein Zeichen, daß sie ungeduldig wird. Ich fürchte mich viel zu sehr vor ihr, um ihre schlechte Laune noch wachsen zu lassen. Und so lebe denn wohl, meine einzig geliebte Renate, mein Glück, mein Stolz und meine Zuversicht. Grüße die Schorlemmer, und wenn Lewin die Augen aufschlägt, so denke recht innig auch an mich. Dann fühl' ich es in meinem Herzen.

Deine Marie
 

Lewin, als er zu Ende gelesen, erhob sich und trat an den Zeisigbauer, um dem Vögelchen, das ihm die langen Stunden des voraufgegangenen Tages so freundlich weggezwitschert hatte, zu Dank und Abschied ein Zuckerstückchen zwischen die Stäbe zu stecken.

Er wollte sich eben wieder setzen, als Krist eintrat, um zu melden, daß alles fertig und der Schlitten vorgefahren sei. Zugleich bepackte er sich mit der ganzen Winterausstattung, die unangerührt auf der Bettdecke liegengeblieben war, und stapfte wieder treppab, während Lewin ihm folgte. Auf der Türschwelle blieb dieser noch einmal stehen und sah in das Zimmer zurück. Er war nicht erschüttert, auch nicht eigentlich bewegt (die Nachwehen der Krankheit hielten ihn noch in ihren Banden), aber aller Apathie zum Trotz empfand er doch deutlich, was ihm die hier verbrachten Tage gewesen waren und daß ein Leben hinter ihm versank und ein anderes begann.

Unten stand die Krügersfrau. Kemnitz war noch nicht zurück, aber ihr Prachtstück, den Blondkopf, hielt sie auf ihrem Arme. Sie konnte sich zum Abschiede nicht besser präsentieren, wußt' es auch und lachte herzlich und gefallsüchtig, bis ihr Lewin die Hand reichte und Dankesworte sprach, wobei sie sofort ebenso leidenschaftlich wie krampfhaft zu schluchzen begann. Denn trotzdem sie auf dem Amte hochdeutsch erzogen und im Konfirmandenunterricht bei Pastor Lämmerhirt viel spruchfester gewesen war als ihre kleine Freundin, so hatte sie sich doch die naturkindliche Kraft bewahrt, in jedem passend erscheinenden Moment einen Strom von Tränen vergießen zu können. Lewin, der diese Naturkraft von den Hohen-Vietzer Bauerfrauen her kannte, machte nicht mehr davon, als es wert war, streichelte das Kind, das mit der Hand freundlich nach ihm haschte, und stieg dann hinter den Pferden fort auf die Deichsel des Schlittens. »Und nun vorwärts, Krist.« Dabei drückte er sich bequem in die zu einer Rückenlehne fest zusammengepackten Strohbündel, und in raschem Trabe ging es um die Kirche herum, an den nächsten Gehöften vorbei, in die sonnenbeschienene Landschaft hinein.

Es war ein wundervoller Tag, frisch und doch nicht kalt; am Horizont standen dunkle Streifen von Tannenwald, und dazwischen zeigten sich die Spitztürme verschiedener Ortschaften und Dörfer. Einige davon wurden passiert, und Krist, der hier allerlei Freundschaft hatte, sprach ein Wort oder hielt auch wohl an, um seine Pfeife wieder in Brand zu bringen. Lewin aber genoß der wundervollen Luft und fühlte sich mit jedem Atemzuge mehr und mehr genesen; seine Nerven belebten sich wieder, und der Druck schwand, der bis dahin auf ihm gelegen hatte. Immer freundlicher wurden die Bilder, er gedachte Seidentopfs, und es war ihm, als zöge er dem Frieden entgegen.

So vergingen die Stunden; schellenläutend trabten die Pferde dahin, und schon neigte sich die Sonne zum Untergang.

Vier Uhr war vorüber, als sie vor dem Dolgeliner Kruge hielten. Gerade gegenüber war die Pfarre. Lewin stieg ab, um drinnen in der Krugstube einen Imbiß zu nehmen; Krist aber, nachdem er dem einen Braunen eine wollene Decke, dem andern einen alten Militärmantel aufgelegt hatte, ging über den Fahrdamm auf die andere Seite des Dorfes hinüber, wo gerade Pastor Zabels kleiner Schlitten dicht vor dem Staketenzaune hielt. Der Pfarrknecht nahm die Leinen abwechselnd in die linke und rechte Hand und stampfte ungeduldig den Schnee.

»'n Abend, Karges«, sagte Krist. »Wo wiste henn?«

»Na'h Gus'.«

»Woto denn? Se is joa all unner de Ihrd'. Siet vörvörgestern.«

»Joa. Awers de Schoolkinner hebben hüt ihrst ehren Dag. De süllen um Klocker söss spiest wahren: Hirs' und Swiensbroaten. Un jeed' een noch en Kringel för to Huus.«

»Richtig, richtig, de Schoolkinner. Awers wat hätt denn dien Pastor dabi to dohn?«

»Joa, wat hätt hi dabi to dohn? Ick weet et nich. He möt man ümmer mit dabi sinn.«

In diesem Augenblicke trat Lewin wieder aus dem Krug auf die Straße. Krist, als er seinen jungen Herrn sah, brach das Gespräch rasch ab und kehrte zu den Pferden zurück. Hier nahm er den alten Kavalleriemantel vom Rücken des einen Braunen und hielt ihn ausgebreitet vor Lewin hin, zum Zeichen, daß dieser, ehe er wieder einsteige, ihn anziehen müsse. Lewin wollte aber nicht.

»Laß, Krist«, sagte er, »es ist nicht kalt.«

»Doch, junge Herr. De Sünn is all unner. Un ick süll acht upp Se hebben, dat hebben se mi beed' seggt, ihrst de een, un denn de anner. Un dat helpt nu nich.«

»Laß nur. Ich werde schon sagen, daß ich nicht gewollt habe.«

»Ne, junge Herr, dat geiht nu nich anners. Mit uns' Frölen, da mücht' et ja wull noch sinn, awers bi de Oll'Schorlemmern, doa hedd ick verspeelt.«

»Na, denn gib her«, sagte Lewin und wickelte sich in den bereitgehaltenen Mantel ein.

Es war ihm bald lieb, dem Andringen Krists nicht eigensinnig widerstanden zu haben; es wurde frischer von Minute zu Minute, und die Wärme, die der dicke Mantel gab, tat ihm wohl. Die Sterne zogen herauf; ein Gefühl süßen, unnennbaren Wehs überkam ihn, und ein Tränenstrom brach aus seinen Augen, nicht reichlicher, als ihn die gute Frau Kemnitz vor wenig Stunden erst vergossen hatte, aber viel, viel heißer. Und doch bedeuteten ihm diese Tränen Glück und Genesung. Er gedachte Mariens, und wie sie beide so gleich empfänden. »Mir ist dann, als wüchse ich und könnte fliegen«, wiederholte er aus ihrem Briefe und sah dabei zu den Sternen hinauf, die immer heller funkelten.

So ging die Fahrt. Die Braunen, die seit gestern abend zwölf Meilen gemacht hatten, fielen allmählich in Schritt, und erst von Manschnow aus, wo sie den Stall zu wittern begannen, setzten sie sich wieder in Trab. Es schlug sieben vom Hohen-Vietzer Turm, als sie der vordersten Parkspitze ansichtig wurden, und ehe der letzte Schlag ausgeklungen, hielt der Schlitten vor der Rampe des Wohnhauses. Das erste, was Lewin sah, war der in Trümmern daliegende Saalanbau, und so wenig ihn damals die Nachricht von dem Feuer erschüttert hatte, so groß war jetzt der Eindruck, den die Brandstätte auf ihn machte. Und dieser Eindruck wurde noch dadurch gesteigert, daß im Wohnhause selbst alles in Schweigen und Dunkel lag.

Niemand ließ sich sehen. Krist knipste mit der Peitsche, und die Braunen schüttelten ungeduldig ihr Schellengeläut. Endlich kam Licht, und Jeetzes hagere Gestalt zeigte sich hinter der Glastüre. Er stellte den Leuchter etwas seitwärts, um die Flamme gegen den Zugwind zu schützen, und trat dann ins Freie, um seinem jungen Herrn bei dem Aussteigen behilflich zu sein.

»Guten Abend, Jeetze. Alles ausgeflogen?«

»Ja, junger Herr. Wir hatten Sie nicht so früh erwartet.«

»Und wo ist Papa?«

»Immer noch in Guse.«

»Und Renate?«

»Bei Müller Miekley. Uhlenhorst ist da, und da sind ja nun die Lutherschen wieder zusammen. Auch die von drüben; der Zehdensche Amtmann und der alte Oberförster von Lietze-Göricke. Unser Fräulein wollte erst nicht mit; aber Tante Schorlemmer hat ihr keine Ruhe gelassen.«

»So, so«, sagte Lewin in leiser Verstimmung.

»Soll ich sie holen?«

»Nein, laß. Ich bin müde.«

Damit traten sie von der Halle her, in der dies Gespräch geführt worden war, auf den Hinterflur des Hauses, wo Hektor schon seinen jungen Herrn erwartete. Aber als ob er wisse, daß dieser krank gewesen sei, enthielt er sich aller stürmischen Liebkosungen. Still wedelnd ging er neben ihm her und leckte ihm nur immer wieder die Hand, während sie die Treppe hinaufstiegen.

In Lewins Zimmer war alles zu seinem Empfange bereit. Das leichte Federbett war halb zurückgeschlagen, und die bunte Steppdecke lag zusammengefaltet auf dem Stuhl daneben. Auf dem Sofatisch standen Maiblumen, das einzige, was das seit dem Tode der Frau von Vitzewitz vernachlässigte Gewächshaus hergegeben hatte. Aber was ihnen Wert lieh, war das, daß es Lewins Lieblingsblumen waren. Er sog ihren Duft ein und sagte mit bewegter Stimme: »Renate!« während sich ihm ein beglückendes Gefühl des Geborgenseins in Heimat und treuer Liebe um das schwergeprüfte Herz legte.

Eine Stunde später öffnete Jeetze leise wieder die Tür. Das Licht brannte noch, und der Alte nahm es vom Tisch, um es zu löschen. Hektor, der auf seinem Rehfell lag, blinzelte mit dem einen Auge, aber rührte sich nicht.

Und im nächsten Augenblicke war alles wieder still.


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