Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Zehntes Kapitel
Marie

»Sie wird dem Hause Segen bringen, wie die Schwalben am Sims«, so hatte Prediger Seidentopf gesprochen, und seine Worte sollten in Erfüllung gehen. Das Kopfschütteln der Bauern nahm bald ein Ende. Es geschah das, was unter ähnlichen Verhältnissen immer geschieht: dunkle Geburt, seltsame Lebenswege, wie sie den Argwohn wecken, wecken auch das Mitgefühl, und ein schöner Trieb kommt über die Menschen, ein unverschuldetes Schicksal auszugleichen. Der Zauber des Geheimnisvollen unterstützt die wachgewordene Teilnahme.

Das erfuhr auch Marie. Ehe noch der erste Winter um war, war sie der Liebling des Dorfes; keiner spöttelte mehr über das Gazekleid mit den Goldpapiersternchen, in dem sie zuerst vor ihnen aufgetreten war. Vielmehr erschien ihnen jetzt dieser bloße Hauch einer Kleidung als ihr natürliches Kostüm, und wenn Schulze Kniehase, der das Kind von Anfang an über die Maßen liebte, drüben im Kruge saß und halb ernsthaft, halb scherzhaft versicherte, »sie sei ein Feenkind«, so widerredete niemand, weil er nur aussprach, was alle längst schon an sich selbst erfahren hatten. Daß sie fortfliegen würde, daran glaubte freilich niemand mehr, mit alleiniger Ausnahme der Mädchen in den Spinnstuben, die voll Spuk- und Gespensterbedürfnis immer Neues und Wunderbares von ihr zu erzählen wußten. Und nicht alles war Erfindung. So hatte sie wirklich eine unbezwingbare Vorliebe für den Schnee. Wenn die Flocken still vom Himmel fielen oder tanzten und stöberten, als würden Betten ausgeschüttet, dann entfernte sie sich aus dem Vorderhause, kletterte die lange Schrägleiter hinauf, die bis auf den First des Scheunendaches führte, und stand dort oben schneeumwirbelt. Die Mädchen versicherten auch, sie hätten sie singen hören. Es bedarf keiner Ausführung, welche phantastisch weitgehenden Schlüsse daraus gezogen wurden.

So war es im Winter. Als der Sommer kam, der eine freiere Bewegung gönnte, gewann sie vollends alle Herzen. Sie besuchte nicht nur die einzelnen Bauerhöfe, sondern auch die ausgebauten Lose, die weiter ins Bruch hineinlagen, spielte mit den Kindern und erzählte Geschichten. Das Fremde und Geheimnisvolle, das sie von Anfang an gehabt hatte, blieb ihr, aber niemand wunderte sich mehr darüber. Auch die Dorfmädchen nicht. Einmal verirrte sie sich; im Kniehaseschen Hause war große Aufregung; alles lief und suchte bis an die Oder hin. Endlich fand man sie, keine tausend Schritt vom Dorfe. Sie lag schlafend im Korn, ein paar Mohnblumen in der Hand; ein kleiner Vogel saß ihr zu Füßen. Niemand kannte den Vogel, als er aufflog und aller Augen ihn verfolgten. »Der hat sie beschützt!« sagten die Hohen-Vietzer.

In der Regel spielte sie auf dem Abhange zwischen der Kirche und dem Dorfe, am liebsten auf dem Kirchhofe selbst. Sie las die Inschriften, umarmte den Rasen von ihres Vaters Grabe, kletterte auf die hohe Feldsteinmauer und sah auf die Segel der Oderkähne nieder, die, angeglüht von der sich neigenden Sonne, unten auf dem Strome vorüberzogen. Kam dann des alten Küsters Kubalke Magd, um zu Abend zu läuten, so folgte sie dieser, zog ein paarmal mit an dem Glockenstrang und huschte dann in die schon halbdunkle Kirche hinein. Hier setzte sie sich mit halbem Körper auf das äußerste Ende der Frontbank, auf der am Tage nach der Kunersdorfer Schlacht der Major vom Regiment Itzenplitz verblutet war, blickte seitwärts scheu nach dem dunkeln Fleck, den alles Putzen nicht hatte wegschaffen können, und sah dann, um das selbstgewollte Grauen wieder von sich zu bannen, nach dem großen Vitzewitzschen Marmorbilde hinüber, das die Inschrift trug: »So Du bei mir bist, wer will wider mich sein.« So blieb sie, bis der Glockenton verklang. Dann trat sie wieder auf den Kirchhof hinaus, sah der Magd nach, die den Schlängelpfad ins Dorf herniederstieg, und umkreiste bang, aber immer enger und enger die alte Buche, deren zweigeteilter Stamm, der Sage nach, an den Bruderzwist der Vitzewitze gemahnte. Fiel dann ein Blatt oder flog ein Vogel auf, so fuhr sie zusammen.

Es waren schöne Tage, dieser erste Sommer in Hohen-Vietz; aber diese schönen Tage konnten nicht dauern. Die Schulzenleute, Mann wie Frau, hatten längst ihre Sorge darüber. All dies Umherstreifen währte schon zu lange; Arbeit, Ordnung, Schule mußten an seine Stelle treten. Aber wie? Beide Kniehases waren weitab davon, ein Prinzeßchen aus ihrem Pflegekind machen zu wollen, aber ebenso bestimmt fühlten sie auch, daß die Dorfschule kein Platz für sie sei. Sie paßte nicht unter die Holzpantoffelkinder, ganz abgesehen davon, daß sie, ohne je eine Schulstunde gehabt zu haben, um ein Beträchtliches besser lesen konnte als der alte Jeserich Kubalke, zumal wenn er seine Hornbrille vergessen hatte.

In dieser Not half die gute Frau von Vitzewitz. Sie hatte längst daran gedacht, das sonderbare Kind, von dessen phantastischem Wesen sie so manches gehört hatte, als Spiel- und Schulgenossin Renatens in ihr Haus zu ziehen, allerhand Erwägungen aber, die dagegen sprachen, hatten es damals nicht dazu kommen lassen. Der Kniehasesche Pflegling, so gewinnend er sein mochte, war doch immer eines Taschenspielers, im günstigsten Falle eines verarmten Schauspielers Kind, und so wenig sie persönlich einen Anstoß daran nahm, so glaubte sie dennoch in Erziehungsfragen weniger ihr eigenes, durchaus freies und vornehmes Empfinden als vielmehr allgemeine, aus Pflicht und Erfahrung hergeleitete Anschauungen zu Rate ziehen zu müssen. So zerschlug es sich denn wieder. Pastor Seidentopf hätte es freilich wohl schon damals in der Hand gehabt, einen andern Ausgang herbeizuführen; er wollte jedoch, in einer so verantwortungsvollen Angelegenheit, nicht ungefragt eingreifen und zog es vor, sich die Dinge selber machen zu lassen.

Und sie machten sich auch, und zwar in sehr eigentümlicher Weise. Am Rande des Vitzewitzschen Parks, schon in einiger Erhöhung, stand eine Florastatue und sah einen breiten Kiesweg hinunter auf die Gartenfront des Herrenhauses. Zu Füßen der Statue waren fünf dreieckige Blumenbeete angelegt, die in ihrer Gesamtheit einen umfassenden Halbkreis bildeten. An dieser Stelle hatte Marie bei ihren täglichen Streifereien häufig ein paar Blumen gepflückt, Balsaminen oder Reseda, und war dabei niemals einem Verbot begegnet. Im Gegenteil. Der Gärtner, des zierlichen und fremdartigen Kindes sich freuend, hatte ihr zugenickt und einmal sogar ihr ein paar Fuchsiaknospen über das linke Ohr gehängt. Nun war es September geworden; die roten Verbenen blühten, und dazwischen, aus eingegrabenen Töpfen, wuchsen ein paar unscheinbare Blumen auf, die dem spielenden Kinde als dunkle Vergißmeinnicht erschienen. Sie pflückte sie ab. Es war aber Heliotrop, damals noch etwas Seltenes, und Frau von Vitzewitz wollte wissen, wer ihr das angetan und sie um den Anblick ihrer Lieblingsblume gebracht habe. Als Marie davon hörte, faßte sie rasch einen Entschluß. Sie setzte sich auf eine Bank, in unmittelbarer Nähe der Statue, und als Frau von Vitzewitz auf ihrem Spaziergang den breiten Kiesweg hinaufschritt, sprang sie auf, eilte der Herankommenden entgegen, küßte ihr die Hand und sagte: »Ich habe es getan.« Sie war dabei hochrot und zitterte, aber sie weinte nicht. Von diesem Augenblick an war die Freundschaft geschlossen. Frau von Vitzewitz streichelte ihr das Haar und sah sie fest und freundlich an; dann führte sie sie zu der Bank zurück, von der sie aufgestanden war, stellte Fragen und ließ sich erzählen. Alles bestätigte ihr den ersten Eindruck. So trennten sie sich. Noch am selben Nachmittage aber sagte Frau von Vitzewitz zu Seidentopf: »Das ist ein seltenes Kind«, und ehe acht Tage um waren, war sie die Spiel- und Schulgenossin Renatens.

Sie war anfangs zurück; alles, was sie konnte, war eben Lesen und Deklamieren. Aber ihre schnelle Fassungsgabe, durch Gedächtnis und glühenden Eifer unterstützt, gestattete ihr, das Versäumte wie im Fluge nachzuholen, und ehe noch ein halbes Jahr um war, war sie in den meisten Disziplinen Renaten gleich. Und wie sie den von Frau von Vitzewitz an ihre Fähigkeiten geknüpften Erwartungen entsprach, so auch denen, die sich auf ihren Charakter bezogen. Sie war ohne Laune und Eigensinn; etwas Heftiges, das sie hatte, wich jedem freundlichen Wort. Die beiden Mädchen liebten sich wie Schwestern.

Nichts war mißglückt, über Erwarten hinaus hatten sich die Wünsche der Frau von Vitzewitz erfüllt, dennoch stellten sich immer wieder Bedenken bei ihr ein, die freilich jetzt nicht mehr das Glück Renatens, sondern umgekehrt das Glück Mariens betrafen. Es galt nicht nur den Augenblick, sondern auch die Zukunft befragen. Wie sollte sich diese gestalten? War es recht, dem Schulzenkinde die Erziehung eines adeligen Hauses zu geben? Wurde Marie nicht in einen Widerspruch gestellt, an dem ihr Leben scheitern konnte? Sie teilte diese Bedenken ihrem Gatten mit, der, von Anfang an dieselben Skrupel hegend, sofort entschlossen war, mit Schulze Kniehase, zu dessen Verständigkeit er ein hohes Vertrauen hatte, die Sache durchzusprechen.

Berndt ging in den Schulzenhof, traf Kniehase mitten in Rechnungsabschlüssen, die das nach Küstrin hin gelieferte Stroh- und Haferquantum betrafen, rückte mit ihm in die Fensternische und stellte ihm alles vor, wie er es mit der Frau von Vitzewitz besprochen hatte.

Schulze Kniehase hörte aufmerksam zu, dann sagte er, als sein Gutsherr schwieg: er habe sich's, als von der Sache zuerst gesprochen wurde, auch überlegt, ob er dem Kinde nicht die Ruhe nehme, die doch mehr sei als alles Lernen und Wissen. All sein Überlegen aber habe doch immer wieder dahin geführt, daß es das beste sein würde, die gnädige Frau, die es so gut meine, ruhig gewähren zu lassen. So sei es ein halbes Jahr gegangen. Es jetzt nun nach der entgegengesetzten Seite hin zu ändern, sei nur ratsam, wenn es der ausgesprochene Wille der gnädigen Frau sei. Sein eigener Wunsch und Wille sei es schon seit Monaten nicht mehr; die Bedenken, die er anfangs gehabt, seien mehr und mehr von ihm abgefallen. Er wisse auch wohl warum. Das Kind, das ihm die Hand Gottes fast auf die Schwelle seines Hauses gelegt habe, sei kein bäuerlich Kind; es sei nicht bäuerlich von Geburt und nicht bäuerlich von Erscheinung. Er säße so mitunter in der Dämmerstunde und mache sich Bilder, wie auch wohl andere Leute täten, aber wie vielerlei auch an ihm vorüberzöge, nie sähe er seine Marie mit geschürztem Rock und zwei Milcheimern unter dem Zurufe lachender Knechte über den Hof gehen. Er liebe das Kind, als ob es sein eigen wäre; aber er betrachte es doch als ein fremdes, das eines Tages ihm wieder abgefordert werden würde. Nicht von den Menschen, wohl aber von der Natur. Es wird so sein, wie mit den Enten im Hühnerhof, die eines Tages fortschwimmen, während die Henne am Ufer steht.

Als Kniehase so gesprochen, hatte ihm Berndt von Vitzewitz die Hand gereicht, und im Herrenhause schwiegen von jenem Tage an alle Bedenken.

Auch der Tod der Frau von Vitzewitz, schmerzlich wie er von Marie empfunden wurde, änderte nichts in ihrem Verhältnis zu den Zurückgebliebenen. Tante Schorlemmer kam ins Haus, und frei von jener Liebedienerei, die sich in Bevorzugung Renatens hätte gefallen können, betrachtete sie vielmehr beide Mädchen wie Geschwister und umfaßte sie mit gleicher Herzlichkeit.

Nach der Einsegnung hörten die Unterrichtsstunden auf, aber die beiden Mädchen waren zu innig aneinander gekettet, als daß der Wegfall dieses äußerlichen Bandes das geringste an ihrer Verkehrs- und Lebensweise hätte ändern können. Der Geburts- und Standesunterschied wurde von Renate nicht geltend gemacht, von Marie nicht empfunden. Sie sah in die Welt wie in einen Traum und schritt selber traumhaft darin umher. Ohne sich Rechenschaft davon zu geben, stellten sich ihr die hohen und niederen Gesellschaftsgrade als bloße Rollen dar, die wohl dem Namen nach verschieden, ihrem Wesen nach aber gleichwertig waren. Es war im Zusammenhange damit, daß unter allen Bildern, die sich im Vitzewitzeschen Hause befanden, eine Nachbildung des »Lübecker Totentanzes«, bei allem Erschütternden, doch zugleich den erhebendsten Eindruck auf sie gemacht hatte. Die Predigt von einer letzten Gleichheit aller irdischen Dinge sprach das aus, was dunkel in ihr selber lebte. Dabei war sie ohne Anspruch und ohne Begehr. Alles Schöne zog sie an; aber es drängte sie nur, daran teilzunehmen, nicht es zu besitzen. Es war ihr wie der Sternenhimmel; sie freute sich seines Glanzes, aber sie streckte nicht die Hände danach aus.

Diese Unbegehrlichkeit hatte sich auch an ihrem sechzehnten Geburtstage gezeigt. Bei dieser Gelegenheit erhielt sie als großes Geschenk des Tages ihr eigenes Zimmer. Beide Kniehases führten sie, mit einer gewissen Feierlichkeit, in die nördliche Giebelstube, die geradeaus den Blick auf den Park, nach rechts hin auf die Kirche hatte, und sagten: »Marie, das ist nun dein; schalte und walte hier; erfülle dir jeden kleinen Wunsch; uns soll es eine Freude sein.«

Marie, im ersten Sturm des Glückes, hatte ein Hin- und Herschieben mit Schrank und Nähtisch, mit Bücherbord und Kleidertruhe begonnen, aber dabei war es geblieben. Es kam ihr nicht in den Sinn, ihrem alten, ihr liebgewordenen Besitz etwas Neues hinzuzufügen. Was sie hatte, freute sie, was sie nicht hatte, entbehrte sie nicht.

»Sie hat Mut, und sie ist demütig«, hatte nach jener ersten Begegnung im Park Frau von Vitzewitz zu Pastor Seidentopf gesagt. Sie hätte hinzusetzen dürfen: »Vor allem ist sie wahr.« Jenes Wunder, das Gott oft in seiner Gnade tut, es hatte sich auch hier vollzogen: innerhalb einer Welt des Scheins war ein Menschenherz erblüht, über das die Lüge nie Macht gewonnen hatte. Noch weniger das Unlautere. Tante Schorlemmer sagte: »Unsere Marie sieht nur, was ihr frommt, für das, was schädigt, ist sie blind.« Und so war es. Phantasie und Leidenschaft, weil sie sie ganz erfüllten, schützten sie auch. Weil sie stark fühlte, fühlte sie rein.

Im Hohen-Vietzer Herrenhause – es war im Winter vor Beginn unserer Erzählung – sang Renate ein Lied, dessen Refrain lautete:

Sie ist am Wege geboren,
Am Weg, wo die Rosen blüh'n...

Sie begleitete den Text am Klavier.

»Weißt du, an wen ich denken muß, sooft ich diese Strophen singe«, fragte Renate den hinter ihrem Stuhl stehenden Lewin.

»Ja«, antwortete dieser, »du gibst keine schweren Rätsel auf.«

»Nun?«

»An Marie.«

Renate nickte und schloß das Klavier.


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