Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Diese Mitteilungen, mit Jubel aufgenommen, schlugen den letzten Rest von Verlegenheit, wenn ein solcher überhaupt noch da war, in die Flucht, namentlich bei Berndt, der ohnehin von Anfang an den Vorfall im Ladalinskischen Hause nicht gerade von der allertragischsten Seite genommen hatte. Was war es denn schließlich? Mehr dem Eigensinn als der Ehre des alten Geheimrats war eine Niederlage bereitet worden. Bninski war Graf und reich, und Lewin – war jung. Der Ungar, dem nicht nur Bamme, sondern die ganze Tafelrunde mehr und mehr zuzusprechen begann, begann auch in gleichem Maße die gute Stimmung zu steigern, und Berndt, erfüllt von Plänen, deren Ausführung aus der Anwesenheit und dem Verbleib seiner Gäste nur Vorteil ziehen konnte, richtete schließlich die Frage an Tubal: »Bis wie lange?«

»Bis morgen.«

Das war nun freilich nicht das, was er zu hören gewünscht hatte.

»Ihr müßt bleiben«, rief er, »und uns zur Hand gehen. Mit dem Guser Coup sind wir sitzen geblieben; dieser Conte war klüger, als ich ihn nahm, und hat seinen Kopf rechtzeitig aus der Schlinge gezogen. Aber die nächsten Tage müssen etwas bringen, und wenn wir recta gegen ›Bastion Brandenburg‹ oder den ›Hohen Kavalier‹ anstürmen sollten. Bamme und ich waren die ersten hier herum und exerzierten schon, als sich jenseits der Oder noch keine Hand rührte, und nun haben sie drüben den kleinen Krieg comme il faut, während wir immer noch dasitzen wie die Spittelweiber in der Nachmittagspredigt.«

Ein strafender Blick der Schorlemmer traf ihn, und Berndt, nachsichtig bis zur Schwäche gegen die rigorösen Launen der alten Herrnhuterin, korrigierte sich sofort und sagte, seinen letzten Satz in anderer Form wiederholend: »Während wir immer noch stillsitzen und unsere Hände in den Schoß legen. Aber das muß anders werden. Überall ist man uns voraus, in Soldin, in Driesen, in Landsberg. Und nicht genug daran, keine Stunde Wegs von hier schlagen diese Kirch-Göritzer ihre Krampenschlacht, und ehe wir's uns versehen, hat Faulstich den Pour le mérite. Sind wir dazu da, um vor Handschuhmacher Pfeiffer die Segel zu streichen? Wir, die wir zuerst gekräht haben, zuerst und am lautesten. Sollen wir uns sagen lassen, daß wir bloß gespielt und mit Exerzitium und Trommelschlagen dem lieben Herrgott die Zeit gestohlen hätten. Nein, ich hasse nichts mehr als diese Soldatenspielerei. Und warum? Weil ich Soldat war und das Ding ernsthaft ansehe. Ein Bürger, ein Bauer ist nicht gebunden, die Waffe zu nehmen, aber wenn er sie nimmt, muß er sie brauchen, sonst ist er ein Narr oder ein Prahler.«

»Es ist doch ein eigen Ding um den Ungar«, schmunzelte Bamme und drehte seinen Schnurrbart. »So läßt er uns beispielsweise die Rollen tauschen. Sie, Vitzewitz, sprechen wie Bamme, so muß ich denn wie Vitzewitz sprechen. Das heißt ruhig und besonnen. Nein, Freunde, Sie gehen zu weit, vor allem zu weit gegen sich selbst. Zum Streiten gehören zwei, sagt das Sprichwort. Und zum Bataillieren auch. Erst müssen wir sie haben, haben

»Nicht doch«, unterbrach ihn Berndt, »verstecken wir uns nicht hinter diesem Satz. Der Feind ist überall. Es braucht nur guten Willen, und wir begegnen ihm. ›Suchet, so werdet ihr finden.‹ Ein Sprichwort ist des anderen wert, und meines ist sogar ein Spruch. Solche Trupps, wie die hundert Mann in Guse, sind jetzt auf jeder Straße. Wir erklären sie gefangen, mehr ist nicht nötig. Es sind Expeditionen (du warst ja dabei, Tubal), als ob wir Muschwitz und Rosentreter aufsuchten, meine ›französischen Marodeurs‹ von damals. Von Gefahr keine Rede, viel weniger, als um unserer Reputation willen zu wünschen wäre. Aber das Blatt kann sich wenden, neue Regimenter des Vizekönigs mischen sich schon mit den alten, und unter allen Umständen, so oder so, du bleibst, du und deine Freunde!«

Tubal wechselte zustimmende Blicke mit Hirschfeldt.

»So bleiben wir denn«, riefen beide, und Hirschfeldt, indem er sich gegen Berndt verneigte, setzte hinzu: »Der Aufruf ist noch nicht da, und die Bildung der Freiwilligenkorps hat kaum erst begonnen. So versäumen wir nicht viel. Ist doch Hohen-Vietz ohnehin eine Etappe nach Schlesien; in drei Tagen sind wir in Breslau, spätestens in vier. Ich für mein Teil stelle mich zu Diensten, und unser Freund Grell, bei allem Kriegseifer, der ihn beseelt, wird ein Gespräch über Hölderlin, zu dem sich ihm hier die beste Gelegenheit darbietet, auch nicht zu den verlorenen Stunden zählen. Ich bitte den Herrn General, über mich verfügen zu wollen.«

»Topp, Hirschfeldt«, sagte dieser. »Das nenn' ich eingefangen! Sie sind mir willkommener, als Sie wissen können. Es ist nichts Kleines für einen alten Zietenschen, der bloß reiten und die Augen aufmachen kann, einen Aide-de-camp um sich zu haben, der sich auf Karten und Listen und aufs Schreiberhandwerk versteht. Denn ganz ohne Federfuchserei geht es nicht mehr in der Welt. Auf gute Kameradschaft also!«

Und dabei klangen die Gläser zusammen.

 

Eine Viertelstunde später erhoben sich alle von der Tafel, und die beiden Damen, während der Rest der Gesellschaft das Eckzimmer aufsuchte, stiegen in das obere Stockwerk hinauf, um hier für die Plazierung ihrer Gäste Sorge zu tragen. Sie kamen überein, den hölderlin-schwärmenden Grell bei Lewin, Tubal und Hirschfeldt aber in dem nebenangelegenen Zimmer unterzubringen. Alles dies war rasch geordnet, nur Bammes Unterbringung machte Schwierigkeiten. »Wo schaffen wir ihn hin?« sagte die Schorlemmer. »Ich mag ihn nicht auf unserem Korridor haben. Er ist anstößig und ein Greuel.«

»Ich fürchte mich auch vor ihm«, entgegnete Renate. »Das heißt ein wenig.«

»Und das ist gut, daß du dich fürchtest. Ich tue es auch, wenn Abneigung Furcht ist. Er darf nicht nach oben, zehn Schritt von deinem und meinem Zimmer. Vielleicht klingelt er, oder gewiß klingelt er, und Maline muß ihm ein Glas Wasser bringen.«

»Nun?«

»Nun?« wiederholte die Schorlemmer. »Wie du nur fragst, Renate! Ich habe dich doch zu fromm erzogen. Ein Mensch wie Bamme trinkt nie Wasser und klingelt immer und rechnet dabei auf dies und das.«

»Aber, liebe Schorlemmer...«

»Ich habe mit den Angekoks gelebt«, fuhr diese fort, »und die Grönländer, die auch klein sind, geradeso klein wie dieser Bamme, die waren auch alle in der Fleischeslust. Meine liebe Renate, gewiß, man soll den Teufel nicht an die Wand malen; aber ebenso gewiß ist es, man soll den Brunnen nicht erst zudecken, wenn das Kind hineingefallen ist. Und die Maline ist ein Kind, ja, das ist sie mit all ihrer Klugheit. Denn was die Klugheit hilft, das verdirbt die Eitelkeit. Und mit den Eitlen hat er immer das leichteste Spiel. Du weißt schon wer. Mir ist, als hätten wir den Bösen im Hause.«

»Du nimmst es schlimmer, als es ist«, sagte Renate. »Er hat keinen guten Ruf. Aber die Menschen übertreiben, und alles in allem, er ist ein alter Mann; er muß siebzig sein oder darüber. Ich entsinne mich, daß die Tante von ihm sagte: ›Wenn wir die Sünde nicht fliehen, so flieht die Sünde doch schließlich uns.‹ Sie sagte es französisch, aber das hörst du nicht gern.«

 

So ging oben auf dem Korridor das Gespräch, und während es geführt wurde, plätscherte der Gegenstand all dieser moralischen Ängste nicht nur persönlich in einem Meer von Behagen, sondern wußte sein eigenes Wohlgefühl auch seiner Umgebung mitzuteilen. Er war affabel und pikant wie gewöhnlich, durch Hirschfeldts Bleiben aufrichtig erfreut, und verzichtete darauf, wichtigtuerisch den General zu spielen. Wußt' er doch, daß er sich gehen lassen konnte, ohne an Autorität etwas Erhebliches einzubüßen. Und wenn doch, so war er der Mann, sich das Verlorengegangene jeden Augenblick zurückzuerobern. Mit Hansen-Grell, der ihm unter seinem etwas fremdklingenden Doppelnamen vorgestellt worden war, wußt' er anfänglich, teils um dieses Namens, teils um seiner sonderbar vorstehenden Augen willen, nichts Rechtes anzufangen, söhnte sich aber bald mit ihm aus und versprach ihm beim Tarock – das unser Gantzerscher Kantorssohn als Spielpartner im Graf Moltkeschen Hause bis zur Perfektion gelernt hatte – einmal über das andere die Groß-Quirlsdorfer Pfarre, »wenn er erst seinen ›jetzigen‹ zu Tode geärgert oder nach Berlin hin weggelobt haben würde«. Denn dahin passe er, und dahin müss' er. Patronat und Pfarre könnten eben nur bei Gleichartigkeit der Interessen mit- und nebeneinander bestehen, und das beste Bindemittel sei und bleibe Tarock oder doch überhaupt die Karte.

Rasch verging der Abend. Bald nach neun Uhr wurde das Spiel abgebrochen, und alles zog sich zurück, die jüngeren Männer in die Fremdenstuben treppauf, der General in sein Parterrezimmer, in das auch bei heftigem Klingeln nicht einzutreten allen weiblichen Dienstboten des Hauses aufs schärfste anbefohlen worden war.

Eine halbe Stunde später war alles still; nur in einer der oberen Korridorstuben war noch Licht, und Renate und Marie plauderten von den Erlebnissen des Tages: von Bamme und den ridikülen Befürchtungen der Schorlemmer, von Grell und seiner imponierenden Häßlichkeit, von Hirschfeldt und seinem zerhauenen Gesicht.

»Narben ist doch das Schönste«, versicherte Marie.

Und dann glitt das Gespräch zu Tubal hinüber, dessen Name sehr bezeichnenderweise bis dahin noch nicht genannt worden war.

»Erzähle«, sagte Marie, »wie war er?«

»Er war befangen und vermied es, meinem Auge zu begegnen. Dabei sprach er viel und hastig, aber ich bemerkte wohl, daß ihm nur daran lag, sich und uns über das Peinliche dieses Wiedersehens hinwegzuhelfen. Eine Zartheit, die mich rührte. Aber das ist so Ladalinskische Art. Sie haben alle jene Vornehmheit, die lieber sich als andere verklagt. Und das mindeste zu sagen, es ist, als teilten sie die Verantwortung für das, was geschehen. Deshalb war auch Tubal nicht mit in Guse. Der alte Geheimrat bekannt' es mir schon, als wir uns in Bohlsdorf trafen.«

Marie schüttelte den Kopf.

»Ich seh' es anders«, sagte sie. »Was du Zartheit nennst, ist ihr Gewissen, und die Mitschuld, deren sie sich leise zeihen, ist keine eingebildete. Sie sind sich alle gleich und kennen nichts als den Augenblick. Er liebt dich und ist doch seiner eigenen Liebe nicht sicher. Voller Mißtrauen gegen sich selbst, begegnet er dir mit Scheu. Vielleicht, daß er es dir offen bekennen wird, um wenigstens vor sich selbst einen Halt und etwas, das einer Rechtfertigung ähnlich sieht, gewonnen zu haben.«

»Ihr hattet immer eure Fehde«, sagte Renate. »Wüßt' ich es nicht besser, ich könnte glauben, du liebtest ihn.«

Und damit schieden die Freundinnen, und Maline kam, um Marie nach Hause zu begleiten.

 

Die letzten Worte dieser Unterhaltung waren unter Lachen gesprochen worden, aber Renate, als sie wieder allein war, lachte nicht mehr. Waren das nicht dieselben Befürchtungen, die sie selbst erst diesen Morgen aufrichtig und doch in der Hoffnung auf Widerlegung gegen Lewin geäußert hatte? Und nun hörte sie nichts als die Bestätigung alles dessen, was ihr ahnungsvoll das eigene Herz bedrückte. Hatte Marie recht? Und, schlimmer als das, hatte sie selber recht?

Sie hätte wohl noch weitergefragt und gegrübelt, wenn nicht die Schorlemmer eingetreten wäre. Diese kam, um ihrem Lieblinge »Gute Nacht« zu sagen. »Die Erbtochter ist da«, so schloß sie, »nun werden auch bald die Hochzeitszüge kommen.«

»Ach, liebe Schorlemmer«, entgegnete Renate, »es ist mit euch Herrnhutern ein eigen Ding. Ihr seid fromm, aber prophetisch seid ihr nicht.«

»Das darfst du nicht sagen, Renate. Wer den rechten Glauben hat, der sieht auch das Rechte.«

»Das Rechte, aber nicht immer das Richtige. Die Wirklichkeit der Dinge läßt euch im Stich.«

Die Schorlemmer lachte gutmütig vor sich hin.

»Das sind so Sätze aus dem neuen Lewinschen Katechismus«, sagte sie. »Aber nichts mehr davon, mein Renatchen, für heute schlafe. Das wird wohl das Rechte und auch das Richtige sein.«


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