Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Neunzehntes Kapitel
Silvester in Guse

Der Brief, den Hoppenmarieken mit dem Bemerken »is hüt dis een man«, an Berndt überreicht hatte, war während der unmittelbar folgenden Szene vergessen worden. Erst als unsere Zwergin vom Forstacker, als sei nichts vorgefallen, in alter Munterkeit vom Hof her in die Dorfstraße einbog, entsann sich Berndt des Schreibens wieder, das aus Kirch-Göritz war und die Aufschrift trug: »An Fräulein Renate von Vitzewitz. Hohen-Vietz bei Küstrin.« Er gab den Brief an Lewin, der nun den langen Korridor hinunterschritt, um ihn Renaten persönlich zu überbringen.

In dem Krankenzimmer war es hell, Renate selbst ohne Fieber, nur noch matt. Kathinka saß an ihrem Bett, während Maline seitab am Fenster stand und eine der Kalvillen schälte, die sie sich am Abend vorher geweigert hatte, aus dem alten Spukesaal heraufzuholen.

»Ist es erlaubt?« fragte Lewin und nahm einen Stuhl. »Ich komme nicht mit leeren Händen; hier ein Brief für dich, Renate.«

»Ach, das ist hübsch! Ich wollte, daß alle Tage Briefe kämen. Kathinka, nimm dir das zu Herzen, und du auch, Lewin. Ihr verwöhnten Leute habt keine Ahnung davon, was uns in unserer Einsamkeit ein Brief bedeutet.«

Während dieser Worte hatte sie das Siegel erbrochen und sah nach der Unterschrift: »Doktor Faulstich.« Es konnte nicht anders sein; wer außer ihm in Kirch-Göritz hätte Veranlassung haben können, an Fräulein Renate von Vitzewitz zu schreiben! Der Brief war übrigens vom 29., also um einen Tag verspätet.

»Lies ihn uns vor«, sagte Kathinka, »so du keine Geheimnisse mit dem Doktor hast.«

»Wer weiß; ich will es aber doch wagen.« Und sie las: »Mein gnädigstes Fräulein! Ein Richterspruch, der keinen Appell gestattet, hat Sie auserkoren, bei der am Silvester in Schloß Guse stattfindenden Vorstellung mitzuwirken. Mehr noch, Sie werden die Festlichkeit zu eröffnen und beifolgenden Prolog zu rezitieren haben, den ich, trotz des bis hierher angeschlagenen Direktorialtones, in meiner geängstigten Dichtereitelkeit Ihrer freundlichen Beurteilung, speziell auch der Nachsicht der beiden Kastaliamitglieder, die mich gestern durch ihren Besuch erfreuten, empfehle. Voll berechtigten Mißtrauens in unsere Kirch-Göritzer Postverhältnisse, habe ich geschwankt, ob es nicht vielleicht geraten sei, diesen Brief durch einen Expressen an Sie gelangen zu lassen; vierundzwanzig Stunden aber für eine Entfernung, die selbst mit dem Umweg über Küstrin nur anderthalb Meilen beträgt, sind reichlich bemessen, und so hege ich denn die Hoffnung, diese Zeilen samt ihrer Einlage rechtzeitig bei Ihnen eintreffen zu sehen. Que Dieu vous prenne, vous et ma lettre, dans sa garde! Mit diesem Wunsche, der sich in Form und Sprache fast mehr schon gegen Guse als gegen Hohen-Vietz verneigt, Ihr treuergebenster Doktor Faulstich.«

»Allerliebst«, sagte Kathinka.

»Ich gebe euch auch noch die Nachschrift.« Und Renate las weiter: »Die Toilette, mein gnädigstes Fräulein, darf Sie nicht beunruhigen, trotzdem es niemand Geringeres als Melpomene selbst ist, der ich meine Prologstrophen in den Mund gelegt habe. In wie vielen Beziehungen auch die neun Schwestern von Klio bis auf Polyhymnia sich beschwerlich erweisen mögen, in einem Punkte sind sie bequem: in der Kostümfrage. Der Faltenwurf ist alles. Ich vertraue übrigens, wenn wir eines Rats benötigt sein sollten, auf Demoiselle Alceste, die mit Hilfe Racines und seiner Schule seit vierzig Jahren unter den Atriden gelebt hat und die Staffeln zwischen Klytämnestra und Elektra beständig auf- und niedergestiegen ist.«

»Ach, wie schade!« rief Maline vom Fenster her, ganz nach Art verwöhnter Dienerinnen, die sich gern ins Gespräch mischen.

»Ja, da hast du recht«, sagte Renate, halb in wirklichem, halb in scherzhaftem Unmut, während sie den Brief wieder zusammenlegte. »Da blitzt es nun mal einen Augenblick herauf, aber nur um mir das Dunkel meiner Hohen-Vietzer Tage wieder um so fühlbarer zu machen. Verzeihe, Kathinka, daß ich undankbar deines Besuches und der Stunden vergesse, die du mir an meinem Bett und auch vorher schon weggeplaudert hast, aber daß ich um diese Fahrt nach Guse komme und um Demoiselle Alceste und um meinen Prolog, das verwinde ich mein Lebtag nicht. Sage selbst: als Muse, als Melpomene; wie das schon klingt! Und von einer französischen Schauspielerin eigenhändig drapiert! Ich kann siebzig Jahre alt werden, ohne zu so was Herrlichem je wieder aufgefordert zu werden.«

»Aber ist es denn unmöglich?« fragte Kathinka. »Du fühlst dich wohler, das Fieber ist fort. Komm mit, wir stecken dich in einen Fußsack und von oben her in einen Pelz.«

Renate schüttelte den Kopf. »Das darf ich dem alten Leist nicht antun. Wenn ich ihm stürbe – das verzieh' er mir all mein Lebtag nicht. Nein, ich bleibe; und du, Kathinka, mußt die Rolle sprechen.«

»Ich?«

»Ja, du hast keine Wahl. In dem Salon unserer Tante ist, wie du weißt, außer dir und mir nichts von Damenflor zu Hause, und wenn Demoiselle Alceste – ich habe die Strophen eben überflogen – nicht als ihr eigener Herold auftreten, sich ankündigen und vielleicht auch verherrlichen soll, so bleibt dir nichts übrig, als den Prolog zu sprechen. Du hast ohnehin die Melpomenefigur. Aber ich glaube fast, du tust es ungern.«

»Nicht doch, ich mißtraue nur meinem Gedächtnis.«

»Oh! da schaffen wir Rat«, sagte Lewin. »Es sind noch zwei Stunden, bis wir aufbrechen; vor allem aber haben wir noch die Fahrt selbst; ich werde dir unterwegs die Strophen rezitieren, einmal, zweimal, und im Nachsprechen wirst du sie lernen. Die frische Luft erleichtert ohnehin das Memorieren.«

Kathinka war es zufrieden. So trennte man sich, da nicht nur die Tischglocke jeden Augenblick geläutet werden konnte, sondern auch das wenige, was außerdem noch an Zeit verblieb, zu Vorbereitungen nötig war, die sich für die Ladalinskischen Geschwister mehr noch auf ihre Abreise überhaupt als auf die Fahrt nach Guse bezogen. Sie hatten nämlich vor, wenn die Tante sie nicht festhielt, in derselben Nacht noch nach Berlin zurückzukehren.

Um vier Uhr hielt das Schlittengespann mit den Schneedecken und den roten Federbüschen, dasselbe, das am dritten Weihnachtsfeiertage Lewin und Renaten nach Guse hinübergeführt hatte, vor der Rampe des Hauses, und nach herzlichem Abschiede von Tante Schorlemmer, auch von Jeetze und Maline, die sich mit ihrem Schürzenzipfel eine Träne trocknete und immer wiederholte: »wie schön es gewesen sei« und: »solch liebes Fräulein«, rückten sich endlich die Ladalinskis auf ihrer Polsterbank zurecht, während Lewin den Platz auf der Pritsche nahm. Der alte Vitzewitz, der noch an Turgany zu schreiben und seinen Bericht über die Resultate der Haussuchung beizufügen hatte, hatte zugesagt, in einer Viertelstunde mit den Ponies zu folgen.

»Ich überhole euch doch! Was gilt die Wette, Kathinka?«

»Du verlierst.«

»Nein, ich gewinne.«

Gleich darauf zogen die Pferde an, und der leichte Schlitten flog mit einer Schnelligkeit dahin, die zunächst wenigstens für die Chancen Berndts besorgt machen konnte.

Kathinka, wie am Abend vorher auf der kurzen Fahrt nach Hohen-Ziesar, hatte auch heute wieder die Leinen genommen, das Glockenspiel klang, und die roten Büsche nickten. Ihr Weg ging erst tausend Schritt auf der Küstriner Straße zwischen den Pappeln hin, ehe sie nach links in die weite Schneefläche des Bruchs einbogen. Als sie die Stelle passierten, wo der Überfall stattgefunden hatte, zeigte Tubal scherzend nach der Waldecke hinüber und beschrieb der Schwester seinen Wettlauf über den Sturzacker hin.

»Und das alles im Ritterdienste Hoppenmariekens. Wer hielt je treuer zu seiner Devise: Mon coeur aux dames!«

»Es müssen eben Zwerginnen kommen, um euch zu ritterlichen Taten anzuspornen. Sonst laßt ihr andere eintreten in Taten und Gesang, und wenn es Doktor Faulstich wäre. Im übrigen ist es Zeit, Lewin, daß wir unsere Lektion beginnen. Ich weiß vorläufig nur, daß die erste Strophe mit einem Reim auf Guse abschließt; Muse, Guse. Ich glaube, die ganze Melpomene-Idee wäre nie geboren worden, wenn dieser Reim nicht existiert hätte.«

Nun begann unter Lachen das Rezitieren, und immer, wenn eine neue Strophe bezwungen war, salutierte Lewin, und der Knall seiner Schlittenpeitsche, dann und wann das Echo weckend, hallte über die weite Schneefläche hin. So hatten sie Golzow, bald auch Langsow passiert, und der Guser Kirchturm wurde schon zwischen den Parkbäumen sichtbar, als plötzlich die Ponies, deren schwarze Mähnen von Renneifer wie Kämme standen, ihnen zur Seite waren und der alte Vitzewitz, in seinem Kaleschwagen sich aufrichtend, zu Kathinka hinüberrief: »Gewonnen!«

»Nein, nein!« Und nun begann ein Wettfahren, in dem als nächstes Objekt die Ottaverime des Doktors und gleich darauf alle Gedanken an Prolog und Melpomene über Bord gingen. Auch über die Braunen, die vor den Schlitten gespannt waren, kam es wie eine ehrgeizige Regung alter Tage, aber der Vorteil ihrer größeren Schritte ging bald unter in dem Nachteil ihrer längeren Dienstjahre, über die nur einen Augenblick lang die jugendlich machenden Schneedecken hatten täuschen können, und um ein paar Pferdelängen voraus donnerte der Kaleschwagen über die Sphinxenbrücke und hielt als erster vor dem Schloß. Berndt hatte das Spritzleder schon zurückgeschlagen, sprang herab und stand rechtzeitig genug zur Seite, um Kathinka die Hand reichen und ihr beim Aussteigen aus dem Schlitten behilflich sein zu können.

»Da hast du die gewonnene Wette«, sagte sie, dem Alten einen herzhaften Kuß gebend, während sie zugleich, zu Lewin gewandt, hinzusetzte: »Voilà notre ancien régime.«

Dann traten sie in die geheizte Flurhalle, wo Diener ihnen die Mäntel und Pelze abnahmen.

In dem blauen Salon der Gräfin war heute der »weitere Zirkel«, dem außer einigen unmittelbaren Nachbarn von Tempelberg, Quilitz und Friedland her auch der Landrat und der neue Seelowsche Oberpfarrer angehörten, schon seit einer halben Stunde versammelt und teilte seine Aufmerksamkeiten zwischen der Wirtin und ihrem bevorzugten Gaste, Demoiselle Alceste. Diese, wie sie zugesagt, war bereits einen Tag früher eingetroffen, und in Plaudereien, die sich bis über Mitternacht hinaus ausgedehnt hatten, war der Rheinsberger Tage, der Wreechs, Knesebecks und Tauentziens, vor allem auch der prinzlichen Schauspieler, des genialen Blainville und der schönen Aurora Bursay mit herzlicher Vorliebe gedacht worden. Über Erwarten hinaus hatte das Wiedersehen, das nach länger als zweiundzwanzig Jahren immerhin ein Wagnis war, beide Damen befriedigt, von denen jede das Verdienst, sofort den rechten Ton getroffen zu haben, für sich in Anspruch nehmen durfte. Am meisten freilich Demoiselle Alceste; sie vereinigte in sich die Liebenswürdigkeiten ihres Standes und ihrer Nation. Sehr groß, sehr stark und sehr asthmatisch, von fast kupferfarbenem Teint und in eine schwarze Seidenrobe gekleidet, die bis in die Rheinsberger Tage zurückzureichen schien, machte sie doch dies alles vergessen durch den die größte Herzensgüte verratenden Ausdruck ihrer kleinen schwarzen Augen und vor allem durch ihre Geneigtheit, auf alles Heitere und Schelmische und, wenn mit Esprit vorgetragen, auch auf alles Zweideutige einzugehen. Was ihr anziehendes Wesen noch erhöhte, waren die Anfälle von Künstlerwürde, denen sie ausgesetzt war, Anfälle, die – wenn sie nicht an und für sich schon einen Anflug von Komik hatten – jedenfalls in dem als Rückschlag eintretenden Moment der Selbstpersiflierung zu herzlichster Erheiterung führten. Ihre geistige Regsamkeit, auch ihr Embonpoint, das keine Falten gestattete, ließen sie jünger erscheinen als sie war, so daß sie sich, obgleich sie beim Regierungsantritt Ludwigs XVI. die Phädra gespielt hatte, in weniger als einer halben Stunde der Eroberung erst Drosselsteins und dann Bammes rühmen durfte.

Von diesen Eroberungen mußte ihr, ihrem ganzen Naturell nach, die zweite die wichtigere sein. Drosselsteins hatte sie viele gesehen, Bammes keinen, und den Tagen der Liebesabenteuer auf immer entrückt, hatte sie sich längst daran gewöhnt, den Wert ihrer Eroberungen nur noch nach dem Unterhaltungsreiz, den ihr dieselben gewährten, zu bemessen. Sie war darin der Gräfin verwandt, nur mit dem Unterschiede, daß diese das Aparte überhaupt liebte, während alles, was ihr gefallen sollte, durchaus den Stempel des Heitern tragen mußte. Dabei war ihr überraschenderweise auf der Bühne das Komische nie geglückt, und nur in Rollen, die sich auf Inzest oder Gattenmord aufbauten, hatte sie wirkliche Triumphe gefeiert.

Es wurde schon der Kaffee gereicht, als die Hohen-Vietzer eintraten und auf Tante Amelie zuschritten. Diese, nach herzlicher Begrüßung, erhob sich von ihrem Sofaplatz, um ihren Liebling Kathinka – die kaum Zeit gefunden hatte, von Renatens Unwohlsein und der momentan in Gefahr geratenen Melpomenerolle zu sprechen – mit ihrem französischen Gaste bekanntzumachen.

Demoiselle Alceste brach ihr Gespräch mit Bamme ab und trat den beiden Damen entgegen.

»Je suis charmée de vous voir«, begann sie mit Lebhaftigkeit, »Madame la Comtesse, votre chère tante, m'a beaucoup parlé de vous. Vous êtes polonaise. Ah, j'aime beaucoup les Polonais. Ils sont tout-à-fait les Français du Nord. Vous savez sans doute que le Prince Henri était sur le point d'accepter la couronne de Pologne.«

Kathinka hatte nie davon gehört, hielt aber mit diesem Geständnis klüglich zurück, während Demoiselle Alceste das immer politischer werdende Gespräch in Ausdrücken fortsetzte, die, was Bewunderung für den Prinzen und Abneigung gegen den königlichen Bruder anging, selbst Tante Amelie kaum gewagt haben würde. Das Thema von der polnischen Krone bot die beste Gelegenheit dazu.

»Dem ›grand Frédéric‹«, fuhr sie mit spöttischer Betonung seines Namens fort, »sei der Gedanke, seinen Bruder als König eines mächtigen Reiches zur Seite zu haben, einfach unerträglich gewesen. Es habe freilich, wie das immer geschehe, nicht an Versuchen gefehlt, die eigentlichen Motive mit Gründen ›hoher Politik‹ zu verdecken; sie aber wisse das besser, und der Neid allein habe den Ausschlag gegeben.«

Kathinka, die von dem Prinzen nichts wußte als seinen Weiberhaß, nahm aus diesem krankhaften Zuge, der ihn ihr unmöglich empfehlen konnte, eine momentane Veranlassung zu Loyalität und Verteidigung des großen Königs her, bis sie sich endlich lächelnd mit den Worten unterbrach: »Mais quelle bêtise; je suis polonaise de tout mon coeur et me voilà prête à travailler pour le roi de Prusse.«

Damit brach der politische Teil ihrer Unterhaltung ab und glitt zu dem friedlichen Thema der nahe bevorstehenden Theatervorstellung über. Aber auch hier kam es zu keinen vollen Einigungen. Immer wieder vergeblich wurde von seiten Kathinkas geltend gemacht, daß sie als Prolog sprechende Melpomene ein natürliches Anrecht habe, in die Geheimnisse Dr. Faulstichs und seiner künstlerischen Hauptkraft: Demoiselle Alceste, eingeweiht zu werden. Diese blieb dabei, daß es zu dem Anmutigsten des Theaterlebens gehöre, die Akteurs und Aktricen sich wieder untereinander überraschen zu sehen. Und solch heiteres Spiel dürfe nicht mutwillig gestört werden.


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