Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Sechzehntes Kapitel
Von Kajarnak, dem Grönländer

Um zwei Uhr waren unsere Hohen-Vietzer wieder in ihrem Dorf, und eine halbe Stunde später wußte jeder bis auf die letzten Lose hinaus, daß die Strolche gefunden und auf dem Wege nach Frankfurt seien. Im Kruge, wo sich bald einige Bauern, auch Kallies und Kümmeritz, versammelten, entsann man sich Muschwitzens sehr wohl, der immer ein Tagedieb und Taugenichts gewesen sei, und erging sich in Vermutungen, woher er den französischen Soldatenrock genommen haben könne, Vermutungen, die mit Totschlag begannen und über qualifizierten Diebstahl hin einfach bei Tausch oder Kauf endigten. Dies letztere war denn auch das wahrscheinlichste. In Küstrin, wo der Typhus jeden Tag die Reihen der französischen, zum Teil aus Hessen und Westfalen bestehenden Garnison lichtete, war zu solchen »Geschäften unter der Hand« die reichlichste Gelegenheit gegeben. Von Rosentreter wußte niemand. Das Lob des Hütejungen war auf aller Lippen.

Auch im Herrenhause riß das Erzählen gar nicht ab. Kathinka und Tante Schorlemmer wollten alles bis auf die kleinsten Züge wissen, und als es unten im Wohnzimmer nichts mehr zu berichten gab, wurde oben in Renatens Krankenzimmer das Berichterstatten fortgesetzt. Lewin saß eine Stunde lang an ihrem Bett und ließ der Reihenfolge nach erst das Absuchen des Wäldchens, dann den Überfall und den Transport der Gefangenen an ihrem Auge vorüberziehen. Nichts wurde vergessen; namentlich hob er aus seinem Gespräche mit dem jungen Scharwenka hervor, daß Maline unrecht habe, pries Hanne Boguns Umsicht und schilderte schließlich den Eindruck, den die auf dem Rohrwerder mitgefangene Frau auf ihn gemacht habe.

So kam die Tischstunde heran. Der alte Vitzewitz war in bester Laune, und so unbequem es ihm sein mochte, mit seiner Hypothese von den »Marodeurs« und »Deserteurs« eine arge Niederlage erlitten zu haben, so gewann er es doch über sich, was sonst nicht seine Art war, über sich selbst und seinen Rechnungsfehler zu scherzen. Wußte er doch, daß er schließlich recht behalten würde. Alles war nur Frage der Zeit.

Gleich nach Tisch sollte zu Graf Drosselstein nach Hohen-Ziesar hinübergefahren werden; Tubal und Kathinka schuldeten ihm ohnehin noch ihren Besuch, der, wenn er überhaupt noch gemacht werden sollte, nicht hinausgeschoben werden konnte. Denn am andern Tage schon sollte von Schloß Guse aus die Rückkehr beider Geschwister nach Berlin angetreten werden. Krist mit den Ponys hielt schon vor der Treppe, als die Tafel aufgehoben wurde; wenige Minuten später bog der Wagen von der Auffahrt her in die Dorfstraße ein. Kathinka, einer ihrer Passionen folgend, hatte die Leinen genommen und fuhr. Als sie an Miekleys Mühle vorüberkamen, begegnete ihnen Doktor Leist von Lebus, der sich getreulich einstellte, um nach seiner Kranken zu sehen. Nur kurze Grüße wurden gewechselt.

Alte-Doktor Leist, der seit zwanzig Jahren im Hohen-Vietzer Herrenhause so gut Bescheid wußte wie in seinem eigenen, stieg, nachdem er ein paar Worte mit Jeetze gewechselt und von dem großen Ereignis des Tages gehört hatte, treppan und trat bei Renaten ein.

Nur Maline war bei ihr. Das Schlafzimmer, jetzt auch Krankenzimmer, lag auf der der Gerichtsstube entgegengesetzten Seite des Hauses und war nur durch eine Giebelwand von dem mehrgenannten alten Querbau getrennt, der ehedem als Bankettsaal, dann als Kapelle gedient und nun längst schon seine früheren Bestimmungen mit der bescheidenen einer großen Obst- und Rumpelkammer vertauscht hatte. Am Ende des Korridors befand sich eine schmale Tür, die mit Hilfe einer hochstufigen Treppe die Verbindung mit diesem alten Querbau unterhielt. Doktor Leist trat an das Bett der Kranken, fühlte den Puls und sagte dann, während er eine fieberstillende Arznei auswickelte:

»Hier bring' ich etwas. Der alte Doktor Leist ist wie der Weihnachtsmann; er bringt immer etwas mit.«

»Nur der Weihnachtsmann bringt Süßes, und Doktor Leist bringt Bitteres.«

»Nicht doch, nicht doch, Renatchen. Da sollten Sie den alten Leist doch besser kennen. Der weiß, was sich schickt, und kennt seine deutschen Sprichwörter. Gleich und gleich gesellt sich gern. Und für so liebe kleine Fräuleins ist das Bittere gar nicht da.«

»Also sauer?«

»Sauer und süß; eine Doppellimonade.«

»Das ist recht. Ich fürchte mich vor jedem Löffel Medizin. Aber eine Doppellimonade, das mag gehen. Und wie ist es mit der Diät, Doktorchen?«

»Nicht zu streng. Sagen wir: ein Biskuit und etwas gestowtes Obst.«

»Nicht auch frisches?«

»Allenfalls auch frisches. Aber mit Auswahl. Etwa einen mürben Gravensteiner oder eine Kalville.«

»Danke, danke. Die lieb' ich gerade sehr. Und darf ich mir auch etwas vorplaudern lassen? Von Maline?«

»Gut, gut.«

»Oder von Tante Schorlemmer?«

»Noch besser. Sie wird, denk' ich, mehr kalmieren als irritieren. Und das ist genau, was wir brauchen.«

Damit empfahl sich Doktor Leist und versprach, am andern Tage wiederzukommen.

Der Alte war kaum fort, als Renate Malinen heranwinkte.

»Nun nimm eine Fußbank und setze dich zu mir; hier dicht an mein Bett. Wir haben ja des Doktors Erlaubnis. Und nun gib mir deine Hand. Ach, wie schön kühl du bist. Wenn ich nur eine ruhige Nacht hätte! Aber ich habe immer Bilder vor den Augen.«

»Das ist das Fieber.«

»Ja, das Fieber. Und das quält mich, daß ich den Anblick der armen Frau nicht loswerden kann.«

»Welcher Frau?«

»Die sie heute mittag auf dem Rohrwerder mit aufgespürt haben. Lewin sagte mir, daß kein rohes Wort, nicht einmal eine Klage über ihre Lippen gekommen sei.«

»Aber, Fräulein, es ist ja eine Diebin. Und keiner weiß, wem sie zugehört. Krist sagte mir: ›Sie hat zwei Männer oder keinen.‹ Und das ist doch schlimm, das eine wie das andere.«

»Ich habe doch Mitleid mit ihr, und so recht eigentlich schlecht kann sie nicht sein; denn sieh, sie hat nicht an sich gedacht, sondern erst an ihr Kind und hat es in einen kleinen Schlittenkasten gepackt und es mit sich genommen. Und nun seh' ich immer die lange Frankfurter Pappelallee vor mir, die kein Ende nimmt und weit, weit am Horizonte zu einem Punkte zusammenläuft. Und zwischen den Pappeln geht die Frau und zieht den Schlittenkasten, in dem das Kind sitzt, und wenn sie aufwärts, abwärts an den Punkt kommt, wo die Pappeln ein Ende zu nehmen schienen, dann tut sich eine neue Allee auf, die noch länger ist und wieder in einem Punkte zusammenläuft. Und die Frau wird immer matter und müder. Es peinigt mich. Ich wollte, daß ich das Bild loswerden könnte.«

»Krull und Reetzke sind ja gute Leute und werden ihr nicht mehr auflegen, als sie tragen kann.«

»Es sind Bauern, und Bauern sind hart und taub. Ich wollte, der junge Scharwenka hätte den Transport übernommen. Der ist schon anders und läßt mit sich reden.«

»Der?« fragte Maline.

»Ja, der. Und du mußt dich nicht gleich verfärben, wenn ich bloß seinen Namen nenne. Er hat mit Lewin gesprochen und ihm seine Not geklagt.«

»Er verklagt mich überall.«

»Das sagt er auch von dir. Und nun höre mich an, Maline, und wirf nicht den Kopf. Wir waren immer gute Freunde; so laß dir raten und sei nicht eigensinnig.«

Aber ehe Renate weitersprechen konnte, barg Maline den Kopf in ihrer Herrin Bettkissen und fing heftig an zu schluchzen.

»Und nun wirst du gar noch weinen! Aber weine nur. Es ist das erste Zugeständnis, daß du unrecht hast und daß der kleine Trotzkopf es nur noch nicht eingestehen will.«

»Er hat mir meine Armut vorgeworfen.«

»Nein, das hat er nicht. Er hat dir deinen Hochmut vorgeworfen. Und da hat er recht. Und er hat auch recht in allem, was er von euch Kubalkeschen Mädchen sagt. Das ist ein ewiges Nasenrümpfen und Vornehmtun von dir und der kleinen Eve drüben, und das lassen sich die Bauern nicht gefallen. Ihr wollt beide wie Stadtmädchen sein.«

Maline nickte.

»Und was hättest du denn in der großen Stadt? Ein bißchen Putz und ein paar Anbeter mehr. Aber was käme für dich dabei heraus? Ein städtisches Elend und eine Stabstrompeter- oder Kassenbotenfrau. Nein, Maline, bleib in Hohen-Vietz; es ist ein Glück, das du machst; sind doch die Scharwenkas die reichsten Leute im Dorf, und nicht die schlechtesten. Und er liebt dich und kann nicht von dir los, trotzdem er eigentlich möchte. Und siehe, das ist so recht die Liebe, wie ich sie mir auch immer gewünscht habe, daß man einen vor Ärger umbringen und zugleich vor Sehnsucht totküssen möchte.«

»Wie gut Fräulein Renate das alles beschreiben können. Aber er muß kommen.«

»Nein, du mußt kommen.«

Maline seufzte. Dann aber plötzlich bedeckte sie Renatens Hand mit Küssen, und aufatmend, als ob eine große Last von ihr genommen wäre, sagte sie: »Wie leicht mir wieder ums Herz ist! Ach, Fräulein, Fräulein, er ist ja doch der beste Mensch von der Welt. Und es ist auch hübsch von ihm, daß er sich nicht alles gefallen läßt. Ein Mann muß doch ein Mann sein. Und eigentlich kann ich ihn ja doch um den Finger wickeln.«

Es schlug sieben, und Maline erhob sich, um der Kranken ihre Medizin zu geben.

»Doktor Leist hat recht; es schmeckt wie eine Doppellimonade. Und nun hole mir noch ein paar Kalvillen. Hier schräg unter uns aus dem alten Saal. Aber nimm den Wachsstock und sieh dich vor auf der Treppe; die Stufen sind so ausgelaufen. Und verfitze dich auch nicht in dem Bohnenstroh.«

Maline sah vor sich hin. Dann sagte sie verlegen: »Ich möchte die Äpfel doch lieber aus der Speisekammer holen, nicht aus dem alten Saale.«

»Aber wozu den weiten Weg? Wir sind ja hier Wand an Wand. Ein paar Stufen und du bist unten. Die Kalvillen liegen links neben dem Altar.«

»Ich kann nicht gehen, Fräulein Renate.«

»Was ist dir?«

»Ich fürchte mich.«

»Weshalb?«

»Er betet wieder.«

»Wer?«

»Der alte Matthias.«

Renate schloß einen Augenblick die Augen und sagte dann mit erkünstelter Ruhe: »Ich bin ihm nie begegnet. Glaubst du daran?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was mir die Ruschen, die alte Jätefrau, immer gesagt hat: ›Wer den Spuk verschwört, dem erscheint er.‹«

»Und wer hat ihn gesehen?«

»Nachtwächter Pachaly.«

»Wann?«

»Letzte Nacht.«

»Erzähle, was du gehört hast.«

»Ich mag nicht. Fräulein Renate werden sich erschrecken und kränker werden.«

»Nein, nein, ich will es wissen.«

»Nun gut denn. Also Krist und Pachaly hatten die Wache. Jeetze kam auch; ich sah ihn, als ich um die zehnte Stunde nach Hause kam, denn es gefiel mir nicht im Krug, und ich wollte nicht tanzen. Das gnädige Fräulein werden schon wissen, warum ich nicht tanzen wollte. Aber das muß ich sagen, er tanzte auch nicht.«

Renate nickte, während Maline die Hand ihrer jungen Herrin küßte und dann fortfuhr: »Jeetze hatte sich Krists grauen Mantel angezogen und einen alten Säbel darübergeschnallt. Es war zum Lachen. Als der gnädige Herr ihn sah, wurd' er ärgerlich und sagte: ›Das ist nichts für dich, Jeetze. Du hast deine Zeit gehabt.‹ Und dann trat er zu Krist und Pachaly und befahl ihnen, daß sie sich immer in Nähe des Hauses halten sollten. ›Krist, du nimmst die Parkseite, und Pachaly, Ihr nehmt die Dorfseite, und bei dem großen Mittelfenster des alten Saales trefft ihr zusammen. Und haltet euch immer so, daß ihr euch anrufen könnt.‹ Das alles hört' ich noch mit meinen eigenen Ohren. Aber das andere hab' ich von Pachaly.«

»Nun?«

»So gingen sie denn wohl zwei Stunden. Es war ganz still. Nur vom Krug her, wo man noch nichts wußte, hörten sie Musik. Krist, den jetzt zu frieren anfing, trat in die Hoftür und schlug Feuer an, um sich eine warme Pfeife zu stopfen. Dadurch kam es, daß sie sich für dies eine Mal bei dem großen Mittelfenster nicht trafen und daß Pachaly den langen Querbau allein passieren mußte. Als er an das letzte Fenster kam, sah er Licht; er trat näher heran und hob sich auf die Fußspitzen. Da sah er, daß das alte Bild erleuchtet war, und vor dem Altar kniete einer und betete. Er hatte aber keine Stimme zum Rufen. Indem kam Krist heran, und er winkte ihm. Dieser sah auch noch den Schein; als er aber an die Stelle treten wollte, wo Pachaly eben gestanden hatte, losch alles aus, und es war wieder dunkel. Sie hörten nur noch Schritte und ein Knistern im Stroh, das vor den Stufen lag.«

Renate hatte sich höher aufgerichtet. Die Wand, an der sie lag, war die Giebelwand, an deren anderer Seite – nur um eine Treppe tiefer – der alte Altar sich befand. Eine Herzensangst befiel sie. Sie hatte das Bedürfnis eines Zuspruchs, den ihr Maline nicht geben konnte; so sagte sie: »Du solltest mir Tante Schorlemmer rufen.«

Maline ging. Als sie aber eben die Tür öffnen wollte, rief ihr Renate nach:

»Nein, bleib!« Und dann wieder ihrer Furcht sich schämend, setzte sie hinzu: »Nein, geh; ich will mich bezwingen.«

Es vergingen Minuten. In dem nur matt erleuchteten Zimmer bewegten sich die Schatten hin und her; ihr fiebriges Auge folgte diesem Tanz und haftete zuletzt auf der Bilderreihe, die an der anderen Wand des Zimmers hing. Es waren englische Buntdruckbilder, eines ein gotisches Portal darstellend, in dem eine Ampel hing und durch das hindurch man auf einen Altar blickte. Alles in vorzüglicher Perspektive und der Altar nur ein Punkt. Sie sah ihn nicht, sie wußte nur, daß er da war. Und vor ihrem Auge wuchs jetzt das Portal, und der Altar wuchs, und vor den Stufen des Altars kniete wer. Es schlug ihr das Herz, und sie konnte doch von dem Bilde nicht lassen.

Da hörte sie Schritte draußen, und gleich darauf trat Tante Schorlemmer ein, noch die Wirtschaftsschürze vor, ein sicheres Zeichen, daß sie von Herd oder Küche abgerufen worden war. Maline, die wegen ihrer Spukgeschichte ein schlechtes Gewissen haben mochte, war zurückgeblieben.

»Wie gut, daß du kommst, liebe Schorlemmer. Ich habe eine rechte Sehnsucht nach dir gehabt. Du mußt ein bißchen mit mir plaudern. Aber erst gib mir deine Hand; so – und nun gib mir zu trinken.«

»Gott, wie du fieberst, Kind. Man darf euch auch keine halbe Stunde allein lassen. Und ich mußte doch die Hasen spicken. Auf Stinen ist kein Verlaß; das nennt sich Köchin und weiß kaum, daß der Hase sieben Häute hat. Nun trink, mein Renatchen. Ich werde noch einen Löffel Himbeeressig hineintun; das kühlt. Hast du denn auch eingenommen?«

Renate leerte das Glas, das ihr Tante Schorlemmer gereicht hatte, und sank dann erschöpft in ihre Kissen. Aber die Angst, die sie bis dahin beherrscht hatte, war doch von ihr gewichen, und als ob sie plötzlich im Schutze guter Geister sei, sagte sie ruhig: »Glaubst du an Gespenster?«

»Dacht' ich's doch. Hat die Maline wieder nicht reinen Mund halten können. In der Küche plappert das auch den ganzen Tag schon. Und da ist einer wie der andere. Nur den Pachaly hätt' ich für gescheiter gehalten. Denn er hält sich zu Uhlenhorst; und das muß man den Altlutherischen lassen, daß sie von solcher Schwachheit und Narrheit nichts wissen wollen. Sie haben eben den Glauben, und der läßt den Aberglauben nicht aufkommen.«


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