Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Fünfzehntes Kapitel
Lehnin

Und der verabredete Dienstag kam. Aber er kam nicht, ohne daß das eingetreten wäre, was bei ähnlichen Verabredungen immer einzutreten pflegt: die Hälfte hatte sich inzwischen eines andern besonnen. Nicht nur die Gräfin-Exzellenz samt der Dame d'atour vom Hofe der hochseligen Königin, auch der alte Geheimrat, dessen pedantisch-romantisches Verlangen, die lateinischen Zeilen der Lehninschen Weissagung an Ort und Stelle zitieren zu können, den eigentlichen Anstoß zu der Partie gegeben hatte, hatte schließlich auf die Teilnahme daran verzichtet. Aber an Stelle dieser ausscheidenden Elemente waren andere herangezogen worden, und ein frischer, in der Nacht von Montag auf Dienstag gefallener Schnee versprach eine rasche und prächtige Fahrt. Denn man war übereingekommen, die Partie zu Schlitten zu machen. Ein leiser Ostwind ging, die Sonne schien, und der Himmel stand blau und wolkenlos wie eine Glocke.

Es schlug eben zwölf vom Schöneberger Turm, als vier Schlitten vor dem »Schwarzen Adler«, dem durch Jürgaß bestimmten Rendezvous, vorfuhren. Ihre Insassen waren Bekannte vom Ladalinskischen Balle her, Graf Matuschka, Graf Seherr-Thoß, Graf Zierotin, alle drei mit ihren jungen Frauen. Nur Bninski fehlte. Statt seiner war Tubal als Schlittenpartner eingetreten und hatte an Kathinkas Seite Platz genommen. Eine Minute später erschien ein fünftes Gespann, etwas größer und nach Art aller gemieteten Schlitten ziemlich unelegant, in dem Lewin, von Hirschfeldt und Bummcke saßen. Jürgaß, der zu beschaffenden Relais halber, war schon seit drei Stunden nach Potsdam voraus.

Die Begrüßungen gingen eilig, denn es gebot sich, des kurzen Tages halber, mit den Minuten zu geizen. Tubal nahm die Tête, dann folgten die drei jungen Paare, während der »Célibataire-Schlitten«, wie die gräflichen Damen das zuletzt eingetroffene Gefährt in guter Laune getauft hatten, den Schluß machte. An dieser guten Laune nahm alsbald alles teil; die Pferde warfen den Schaum nach hinten, die Schellen und Glöckchen läuteten, und wenn ein niedrighängender Zweig gestreift wurde, stäubte der Schnee in die Luft oder fiel in glitzernden Kristallen auf die Muffen und Bärendecken nieder. Und dabei Geplauder überall, auch in dem abschließenden Schlitten der Célibataires.

»Wo nur Bninski sein mag?« fragte Lewin. »Er schien so geneigt, uns zu begleiten.«

»So haben Sie nicht davon gehört?« antwortete Bummcke. »Jürgaß hat ihn gebeten, auf eine Teilnahme an der Partie zu verzichten.«

»Aber wie konnt' er nur? Ich wenigstens hätte mich eines solchen Auftrags nicht entledigen mögen.«

Bummcke lachte. »Sie kennen ja Jürgaß. Ich wette, daß es ihm leichter geworden ist als der müden Krähe, die da eben vor uns auffliegt, das Flügelschlagen. Er verfährt nach dem alten Grundsatz: ›Ehrlichkeit die beste Politik‹ und hat dem Grafen offen gesagt, daß sein Erscheinen eine Verlegenheit schaffen würde. Ich glaube nämlich, er hat eine Überraschung, irgend etwas Preußisch-Patriotisches vor. Sie wissen, er liebt dergleichen. Was ihm Bninski geantwortet, weiß ich nicht, nur so viel ist gewiß, daß ihr gutes Einvernehmen keine Störung erfahren hat. Es überrascht mich nicht. Jürgaß ist harmlos und der Graf eine vornehme Natur. Selbst seine Vorurteile beleidigen nicht. Er haßt uns, aber er haßt das Ganze, nicht die einzelnen. Denken Sie daran, Hirschfeldt, wie liebenswürdig er alles aufnahm, was Sie über Spanien lasen. Es ist nichts Kleinliches an ihm.«

Hirschfeldt nickte zustimmend, und während dieses Gespräch fortgesponnen und im Anschluß daran des letzten Abends bei Ladalinskis, der alten hochmütigen Exzellenz, der steifen und zeremoniellen Bischofswerder und zuletzt auch der zwischen beiden geführten Fehde gedacht wurde, passierten unsere Freunde den Steglitzer Park, über den die leichter und eleganter gebauten Schlitten der vier Mazurkapaare schon seit einer kleinen Weile hinaus waren. Lewin drang auf prompteren Anschluß, aber der Abstand blieb, und immer, wenn der Weg eine Biegung machte, sah der nachfolgende fünfte Schlitten die Flankenlinie der vier vorausfliegenden Gespanne, die blauen Schleier der Damen und die weißen Schneedecken, die sich im Winde bauschten und blähten.

An den ausgebauten Häusern von Zehlendorf vorbei ging es im Fluge auf das Stimmingsche Gasthaus am Wannsee zu, und Lewin, mit der Hand nach links deutend, wies jetzt auf eine umfriedete, nur an vier Pappeln erkennbare Stelle hin, wo sich seit Jahresfrist der Grabhügel Heinrichs von Kleist erhob. Hirschfeldt, damals schon in Spanien, wußte nichts von dem beklagenswerten Ereignis, und so fiel es seinen Gefährten zu, ihm von den letzten Schicksalen, dem Leben und Sterben eines Kameraden zu erzählen, mit dem er, als beide noch in derselben Garnison standen, wenigstens oberflächlich bekannt gewesen war. Von dieser Erzählung sprang das Gespräch bald zu seinen Dichtungen über, und der Charakter des Käthchens von Heilbronn, vor allem die dramatische Berechtigung oder Nichtberechtigung des Somnambulen war noch keineswegs festgestellt, als schon ihr Schlitten durch die defileeartige Schmalung hindurchglitt, die bei Kohlhasenbrück durch den dicht an die Straße herantretenden Fichtenwald und von der anderen Seite her durch das Röhricht des Griebnitzsees gebildet wird. Eine Minute später, und die verschneiten Weberhäuser von Nowawes, nicht viel größer wie winterliche Grabhügel, lagen zu beiden Seiten, und jetzt am Brauhausberg, dann an der Schloßkolonnade vorbei, ging es in das stille Potsdam hinein. Heute stiller denn je, denn der Hof und die Garden, wie es die alte Exzellenz an dem letzten Ladalinskiabend vorhergesagt hatte, waren seit einer halben Woche fort. Am Jägertore hielt Jürgaß, zehn Schritte weiter abwärts die Relais, und nachdem alle Herren und Damen ihren Reisemarschall begrüßt, ein paar Postknechte aber die Pferde gewechselt und die Sielen und Schellengeläute wieder aufgelegt hatten, ging es ohne weiteren Aufenthalt in immer rascherem Tempo in die Havellandschaft hinein. Denn das Ziel mußte noch vor Sonnenuntergang erreicht werden.

Es war jetzt zwei Uhr. Die Kuppeldächer der Communs und des Neuen Palais blinkten in der Nachmittagssonne, und unmittelbar dahinter dehnte sich das Golmer Bruch; Dorf Eiche mitsamt seinem Kirchturm schien darin zu versinken. Nun lag auch das zurück, und aus der Eis- und Schneewüste, zu der die sonst in seeartigen Flächen dahinfließende Havel geworden war, ragten nur noch die Mastspitzen von ein paar Dutzend Kähnen auf, die der Frost auf ihrer Fahrt überrascht und zur Überwinterung im Eise gezwungen hatte. Dann kam Stadt-Werder, nur kenntlich an einer Rauchsäule, die über der großen Brauerei der Insel stand, und nun an niedrigen, aber steilen Hügeln vorbei, auf deren Abhängen nichts sichtbar war als Krähen und Schnee, jagten die Schlitten den nächsten Dörfern zu.

Die Gespräche stockten oder wurden einsilbiger; alles hatte nur noch einen Gedanken: das Ziel. Jürgaß übernahm die Führung, denn Groß-Kreuz war eben passiert, und der Weg, der jetzt nach links hin in den großen Lehniner Tannen- und Eichenforst einzubiegen begann, erheischte beides: ein scharfes Auge und eine sichere Hand.

Zuerst Tannen. Ah, wie die Stille des Waldes alles labte! Der Wind schwieg, und jedes Wort, auch wenn leise gesprochen, klang laut im Widerhall. Ein warmer Harzduft war in der Luft und steigerte das Gefühl des Behagens. Über den Weg hin, hier und dort, liefen die Spuren, die das Wildschwein in den Schnee gewühlt hatte; von den schwankenden Zweigen flog das Rotkehlchen auf, und aus der Tiefe des Waldes hörte man den Specht. Nun kam eine große Lichtung, an deren entgegengesetzter Seite das Laubholz anfing, aber zunächst noch mit Tannen untermischt. Die Sonne glühte hinter den Bäumen, und je nachdem die Lichter fielen, schimmerte das braune Laub der Eichen golden oder kupferfarben, während die schwarzen Tannenwipfel wie scharfgezeichnete Schatten in der schwimmenden Glut des Abends standen. Alles war hingerissen von der Schönheit des Anblicks, und Lewin sah deutlich, wie eine kleine Hand nach der anderen sich aus dem wärmenden Muff zog und auf die Waldstellen hindeutete, wo sich die Schatten und Lichter so zauberisch mischten.

Bummcke entsann sich, selbstverständlich von Kopenhagen her, eines dieselben Abendtöne wiedergebenden Claude-Lorrain und wollte eben zu kunstwissenschaftlichen Betrachtungen übergehen, als der Wald, der kurz zuvor noch endlos geschienen, sich plötzlich öffnete und eine Anzahl zerstreuter Baulichkeiten ziemlich deutlich erkennen ließ. Und ehe noch unsere Reisenden sich zurechtgefunden und ihrer Überraschung Ausdruck gegeben hatten, hielten sie schon vor ihrem Ziel: der Klosterkirche von Lehnin.

 

War es Zufall oder hatte Jürgaß die Zeit ihrer Ankunft im voraus angegeben, gleichviel, aus der neben dem großen Rundbogenportale befindlichen Seitentür trat ihnen, ohne daß sie hätten klopfen oder warten müssen, ein kleiner hagerer Mann mit langem, weißem Haar entgegen, der alte Lehninsche Küster, nur um zwei Jahre jünger als sein Hohen-Vietzer Kollege Jeserich Kubalke. Er begrüßte die zunächststehenden Damen durch Abnehmen seines Käpsels, sprach ein paar Worte mit Jürgaß und öffnete dann, entweder weil dieser darum gebeten oder auch, weil er selber den Wunsch einer möglichst feierlichen Einführung hatte, die schwere mit Eisen beschlagene Mitteltür. In dieser, trotz des Zugwindes, der wehte, blieb er stehen, bis alle Besucher eingetreten waren.

Die Glut des Abends stand noch in den westlichen Scheiben, und ein roter Schimmer, der allem wieder einen Anflug von Leben lieh, fiel auch auf die Brautkränze, die vertrocknet und mit langen, ausgeblaßten Bändern an der gegenüber befindlichen Kirchenwand hingen. Es war die denkbar beste Stunde. Nichtsdestoweniger konnte keinem Beobachter entgehen, daß alles enttäuscht war, besonders die Damen. Sie hatten eben mehr erwartet.

»Wo sind die Grabsteine?« fragte die Matuschka mit der vollen Ruhe derer, die sich noch weitab davon fühlen.

»Sie dürfen keine Mehrheit von mir verlangen, gnädigste Gräfin«, antwortete Jürgaß, der sich mit dieser und Kathinka von dem Reste der Gesellschaft abgesondert und, weil er das Kloster genau kannte, der speziellen Führung der beiden jungen Damen unterzogen hatte. »Die Lehninschen Grabsteine, dank amtlicher und nichtamtlicher Verwüstungen, beschränken sich auf einen. Ich werde gleich die Ehre haben, Ihnen denselben vorzustellen.« Damit schritt er die Stufen zum hohen Chore hinauf, wo ein Mönch, in Stein geschnitten, auf seinem Grabe lag. Kathinka und Matuschka folgten.

»Ich erwartete«, sagte die Gräfin, »einen Soldaten zu sehen«, setzte dann aber, sich schnell verbessernd, hinzu, »ich meine einen Krieger. Sie dürfen nicht lachen, Jürgaß. Es ist doch anzunehmen, daß die Markgrafen Krieger waren, mit Schild und Panzerhemd und einer Krone. Oder trugen sie keine? Sie schweigen wieder; das ist nicht recht; ein Führer muß immer sprechen. Jedenfalls müssen diese Markgrafen doch irgend etwas auf dem Kopfe gehabt haben. Es waren Askanier, wenn ich den alten Ladalinski recht verstanden habe.«

»Ja, Askanier oder Anhaltiner.«

»Nicht doch. Sie wollen mich verwirren. Wenn es Askanier waren, so können es keine Anhaltiner gewesen sein. Der alte Dessauer, der auf dem Lustgarten steht und von dem sie bei großen Militärkonzerten den Marsch mit dem langen Trompetensolo spielen, der war ein Anhaltiner... Aber was ist denn das?« Und dabei stieß die schöne Gräfin mit ihrer Fußspitze an einen Baumstumpf, der, selber hart wie Stein, etwa zwei, drei Handbreiten hoch sich aus dem Steinboden erhob.

»Das ist das Überbleibsel von jenem Eichenstamm, aus dem vor so und so vielen Jahrhunderten, mit deren näherer Angabe ich Sie nicht belästigen will, das gesamte Kloster Lehnin emporgewachsen ist. Unter diesem Baume, als er noch ein Baum und nicht ein Stumpf war, hatte Markgraf Otto, der erste seines Namens, einen Traum, der ihm Gefahr in diesen Wäldern prophezeite. Markgraf Otto aber war ein Sohn Albrechts des Bären, von dem gnädigste Gräfin vielleicht gehört haben werden.«

»Gewiß, gewiß; Heinrich der Löwe, Albrecht der Bär.«

»Sehr gut. Nun, also Markgraf Otto hatte einen bösen, unheilverkündenden Traum, und seine Mannen, die auch christliche Askanier waren, drangen, als sie von dem Traume hörten, in ihn, eine schutzgebende Burg gegen die Wenden zu bauen.«

»Gegen die Wenden? Was sind Wenden?«

»Wenden hießen die heidnischen Völkerschaften, die damals hier zu Hause waren.«

»Nun gut. Und was tat nun der Markgraf?«

»Er erwiderte: ›Eine Burg gegen die Wenden will ich gründen, aber eine Burg, von der aus unsere teuflischen Widersacher‹, darunter verstand er die Wenden, ›nicht durch Waffenlärm, sondern durch heiligen Gesang verscheucht werden sollen.‹ Und so baute er ein Kloster. Und dies Kloster hieß Lehnin.«

Während dieser Auseinandersetzung waren sie weitergeschritten bis an das Querschiff der Kirche, in dem alle möglichen Bilder in wurmstichigen, halbzerstörten Holzrahmen hingen, so daß oft ganze Stücke herausgefallen waren. Vor dem größten dieser Bilder blieb Kathinka, die den Arm der Matuschka genommen hatte, stehen und sagte zu Lewin, der mittlerweile von der andern Gruppe her sich ihnen angeschlossen hatte: »Wie häßlich. Es sieht aus wie ein Jahrmarktsbild.«

»Es ist auch etwas derart. Selbst die Einteilung in Felder, wie die Damen bemerken werden, ist uns nicht erspart geblieben. Allerdings hat es der Künstler bei einer bloßen Zweiteilung, bei einem einfachen Oben und Unten bewenden lassen. Oben das greuliche Durcheinander ist die Ermordung des ersten Lehniner Abtes, den die Wenden erschlugen, weil sie ihn in Verdacht eines Liebesabenteuers hatten.«

»Ich nehme an, ohne Grund«, sagte Kathinka.

»In meiner Eigenschaft als erster Tugendrat von König Ring würd' es mir schlecht anstehen, einen Zweifel dagegen auszusprechen. Ich wünschte nur, daß auch der Maler nachsichtiger mit ihm verfahren wäre.«

»Es ist vielleicht schon aus der protestantischen Zeit.«

Lewin wollte die gereinigte Lehre rein von der Schuld dieses Bildes halten und begann eben eine Auseinandersetzung, als Jürgaß ihn darin unterbrach und zur Eile mahnte, da, nach dem durchaus einzuhaltenden Programm, innerhalb der nächsten zehn Minuten nicht nur die draußenliegende Trümmerhälfte der Kirche, sondern auch noch die Reste des Klosterkreuzganges und der denselben einschließenden alten Baulichkeiten besichtigt werden müßten.

Diese mit lauter Stimme gesprochene Jürgaßsche Mahnung war nicht bloß von Lewin gehört worden, und alles eilte, um ihr zu gehorchen, dem Ausgange zu. Nur die Gräfinnen Seherr-Thoß und Zierotin, die sich bei dem Bilde des ermordeten Abts in Vermutungen und heiteren Spottreden erschöpft hatten, waren zurückgeblieben und erschraken jetzt, als sie sich plötzlich mit den Braut- und Totenkronen allein sahen, in denen es unter dem hereinwehenden Zugwind zu rascheln begann. Das Abendrot in den Scheiben war immer grauer geworden; unheimlich sahen sie sich um und suchten nach dem Ausgang, den sie, bang und verwirrt, trotzdem sie ganz in seiner Nähe standen, nicht finden konnten. Endlich kam der Küster und geleitete sie hinaus. Sie machten ihm kein Hehl aus ihrer Furcht und nickten ihm freundlich zu, als er den Schlüssel wieder im Schloß drehte.


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