Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel
Renate an Lewin

Eine Woche verging, ohne daß in dem Bekannten- und Freundeskreise Lewins und der Ladalinskis etwas Berichtenswertes vorgekommen wäre. Und was von diesem Kreise galt, galt von der ganzen Stadt. Auch in dieser hatte sich die durch die Nachricht von General Yorks Kapitulation hervorgerufene Aufregung längst wieder gelegt und war einer unbestimmten, aber die Gemüter erhebenden Vorstellung von dem Anbrechen einer neuen Zeit gewichen. Wie gewaltige Kämpfe es noch bedürfen würde, um diese heraufzuführen, das ahnten die wenigsten; die Mehrzahl lebte der Überzeugung, daß ihnen der Sieg als ein Resultat der Napoleonischen Niederlagen wie von selber zufallen würde, und selbst die vielen, immer neu wiederholten Versicherungen, daß der König in seinem Bündnis mit Frankreich auszuharren, den General York aber, der dies Bündnis gefährdet habe, vor ein Kriegsgericht zu stellen gedenke, konnten an dieser Zuversicht nichts ändern. Man sah in diesem allen ein aufgezwungenes Spiel und ganz im Einklang mit den Worten, die Professor Fichte seinen Zuhörern ans Herz gelegt hatte, eine bloße Maske, die jeden Augenblick abgenommen werden könne. Die Empfindung des Volks, wie so oft, war den Entschlüssen seiner Machthaber weit vorausgeeilt. Und in diesem Gefühl verliefen die Tage.

Die Stille der zweiten Januarwoche war nicht einmal durch eine Kastaliasitzung unterbrochen worden. Jürgaß, bei dem sie stattfinden sollte, hatte sich in den Frühstunden des dazu festgesetzten Tages der Mühe unterzogen, bei den Freunden vorzusprechen und den Ausfall der Sitzung anzukündigen, zugleich bittend, eine auf den andern Tag lautende Einladung zu einer »extraordinären Session« akzeptieren zu wollen. Diese war auf einen engeren Zirkel berechnet und sollte die Form eines Dejeuners annehmen.

Der andere Tag war nun da, aber noch nicht die festgesetzte Stunde. Lewin hatte sich's auf seinem Sofa so bequem gemacht, wie es der Bau desselben zuließ, und blätterte in Herders »Völkerstimmen«, einem Buche, das ihm besonders teuer war. Es war ein Geschenk Kathinkas und hatte selbst dadurch nichts an seinem Werte verloren, daß es ihm von seiten der Geberin, die nur Sinn für das Pathetische und Komische, aber nicht für das Naive hatte, mit einem Anfluge von Spott überreicht worden war. Er las eben die Stelle:

So geht's, wenn ein Maidel zwei Knaben lieb hat,
Tut wunderselten gut,
Das haben wir beid' erfahren,
Was falsche Liebe tut –

als Frau Hulen mit einem Briefe eintrat, der von der Post her abgegeben worden war. Es waren Zeilen von Renatens Hand, trugen aber nicht den Küstriner, sondern den Seelower Stempel, woraus er ersah, daß ihn ein expresser Bote behufs rascherer Beförderung quer durch das Bruch getragen haben mußte. Dies fiel ihm auf, ebenso die Länge des Briefes, als er nicht ohne eine gewisse Unruhe das Siegel erbrochen hatte. Denn unter den zwei extremen Parteien, denen alle briefschreibenden Damen zugehören, zählte Renate für gewöhnlich zur Partei der äußersten Kurzschreiber. Was bedeutete diese Ausnahme?

Lewin las:

» Hohen-Vietz, Dienstag, den 12. Januar 1813.

Lieber Lewin! Papa, der Dir schreiben wollte, wird eben abgerufen; Graf Drosselstein ist da, um Geschäftliches mit ihm zu erledigen. So fällt mir es zu, Dir über unsere letzten Erlebnisse zu berichten. Schwere Stunden liegen hinter uns. Wir hatten diese Nacht ein großes Feuer: der alte Saalanbau ist niedergebrannt.

Du wirst Näheres wissen wollen; so laß mich denn erzählen.

Es war kaum zwölf, als ein Lärm mich weckte. Ich richtete mich auf und sah, daß die Scheiben glühten, als fiele das Abendrot hinein. Ich sprang aus dem Bett und lief an das Fenster; der Hof war noch leer, aber aus der Mitte des Saalanbaus schlug eine Flamme auf, und unter der Einfahrt, den Rücken mir zugekehrt, stand unser alter Pachaly und blies auf seinem Kuhhorn in die Dorfgasse hinein, in Tönen, die mir noch jetzt im Ohre klingen.

Mich wandelte eine Ohnmacht an, und von den nächsten Minuten weiß ich nichts. Als ich mich wieder erholt hatte, saß ich aufgerichtet in meinem Bett, und Tante Schorlemmer und Maline waren um mich her, beide zitternd vor Angst und Aufregung. Sie packten immer neue Kissen in meinen Rücken, Maline hatte Riechsalz gebracht, und Tante Schorlemmer betete, während ihr die Lippen flogen: ›Herr Gott Zebaoth, steh uns bei in unserer Not!‹

Ich weiß nicht, wie es kam, aber alle Angst war plötzlich von mir abgefallen, wie wenn die hinschwindende Ohnmacht den Schrecken mit fortgenommen hätte. Ich verlangte aufzustehen, kleidete mich rasch an, und da gerade nichts anderes zur Hand war, setzte ich die polnische Mütze auf, die Kathinka hier zurückgelassen hatte. So ging ich hinunter.

Das Feuer hatte mittlerweile rasche Fortschritte gemacht, und noch immer war nichts da zum Löschen. Aber kaum, daß ich auf den Hof getreten war, als auch schon von der Dorfgasse her ein Rasseln hörbar wurde, und im nächsten Augenblick kam unsere Hohen-Vietzer Spritze durch das Tor; Krist und der junge Scharwenka hatten sich an die Deichsel gespannt, und Hanne Bogun, mit seinem Stumpfarm gegen den Wasserkasten gelehnt, half durch Schieben nach. Hart an dem Steindamm, aber jenseits nach dem Wirtschaftshofe hin, fuhren sie auf. Papa hatte schon vorher Mannschaften an den Ziehbrunnen und an die kleine Hofpumpe gestellt, und nun in doppelter Reihe wurden die Eimer zugereicht. Alles war Eifer und Leben, und ehe fünf Minuten um waren, fiel der erste Strahl in die Flamme. Schulze Kniehase leitete alles. Sonderbar, inmitten dieses Grauses schlug mir das Herz wie vor Freude höher. Aber welch ein Anblick auch! Ich werde dieser Minuten nie vergessen. Die Nacht hell wie der Tag, alle Gesichter vom Glanz beschienen, Kommandoworte und dazwischen jetzt, vom Turme her, in langen, abgemessenen Pausen das Stürmen der Glocke. Der alte Kubalke, trotz seiner Achtzig, war selbst hinaufgegangen, um in das ganze Bruch hineinzurufen: ›Feuer, Feuer!‹ Und nicht lange, so hörten wir, von den nächsten Dörfern her, die Antwort ihrer Glocken darauf.

›Das ist die Hohen-Ziesarsche‹, sagte Jeetze, der, klappernd vor Frost, neben mir stand, und gleich darauf fiel auch die Manschnower ein. Ich erkannte sie selbst an ihrem tiefen Ton. Immer rascher gingen nun die Eimer, da jeder wußte, daß die Hilfe von den Nachbarorten her jetzt jeden Augenblick kommen müsse. Und sie kam auch wirklich. Die Hohen-Ziesarsche war wieder die erste; im Carrière mit zwei von des Grafen Pferden kam sie den Forstackerweg herunter, und wir hörten sie schon, als sie bei Miekleys um die Ecke bog. Es schütterte wie ein Donner. Mit lautem Freudengeschrei wurden sie begrüßt, und Kümmeritz, der seine Gicht eben erst losgeworden war, übernahm das Kommando.

Auf dem Wirtschaftshofe, aber doch so, daß die in Front stehenden Spritzen unbehelligt blieben, hatte sich inzwischen das halbe Dorf versammelt. In vorderster Reihe standen Seidentopf und Marie; er, in seiner alten schwarzen Tuchmütze mit dem weit vorstehenden Schirm, daß es aussah, als ob er sich gegen den Feuerschein schützen wolle; sie, an seinen Arm gelehnt, und wie ich durch das aufregende Schauspiel ganz hingenommen. Wieder überraschte sie mich durch ihre besondere Schönheit. Ihr Gesicht war schmaler und länger als gewöhnlich, und aus dem rot- und schwarzkarierten schottischen Tuch heraus, das sie nach Art einer Kapuze übergeworfen hatte, leuchteten ihre großen, dunklen Augen selber wie Feuer.

Die Eimerkette ging, der Strahl fiel in die Flamme, aber bald mußten wir uns überzeugen, daß es unmöglich sei, den Saalanbau auch nur teilweise zu retten, und so gab Papa Ordre, den Wasserstrahl nur noch auf Dach und Giebel des Wohnhauses zu richten, um wenigstens das Übergreifen des Feuers zu hindern. Aber auch das schien nicht gelingen zu sollen; das Weinspalier fing bereits an, an mehreren Stellen zu brennen, und das am Hause niederführende Gossenrohr, als oben das Zink geschmolzen, löste sich aus der Dachrinne und stürzte auf den Hof.

In diesem Augenblick erschien Hoppenmarieken unter der Einfahrt, blieb stehen und sah auf das Feuer. Sie kam nicht von Hause, sondern war erst wieder auf dem Wege dahin. Wer weiß, wo sie bis dahin gesteckt hatte. Als Hanne Bogun der Alten ansichtig wurde, schüttelte er seinen linken Jackenärmel wie im Triumph und rief: ›Da is Hoppenmarieken‹, und gleich darauf: ›De möt et bespreken.‹ Papa wußte wohl, daß die Leute, die so vieles von ihr wissen, ihr auch nachsagen, daß sie Feuer besprechen könne; es widerstand ihm aber, sich an ihre Teufelskünste, an die er nicht glaubt oder die ihm zuwider sind, wie hilfebittend zu wenden. Seidentopf, der wohl sehen mochte, was in ihm vorging, trat an ihn heran und sagte: ›Wer Gott im Herzen hat, dem muß alles dienen, Gutes und Böses.‹ Da winkte Papa die Alte heran und sagte: ›Nun zeige, Marieken, was du kannst.‹

Diese hatte nur darauf gewartet; sie marschierte zwischen den beiden Spritzen hindurch rasch auf die Stelle zu, wo der alte Saalanbau mit unserem Wohnhaus einen rechten Winkel bildete, und stellte, nachdem sie zwei, drei Zeichen gemacht und ein paar unverständliche Worte gesprochen hatte, ihren Hakenstock scharf in die Ecke hinein. Dann, während sie quer über den Hof hin wieder auf die Einfahrt zurückmarschierte, sagte sie zu den Spritzenleuten: ›De Hohen-Ziesarschen künnen nu wedder to Huus foohren‹, und schritt, ohne sich umzusehen, die Dorfstraße hinunter in der Richtung auf den Forstacker zu. Ihren großen Hakenstock aber hatte sie statt ihrer selbst an der Brandstätte zurückgelassen.

Das Feuer ließ augenblicklich nach; Sparren und Balken stürzten zusammen, aber es war, als verzehre sich alles in sich selbst und habe keine Kraft mehr, nach außen hinauszugreifen. Zugleich ließ der leise Wind nach, der bis dahin gegangen war, und es begann zu schneien. Ein entzückender Anblick, der dunkelrote Schein, in dem die Flocken tanzten.

Die Hohen-Ziesarsche Spritze fuhr wirklich ab, und der Hof wurde wieder leer; nur Papa und der alte Kniehase blieben noch und trafen ihre Anordnungen für die Nacht. Ich war mit unter den ersten, die sich zurückzogen, und trotzdem mein Zimmer unmittelbar an die Brandstätte stieß, so war meine Zuversicht, daß die Gefahr beseitigt sei, doch so groß, daß ich gleich einschlief. In meinem Traume mischte sich das eben Erlebte mit jener wundersamen Feuererscheinung im alten Schloß zu Stockholm, wovon Du Marie und mir am ersten Weihnachtstage erzähltest, als wir am Kamin saßen und den Christbaum plünderten. Ich sah im Traum die Scheiben meines Fensters glühen; als ich aber aufstand, um nach dem Schein zu sehen, war ich nicht mehr allein und gewahrte nur eine lange Reihe Verurteilter, die mit entblößtem Hals an einen Block geführt wurden. Ein entsetzliches Bild, und alles rot, wohin ich sah. Aber in diesem Augenblicke trat Hoppenmarieken in die Tür des Reichssaales, und alles rief: ›De möt et stillen.‹

Da hob sie den Stock, und es war kein Blut mehr; und das Bild versank und sie selber mit.

Heute früh war ich zu guter Stunde beim Frühstück; Papa und die Schorlemmer erwarteten mich schon. Ich hatte mich vor dieser Begegnung gefürchtet; die Scheune, die vor zwei Jahren niederbrannte, liegt noch als ein Schutthaufen da, und nun ein zweites Brandunglück, das wieder auszugleichen es vollends an den Mitteln fehlen wird. Ich fand aber eine ganz andere Stimmung vor, als ich gefürchtet hatte. Papa war gesprächig und von einer Weichheit, die mehr von Hoffnung als von Trauer zeugte. Er nahm meine Hand, und als er sah, daß ich nach einem Trostworte suchte, lächelte er und sagte:

›Und eine Prinzessin kommt ins Haus,
Ein Feuer löscht den Flecken aus –

Ich fange an, mich mit dem alten Hohen-Vietzer Volksreim auszusöhnen. Die Prinzessin läßt noch auf sich warten, aber der Flecken ist fort, das Feuer hat ihn ausgelöscht. Ja, meine liebe Renate, Rätsel umgeben uns, und vielleicht ist es Torheit, uns in dem Doppelhochmut unseres Wissens und Glaubens alles dessen, was Aberglauben heißt und vielleicht nicht ist, entschlagen zu wollen. Auch in ihm, von weither herangeweht, liegen Keime der Offenbarung. ›Ein Feuer löscht den Flecken aus‹, inmitten all dieser Prüfungen ist es mir, als müßten andere, bessere Zeiten kommen. Für uns, für alle.‹ Ich wollte antworten; aber Jeetze trat ein und meldete, daß Graf Drosselstein vorgefahren sei.

Da hast du den längsten Brief, den ich je geschrieben. Einen Gruß an Kathinka, auch an Frau Hulen.

Herzlichst Deine Renate von V.«
 

Lewin legte den Brief aus der Hand. Er war bewegt, aber dasselbe Gefühl, das in Vater und Schwester vorgeherrscht hatte, gewann auch in ihm die Oberhand: die Freude darüber, daß etwas Unheimliches aus ihrem Leben genommen sei.

Er setzte sich schnell an sein Pult und schrieb eine vorläufige kurze Antwort, in der er diesem Gefühle Ausdruck gab. Am Schlusse hieß es: »Der Altar ist nicht mehr, und der alte Matthias, wenn er weiter ›spöken‹ will, muß sich eine andere Betestelle suchen.« Aber er erschrak vor seinen eigenen Worten, als er sie wieder überlas. »Das klingt ja«, sprach er vor sich hin, »als lüd' ich ihn aus dem Saalanbau in unser Wohnhaus hinüber. Das sei ferne von mir. Ich mag den ›Komtur‹ nicht zu Gast bitten.« Und mit dicker Feder strich er die Stelle wieder durch.

Dann kleidete er sich rasch an, um Jürgaß, der nach dieser einen Seite hin empfindlich war, nicht warten zu lassen.


 << zurück weiter >>