Theodor Fontane
Vor dem Sturm
Theodor Fontane

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Viertes Kapitel
Bei Frau Hulen

An demselben Abend war Gesellschaft bei Frau Hulen. Sie konnte damit, wenn sie standesgemäß auftreten und die ganze Flucht ihrer Zimmer öffnen wollte, nicht länger zögern, da Lewin für den nächsten Tag schon seine Rückkehr von Hohen-Vietz angezeigt hatte. Gleich nach Eintreffen dieses Briefes waren denn auch unter Beihilfe eines kleinen lahmen Jungen, der in dem Keller nebenan die Bierflaschen spülte und wegen seines körperlichen Gebrechens sonderbarerweise als Laufbursche benutzt wurde, die Einladungen ergangen und ohne Ausnahme angenommen worden.

Um sieben Uhr brannten die Lichter in der ganzen Hulenschen Wohnung, die neben einer kleinen, schon im Seitenflügel befindlichen Küche aus zwei Frontzimmern und zwei dunklen Alkoven bestand. Die Hälfte davon war an Lewin vermietet, der indessen in seiner Abwesenheit und bei den freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen ihm und seiner Wirtin obwalteten, nicht das geringste dagegen hatte, seinen Wohnungsanteil in die Festräume hineingezogen zu sehen.

Und Festräume waren es heute, ganz abgesehen von den Lichtern und Lichterchen, die bis in den Flur hinaus nicht gespart waren. In beiden Öfen war geheizt, und auf den Simsen schwelten Räucherkerzchen, schwarze und rote, während alle Kunst- und Erinnerungsgegenstände, auf die Frau Hulen die besondere Aufmerksamkeit ihrer Gäste hinzulenken wünschte, noch eine besondere, ihnen angemessene Beleuchtung erfahren hatten. Unter diesen Gegenständen standen die Papparbeiten ihres verstorbenen Mannes, der Werk- und Küpenmeister in einer kleinen Färberei, in seinen Mußestunden aber ein plastischer Künstler gewesen war, obenan. Das meiste lag nach der architektonischen Seite hin. Außer einem offenen und figurenreichen Theater, das die Lagerszene aus den »Räubern« darstellte, hatte er seiner Witwe einen dorischen Tempel und einen viertehalb Fuß hohen, in allen seinen Öffnungen mit Rosapapier ausgeklebten Straßburger Münster hinterlassen, der nun heute mit Hilfe kleiner Öllämpchen bis in seine Turmspitze hinauf erglühte. Dieser Münster, wie noch bemerkt werden mag, stand auf einer hochbeinigen Pfeilerkommode und verdeckte gewöhnlich einen dahinter befindlichen kleinen Spiegel; nicht aber heute, wo derselbe, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, als ob es der Zimmereinrichtung an irgend etwas Standesgemäßem gebräche, um drei Handbreit höher hinaufgerückt worden war. Nur die Turmspitze sah gerade noch in das etwas bleifarbene Glas hinein.

Und wie zeigte sich Frau Hulen selber? Sie trug außer der hohen weißen Haube, ohne welche sich niemand entsann sie je gesehen zu haben, ein braunes, noch von ihrem Seligen eigenhändig gefärbtes Merinokleid, dazu ein schwarzes, eng um den Hals gepaßtes Sammetband, in das abwechselnd blaue und gelbe Sterne eingestickt waren.

»Wie wird es ablaufen?« fragte sie sich und ging noch einmal alle wichtigen Punkte durch, putzte die Lichter, nur um ihre Unruhe loszuwerden, und strich in Lewins Alkoven, der heute als Garderobezimmer dienen mußte, die Bettdecke glatt. Dann sah sie wieder nach dem Straßburger Münster und seiner Beleuchtung, und ihr war, als ob sie hätte eintreten sollen. »Wie wird es werden?« wiederholte sie beklommen, und zugleich einen Blick in den Spiegel werfend, zupfte sie an dem Halsband, das sich etwas verschoben hatte.

In diesem Augenblicke klingelte es. Frau Hulen beeilte sich aufzumachen und war einigermaßen verstimmt, als sie wahrnahm, daß es nur die Zunzen war, eine alte taube Frau, die mit ihr auf demselben Flur wohnte und ihre Einladung zu der heutigen Reunion bloß aus Furcht vor ihren Klatschereien erhalten hatte. Denn sie hatte Gott in der Welt nichts zu tun und stand, sooft sie jemanden ins Haus treten und die letzte Treppe heraufkommen sah, immer hinter dem Kuckloch ihrer Doppeltür, um auszukundschaften, wer und was es eigentlich sei.

»Ich bin wohl die erste, liebe Hulen. Na, einer muß der erste sein.«

»Gewiß, liebe Zunz, und Sie werden doch Ihre nächste Nachbarin nicht warten lassen. Wollen Sie nicht Ihr Tuch ablegen?«

Die Alte, die die Worte der Hulen nicht recht verstanden, aber doch aus ihren Handbewegungen entnommen hatte, um was es sich handelte, schüttelte verdrießlich den Kopf, zog ihr rotes Crèpe de Chine-Tuch, ein Wahrzeichen aus alten, besseren Zeiten her, fester um sich und schritt gravitätisch, als fühle sie sich sicher in dem Furchtgefühl, das sie einflößte, in das nächstgelegene Zimmer. Es war das Lewins. Hier sah sie sich neugierig um, nickte ein paarmal, wie um ihre Überraschung über die Mitverwendung der doch vermieteten Räume auszudrücken, und fragte dann: »Der junge Herr ist wohl verreist?«

»Freilich, liebe Zunz, Sie wissen es ja.«

»So, so«, brummte die Alte und fuhr mit dem Zeigefinger über das kleine Klavier hin, um zu sehen, ob auch der Staub gewischt sei. Dann passierte sie, ein paarmal hüstelnd, wie wenn ihr der Räucherkerzchenqualm beschwerlich falle, die Schwelle zur »guten Stube« und nahm auf dem Sofa Platz.

Dies widersprach nun aber ganz und gar den gesellschaftlichen Arrangements der Hulen, so daß diese, ärgerlich über die Anmaßung der Alten, sich von der Furcht vor ihr freizumachen begann.

»Bitte hier, liebe Zunz«, damit wies sie auf einen steiflehnigen Großvaterstuhl, der zwischen dem Ofen und einer Etagere stand. »Ich hole Ihnen auch das Bilderbuch.«

Die Alte murmelte etwas, das fast wie Protest und jedenfalls wie Verwunderung klang, gehorchte aber doch und setzte sich in den Stuhl, auf den die Hulen hingewiesen hatte. Gleich darauf kam diese wieder, in beiden Händen ein großes und ziemlich schweres Buch haltend, auf dessen Titelblatt (der oberste Deckel war abgerissen) in dicken Buchstaben zu lesen stand: »Die Singvögel Norddeutschlands; neunzig kolorierte Kupfertafeln.«

Die Zunzen schlug auf, aber sie war noch nicht beim dritten Blatt, als es abermals klingelte.

Die jetzt Erscheinende war Demoiselle Laacke, Musik- und Gesanglehrerin und die besondere Freundin der Hulen, die sich durch diesen Umgang geschmeichelt fühlte, ein Mädchen von vierzig, groß, hager, mit langem Hals und dünnem rotblonden Haar. Ihre wasserblauen Augen, beinahe wimperlos, hatten keine selbständige Bewegung, folgten vielmehr immer nur den Bewegungen ihres Kopfes und lächelten dabei horizontal in die Welt hinein, als ob sie sagen wollten: »Ich bin die Laacke; ihr wißt schon, die Laacke, mit reinem Ruf und unbescholtener Stimme.« Von der Königin Luise hatte sie, bei Gelegenheit eines Wohltätigkeitskonzerts, eine Amethystbrosche erhalten. Diese trug sie seitdem beständig. Im übrigen waren Armut, Demut und Hochmut die drei Grazien, die an ihrer Wiege gestanden und sie durch das Leben begleitet hatten. Sie verneigte sich artig, wenn auch etwas steif und herablassend, gegen die alte Zunzen und nahm dann wie selbstverständlich auf dem Sofa Platz.

Frau Hulen setzte sich zu der Neuangekommenen, patschelte ihr die Linke und sagte: »Wie froh ich bin, Sie zu sehen, liebe Laacke. Sie sind immer so gut und machen keinen Unterschied.«

»Ach, liebe Hulen, wie können Sie nur davon sprechen; das wäre ja ungebildet. Sind wir denn nicht alle Menschen?«

Hier trat eine kleine Pause ein, während welcher die Klavierlehrerin ihren Schal von der schmalen und abschüssigen Schulter herabgleiten ließ. Dann fragte sie: »Wen darf man denn noch erwarten?«

Die Hulen rückte unruhig hin und her und sagte etwas verlegen: »Die Ziebolds.«

»Oh, die Ziebolds! Das ist ja hübsch. Ich entsinne mich; er hat eine Stimme, Tenor oder Bariton.«

»Ja, er hat eine Stimme«, fuhr die Hulen fort, »und ist immer spaßhaft und manierlich, aber es mag doch keiner neben ihm sitzen. Und neben der Frau erst recht nicht. Das macht die Pfandleihe. Sehen Sie, die alten Ziebolds, was also die Eltern von diesen Ziebolds waren, das waren sehr gute Leute, ja man kann sagen, es waren feine Leute. Sie hatten das Leinewand- und Strumpfwarengeschäft, Ecke der Jüden und Stralauer, und wir wohnten auf demselben Hof. Das war das Jahr vorher, als der Alte Fritz starb. Und da wurde ja meine alte Mutter krank, und weil sie wieder zu Kräften kommen sollte und ich nicht kochen konnte, weil ich ja immer aus mußte wegen der Näherei, ja, liebe Laacken, ich habe mich auch quälen müssen, da kamen ja nun die Ziebolds, und einen Tag gab es eine Suppe und den andern Tag Braten oder Huhn, immer Flügel und Brust, und sonntags schickte der alte Mann, der eigentlich geizig war, aber ich kann es ihm nicht nachsagen, eine halbe Flasche Wein. Und so ging es bis an ihren Tod, ich meine meiner Mutter Tod.«

Bei dieser Erinnerung fuhr die Sprecherin mit ihrem Zeigefingerknöchel über das rechte Auge.

»Das waren also die alten Ziebolds?« bemerkte Mamsell Laacke, die durch Betonung des Wortes andeuten wollte, daß sie eigentlich von den jungen Ziebolds zu hören gehofft hatte. Die Hulen verstand es auch und fuhr fort:

»Ja, das waren die alten, das heißt, sie waren noch gar nicht alt, so um Mitte Funfzig, aber sie machten es auch nicht lange mehr und starben denselben Winter noch, wo meine Mutter gestorben war. Erst sie, den dritten Weihnachtsfeiertag, wenn es nicht schon der zweite gewesen ist, er aber schleppte sich noch so bis in den März. Sie wissen ja, liebe Laacke: ›Märzensonne und Märzenluft graben manchem seine Gruft.‹ Er war immer schwach auf der Brust.«

»Und da kam denn wohl das Geschäft an die jungen Ziebolds?« fragte jetzt Mamsell Laacke mit allen Zeichen der Teilnahme an den sich rasch häufenden Todesfällen.

»Ja, an die jungen Ziebolds«, bestätigte die Hulen, »das heißt an ihn, denn er hatte damals noch keine Frau. Er war nämlich ein sehr hübscher Mann, und weil er gut reden konnte und eine goldene Brille trug, so sagten sie immer, er sähe aus wie ein Justizkommissarius, und sie nannten ihn auch ›Herr Justizkommissarius Ziebold‹. Das schmeichelte ihm, und er war immer mit Schauspielern und ihren Mamsells zusammen, und eines Tages hatte er eine an dem Hals.«

»Seine jetzige Frau? Ah, ich verstehe.«

»Ja, seine Frau. Da hing denn nun der Himmel voller Geigen. Aber der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, und es war noch kein Jahr um, da war alles verkauft, und sie kamen in Not, wie mir die Zunzen erzählt hat. Denn ich wohnte damals noch in der Roßstraße.«

Die Zunzen, die trotz ihrer Taubheit das meiste verstanden hatte, nickte mit dem Kopfe.

»Die junge Ziebolden aber«, fuhr die Hulen fort, »das war immer eine sehr resolute Person, und sie wußte bald Rat, und als ich meinen Mann heiratete und wieder hierher in die Klosterstraße zog, da wohnten sie schon auf dem Hohen Steinweg und hatten die Pfandleihe. Nun sehen Sie, liebe Laacke, die Pfandleihe, das war ja noch nichts Schlimmes, und ich sagte damals zu meinem Seligen, daß ich die alten Ziebolds gekannt hätte und daß es sehr gute Leute gewesen wären. Und so kamen wir auch wieder zusammen und besuchten uns. Aber das dauerte ja gar nicht lange, da hieß es: das mit der Pfandleihe, das sei bloß so nebenbei und die Ziebolds liehen Geld auf hohe Zinsen, und sie seien nicht besser als Wucherer und bei zehn Talern müßten die Leute zwanzig Taler schreiben. Und das ist es, warum keiner neben den Ziebolds sitzen will.«

»Bitte, setzen Sie mich neben Herrn Ziebold«, bemerkte Mamsell Laacke mit der ruhigen Haltung einer Äbtissin, die sich hinter dem Schild ihres Rufes und ihrer Stellung gesichert weiß. »Und wen erwarten Sie noch?«

»Herrn Feldwebel Klemm.«

»Ach, der steife, alte Herr mit den Stulpstiefeln, der die Schlacht bei Torgau gewonnen hat. Er streitet immer und trägt eine schwefelgelbe Weste. – Und wen sonst noch?«

»Herrn Nuntius Schimmelpenning.«

»Schimmelpenning!« wiederholte die Laacke, »der Bote vom Kammergericht. Ich entsinne mich. Er soll der Sohn des alten Präsidenten Schimmelpenning sein, nur daß ihm das ›von‹ unter die Bank gefallen ist. Wie kommen Sie nur zu dem, liebe Hulen? Ein wenig angenehmer Mann und so wichtig.«

In diesem Augenblicke zog es wieder an dem Draht, und da die Frau Hulenschen Gesellschaften wie andere Gesellschaften waren, so trat denn auch gerade derjenige ein, von dem eben gesprochen worden war: Herr Nuntius Schimmelpenning. Er war ein starker Fünfziger, mit aufgeworfenen Lippen, die er zusammenpreßte und dann wieder schmatzend mit einem kleinen Paff öffnete, wobei er weiße, wundervolle Zähne zeigte. Der alte Präsident hatte es ebenso gemacht. Übrigens hatte die Laacke recht; er konnte an Aufgeblasenheit und Wichtigtuerei mit jedem Truthahn streiten und sah in die Welt hinein, als ob er wenigstens sein Vater oder gar das Kammergericht selbst gewesen wäre. Er glaubte auch so was.

Frau Hulen stellte nun vor; Schimmelpenning aber, von der Verbeugung der ihm unbequemen Mamsell Laacke nicht die geringste Notiz nehmend, schritt auf die alte Zunzen zu, deren Namen ihm auch genannt worden war, und sagte mit lauter Stimme: »Zunz; bei Graf Voß, Wilhelmsstraße? Entsinne mich; habe Ihren Mann noch gekannt.«

»Ich auch«, sagte die Alte, die aus Respekt vor der stattlichen Erscheinung des Nuntius aufgestanden war, im übrigen aber, gerade weil er so laut sprach, alles falsch verstanden hatte. Schimmelpenning, der nicht wußte, was er aus dem »Ich auch« der Alten machen sollte, und bei seiner immer regen Empfindlichkeit nur allzu geneigt war, es für eine Verhöhnung zu nehmen, zog ein verdrießliches Gesicht und schien überhaupt durch seine ganze Haltung ausdrücken zu wollen: »Sonderbare Gesellschaft; wie komm' ich nur dazu?« Dann trat er an die hochbeinige Kommode, trommelte auf dem Dach des Straßburger Münsters und sah in den Spiegel hinein, bei welcher Gelegenheit ihn wieder seine Ähnlichkeit mit dem alten Präsidenten überraschte.


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