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Die Fahrten des Sanitätsrats Kluge

Der Wagen des Sanitätsrats Kluge stand vor seinem Hause, die blankgeputzten Braunen schüttelten die Köpfe und ließen das neue Ledergeschirr klirren; die schwarzgelb lackierte Kutsche glänzte; der Kutscher trug den Sonntagsrock, und der Sanitätsrat, der noch sehr jung war für seinen Titel, kam im grünen Frack, weißen Hosen und Stulpstiefeln aus dem Hause, er trug den braunen Havelock über dem linken Arm und seinen Stock in der rechten Hand. Alles war in peinlicher Ordnung, blank und reinlich, wie alles bei ihm und an ihm sein mußte; in seinem glattrasierten, schönen, strengen Gesicht lag ein versonnener Ausdruck.

Indessen hatte der Diener den Instrumentenkasten und ein längliches schwarzes Etui in den Wagen gelegt und die Decken zurückgeschlagen, der Sanitätsrat stieg ein, der Kutscher nahm die Zügel auf, tat einen Zungenschlag, berührte das Handpferd leicht mit der Peitsche, und die Braunen gingen, nicht zu schnell, nicht zu langsam; gut ausgreifend liefen sie durch die Straßen, und so glitten Wagen und Gespann auch durch den schwarzgerahmten Spionspiegel, der im Fenster der Frau Bürgermeister Pohl hing, und die Bürgermeisterin hob den Kopf mit den grauen Löckchen und sagte: »Der Sanitätsrat fährt zu Frau Sommer!«

Ihr gegenüber saß Annette am Stickrahmen und beugte ihren Kopf mit den vielen braunen Löckchen tiefer auf ihre Arbeit.

»Hans Christian!« rief die Bürgermeisterin.

»Ei gewiß!« sagte ihr Mann ärgerlich und legte die Zeitung weg.

»Ist es nicht eine Schande?«

»Und den Kopf trägt er so hoch! ... Als ich damals, da Othmar die Sache mit der ...« Ein Blick seiner Frau auf die Tochter ließ ihn abbrechen. Im Geist sah er den starren Ausdruck noch, mit dem der Sanitätsrat damals sein Ansinnen zurückgewiesen hatte.

»Beim Babettchen hat er drei Nächte gewacht«, sagte Annette leise. Sie dachte daran, wie er sie selbst als Kind, vor wenigen Jahren, gesund gemacht hatte, und manches kleine Ereignis fiel ihr ein.

»Ja, er hat Pflichtgefühl,« meinte der Vater, »aber es fehlt ihm an Wohlwollen.«

»Es ist eine Schande«, wiederholte seine Frau. Sie sah ihre hübsche Tochter an, die kein Wort mehr sagte. Aber alle drei saßen in Gedanken über den Sanitätsrat, dessen Wagen schon lange vorüber war und bereits durch das Stadttor rollte und dann in den grünen Talweg einbog. Und die Leute, die in der Abendsonne vor ihren Häusern oder an den Gartenzäunen standen und grüßten, oder die aus den Fenstern sahen, wendeten sich zu ihren Frauen oder Angehörigen und machten eine rasche Bemerkung darüber.

Und dies wiederholte sich an jedem Sonnabend seit mehr als einem halben Jahr, denn an jedem Sonnabend, und wenn er einmal verhindert war, an einem andern Abend der Woche fuhr der Sanitätsrat nach dem kleinen Landhause mit den blühenden Rosenstöcken davor, in dem Frau Sommer an ihren guten Tagen, – denn ihre erste Jugend war vorbei, – selbst wie eine Rose durch den Garten ging.

Drei Herren kamen jeden Sonnabend zu ihr, der Vermesser Antonius, der Hauptmann Scherer und der Sanitätsrat, und in der schönen Zeit sah man sie mit ihr im Garten sitzen und plaudern, Tee trinken oder Boston spielen, oder hörte sie aus den offenen Fenstern miteinander musizieren. Sonst aber kam so gut wie niemand zu ihr, und die Frauen blieben alle fern. Sie hatte auch niemanden aufgesucht oder eingeladen, und wie die drei Herren eigentlich zu ihr gekommen waren, wußte man nicht recht. Über die beiden andern wunderte man sich weniger, denn vom Hauptmann erwartete man manches und von dem Vermesser gar nichts, über den Sanitätsrat wunderte man sich. Aber niemand hatte den Mut, ihm etwas zu sagen, und als eine Dame es dennoch wagte, da hatte der Sanitätsrat nur den Kopf ein wenig gehoben und etwas steif gesagt: »Ich glaubte, Madame, Sie hätten mich zu einer ärztlichen Visite gebeten?«, und die Fragerin war erschrocken und errötend verstummt.

Und so fuhr der Wagen auch diesen Sonnabend durch den grünen Talweg, und der Sanitätsrat saß, beide Hände auf den rotweißen Porzellanknopf seines Stockes gestützt, sehr gerade darin, bis sie vor der Gartentür angekommen waren, wo er ausstieg, während der Kutscher zum nahen Gasthaus zur schönen Hirtin zurückfuhr, Decken über die Pferde warf, sich in den Garten setzte und wartete, um bereit zu sein, falls nach seinem Herrn geschickt wurde.

Der Sanitätsrat aber ging, den schmalen schwarzen Kasten unterm Arm, an den Rosenstöcken vorüber ins Haus, trat in das dämmernde Blumenzimmer mit den großen offenen Fenstern und dem kühlen Goldfischglas unter dem Blattwerk; er machte noch in der Tür eine tiefe Verbeugung; Frau Sommer schritt ihm entgegen und reichte ihm erfreut und vielleicht ein wenig errötend die Hand; er setzte sich und fragte nach ihrem Befinden, nach den Rosen und anderem, und sie erzählte die kleinen Vorfälle der Woche oder auch von einem Buch, das sie gelesen, oder fragte nach seinen Patienten. Dabei arbeitete sie an einer Häkelei oder netzte, und nur wenn sie lebhafter sprach, hörte das Spiel ihrer Finger auf, und manchmal auch, wenn sie zuhörte und die Lippen öffnete und ihre Augen gespannt auf den Redenden richtete. Immer waren Blumen im Zimmer, aber es fiel ihm auf, daß heute deren mehr als sonst auf einem kleinen Tische standen und auch zwei große Bonbonnieren, auf denen buntgekleidete Schäferinnen in Strohhüten mit flatternden Bändern und Hirtenstäben in glänzenden Farben zwischen schimmernden Goldrändern leuchteten.

Er ging sogleich darauf zu, sah alles auf seinen Stock gestützt an und wendete sich bestürzt nach Frau Sommer um: »Ist heute Ihr Geburtstag?« fragte er.

»Mein Namenstag!« verbesserte sie. Sie hatte ihn lächelnd beobachtet, aber nun wich das Lächeln aus ihren Zügen.

»Daran hätte ich auch denken können!« Er biß sich auf die Lippen, denn andere hatten offenbar gedacht. Und in der Verwirrung sagte er: »Gestatten Sie, daß ich wenigstens meine Glückwünsche zu Ihrem Geburtstage darbringe!«

»Danke, aber es ist mein Namenstag. – Meinen Geburtstag feiere ich nicht«, sagte sie hart. Eine Wolke war über ihr, und da sie eine Frage in seinem Gesicht las, fügte sie zögernd und mit einem leichten Beben in der Stimme hinzu: »An meinem Geburtstag ward ich verheiratet und an meinem Geburtstag ward ich geschieden.«

Es war ganz still im Zimmer. Der Sanitätsrat schwieg, dann hustete er, dann stand er auf und schien die Möbel und Bilder im Zimmer zu betrachten, bis er wieder vor den Geschenken stehen blieb. Auf dem gleichen Tischchen stand eine kleine Miniatur, die sie selbst vorstellte. Frau Sommer folgte ihm mit den Blicken, aber als er sich wieder umwendete, fielen ihre Augen auf ihre Arbeit, und die Finger spielten rasch und zierlich wie vordem.

Da sprach er von den Raupen, die den Waldbestand bedrohten.

Und dann klingelte es; ein leichtes Stirnrunzeln des Sanitätsrats war in der Dämmerung nicht sichtbar. Der Hauptmann Scherer trat ein, rot und kräftig unter weißen Haaren, mit einem lauten Scherz, und küßte Frau Sommer die Hand, und mit ihm kam Antonius, lang, mager, und mit unzähligen kleinen Falten in dem immer lächelnden, weder jung noch alt aussehenden, rasierten Gesicht, und Frau Sommer dankte den beiden Herren für ihre Geschenke und das Gespräch wurde laut. Nur der Sanitätsrat saß still da und redete kaum mit.

Das Mädchen brachte den Tee, Frau Sommer füllte die gelben Tassen aus dünnem Porzellan, auf denen kleine blaue oder lilafarbene Chinesen standen oder liefen. Dann setzte Frau Sommer sich ans Klavier, Herr Antonius zog seine Flöte aus dem seidengefütterten Kästchen und der Sanitätsrat entnahm die seine dem schwarzen Behälter, den er mitgebracht hatte. Das Trio begann mit großem Ernst. Als es beendet war, sang Frau Sommer zu ihrem eigenen Spiel, und gelegentlich fiel der Hauptmann mit seiner tiefen Männerstimme ein. In den Pausen, wenn gesprochen wurde, ging der Sanitätsrat im Zimmer auf und ab. Jetzt blieb er im dunkleren Teil des Zimmers vor einem Glasschränkchen stehen, in dem zierliche kleine Gegenstände, Andenken und Geschenke schön geordnet lagen; eines der Türchen stand offen, und er nahm das eine oder andere Stück heraus und betrachtete es. Er hatte eben eine Dose geöffnet und auf der Innenseite des Deckels ein Porträt entdeckt.

»Wer ist das?« fragte er, ins Licht zurücktretend.

Alle drei Männer sahen, wie Frau Sommer blutrot wurde, als sie antwortete: »Der Erbprinz Franz Ludwig ...«

Alle drei schwiegen. Eben schlug es zehn Uhr und wie jedesmal standen die Herren auf und empfahlen sich; sie erneuten zum Abschied ihre Glückwünsche, aber irgendwie gingen alle drei nachdenklich fort, und auf dem Wege zur Schönen Hirtin sprachen sie kaum ein Wort miteinander. Der Sanitätsrat nahm die beiden andern eine Strecke in seinem Wagen mit, bis ihre Wege sich trennten. Auf seinem Zimmer angekommen, trug er die ärztlichen Besuche des Tages in sein Buch ein, dann ging er in unruhigen Gedanken auf und ab, seufzte einige Male tief; dann löschte er die Lampe aus, setzte sich ans Fenster, vor dem die laue dunkle Nacht über den Gärten lag, und sah lange hinaus, ehe er zur Ruhe ging.

Drei Tage später saß er in der Ressource neben der Gattin des Bürgermeisters und sprach mit ihr. Er war spät gekommen und er beteiligte sich nicht am Tanz, noch am Kartenspiel der älteren Herren. Die Blicke der Bürgermeisterin folgten ihrer Tochter, die im weißen Ballkleid mit kurzen Puffärmeln, einen Kranz von kleinen Rosen im Haar, so reizend aussah, daß selbst ihr Vetter Othmar ihr seine Anerkennung nicht versagte, als er sie zur Contredanse aufforderte. Und obwohl er es in herablassender Weise tat, und sie spöttisch antwortete, war sie darüber erfreut. Kein anderer hatte so hübsch gelocktes Haar; trotz der Hitze trug er zwei Westen, die obere aus zartem Wildleder, die untere aus pfaublauer Seide, und unter der engen Hose über den Schuhen mit den großen Schleifen waren die gestreiften Seidenstrümpfe sichtbar. Beide kamen jetzt heran; die Mutter steckte Annettens Frisur fest; Othmar verbeugte sich vor dem Sanitätsrat, der steif dankte und dem Paar stirnrunzelnd nachsah.

Beim nächsten Tanz hatten die Damen zu wählen, und Annette knixte vor dem Sanitätsrat. Im schwarzen Frack und Seidenstrümpfen sah er sehr gut aus; er tanzte mit gemessener Anmut, dann promenierte er auf Annettens Bitte in dem kühleren offenen Gang mit ihr auf und ab und führte sie zuletzt an den Tisch ihrer Eltern zurück, die schon zu speisen begonnen hatten.

Das hübsche Mädchen saß gedankenvoll. »Ich habe Ihre Manöver beobachtet, Annette,« hatte der Sanitätsrat gesagt, »junge Mädchen sollten nicht so kokett sein!«

»Wer soll dann kokett sein?« hatte sie lächelnd geantwortet; sie hatte nicht anders können.

Er lächelte auch, wurde aber wieder ernst. An einem Pfeiler lehnte Othmar Pohl, den Hut an der Hüfte, das eine Bein vorgesetzt, und zeigte seine tadellose Figur, sein hübsches Gesicht, das gelangweilt aus der hohen Halsbinde sah.

»Das ist ein platter und dennoch ein gefährlicher Bursche«, hatte der Sanitätsrat im Vorübergehen gesagt.

Annette wußte, warum der Sanitätsrat ihren schönen Vetter so hart beurteilte, wenn sie es gleich nicht wissen durfte. Sie hatte das Mädchen gekannt und wußte genau, wie sie abgefunden worden war. In diesem Punkte kannte der Sanitätsrat keine Gnade.

All dies ging ihr jetzt durch den Kopf, und sie sprach kaum ein Wort.

Als der Sanitätsrat sie in den Speisesaal geführt hatte, waren sie an dem Tische vorübergekommen, an dem der Hauptmann Scherer mit andern Herren beim Burgunder saß.

»Sapristi!« hatte der Hauptmann gerufen; der Sanitätsrat hatte ihn gar nicht bemerkt. Sie sahen neugierig nach dem Tische des Bürgermeisters hinüber, wo Annette jetzt dem Sanitätsrat Geflügel vorlegte und sein Glas mit Rheinwein füllte.

Er mußte irgendeine Bemerkung gemacht haben, denn sie sahen das Kind bis zu den vielen braunen Löckchen an den Schläfen erröten.

»Das sieht nach Freierei aus«, sagte der Domänendirektor.

»Das wäre ja Fahnenflucht!« rief der Hauptmann. »Ein so süperbes Weib!« Der dunkelrote Wein schaukelte im Glas und die Flaschen klirrten leise aneinander.

Der Forstmeister, der auf der andern Seite neben ihm saß, stopfte seine Pfeife. »Mancher zieht eben das Kälberne vor«, sagte er paffend, während er sie anzündete.

So kam es, daß in den nächsten Tagen ein Gerücht sich in der Stadt verbreitete, rasch wie mit scharfen Glöckchen und Schellengeklingel von Weiberzungen, das bis in das kleine Haus in der Waldstraße drang.

Frau Sommer, die einen Turban um die Stirn gewickelt, ihre Blumen begoß, als das Mädchen es, vom Markt heimkommend, ihr erzählte, hob den Kopf ein wenig; dann zuckte sie die Achseln, aber ein guter Teil des stäubenden Strahles hatte den grünseidenen Stuhl getroffen, der beim Blumentisch stand.

Die Magd, die nichts weiter zu sagen wagte, hatte das Zimmer verlassen; Frau Sommer blieb regungslos mitten in der Stube im Sonnenschein stehen; vergeblich nahm sie eine Arbeit zur Hand, sie erinnerte sich, daß sie in der Stadt Besorgungen hatte, kleidete sich an und ging.

Sie war noch nicht weit gekommen, als der Wagen des Sanitätsrats sie überholte; er saß mit einem andern Herrn; obwohl sie mit dem Sonnenschirm ihr Gesicht schützte, erkannte er sie doch und grüßte ehrerbietig.

In dem großen Kaufmannsladen auf dem Markt, in den sie trat, stand Annette Pohl und wählte seidenes Band aus. Andere Damen standen vor dem Kundentisch; eine Stille trat ein, in der man die Meßstäbe und die großen Scheren klirren hörte. Frau Sommer mußte ziemlich lange warten. Als sie wieder aus dem Laden trat, bog sie in eine Seitengasse ein und lehnte sich tief atmend an einen Zaun; die Glocke schlug vom Turm, ein kleiner Hund bellte; sie kaufte noch Baldriantropfen in der Apotheke, dann eilte sie nach Hause.

Vor der Stadt begegnete sie Herrn Antonius. Er trug ein länglich rundes hölzernes Gefäß und erzählte ihr, daß es besonders schöne Forellen enthielt, die er heute gefangen, und bot ihr an, sie bis zu ihrem Hause zu tragen, falls sie sie annehmen wollte. »Sie wolle ihn nicht berauben«, sagte sie; aber er bat sie darum und ging mit ihr zurück und erklärte ihr eifrig, wie man Forellen fangen müsse, und merkte ihre Unaufmerksamkeit nicht.

Als sie vor dem Gartentor ankamen, trat der Postbote aus dem Hause; er hatte einen Brief, den er ihr persönlich übergeben müßte. Wie Frau Sommer die Handschrift sah, wurde sie blaß und rot; so sichtlich war ihre Verwirrung, daß Herr Antonius mit verwirrt wurde, und bei ihrem eiligen Abschied, denn sie lief fast ins Haus, der Forellen völlig vergaß, und erst als er bereits eine Strecke Weges gegangen war, sich ihrer erinnerte. Mehrmals schwankte er, ob er umkehren und sie der Magd übergeben sollte, wagte es aber nicht. Auch war es indessen spät geworden, und er hatte in einer Vermessungssache beim Bürgermeister zu tun.

Als dieser ihn eine halbe Stunde später, noch redend, hinausbegleitete, sah er den Behälter mit den Fischlein liegen und bat Herrn Antonius, sie ihm zu verkaufen, da er den Sanitätsrat zu Tisch gebeten und seine Frau damit überraschen wolle; und so kam es, daß der Sanitätsrat mit Annette Pohl die Forellen verspeiste, die schon für Frau Sommer bestimmt gewesen waren.

Am Nachmittag hatte der Vermesser beim Hofrat Högerlein zu tun und trank den Kaffee bei ihm. Die Hofrätin ersah die Gelegenheit und erzählte mit ihrer hohen schrillen Stimme, daß Frau Sommer heute bei Bahlmann grünseidenes Band und Rüschen gekauft habe und so aufgeregt gewesen sei, daß sie des Zahlens vergessen und fortgehen gewollt, so daß der Kaufmann sie zurückrufen und daran erinnern mußte. Annette Pohl aber sei blutrot geworden.

»Warum das?« fragte Antonius, der an die Aufregung Frau Sommers bei Empfang des Briefes dachte.

»Nun, weil sie doch den Sanitätsrat heiratet«, sagte die Hofrätin.

Herr Antonius war so erstaunt, daß er zunächst gar nicht antwortete. Er dachte der Forellen, die der Bürgermeister gekauft hatte. Die Hofrätin aber erzählte weiter, daß mehrere Damen am Ladentische bei Bahlmann deutlich um einen Schritt weitergerückt seien, weil sie nicht mit einer geschiedenen Frau zusammenstehen wollten.

»Das sieht den Gänsen ähnlich«, sagte der Vermesser ruhig mit seiner klanglosen Stimme, und der Hofrat lachte laut.

»Ich würde nicht so weit gehen«, rief die Hofrätin giftig.

»Gott behüte, Frau Hofrätin!« erwiderte Antonius mit feinem höflichsten Lächeln.

»Die Herren müßten einmal auf Schloß Wiswold nachfragen,« fuhr die Dame fort; »ihr Vater war ja dort Musikmeister und ... anderes. Das sind dunkle Gewässer mit unsauberem Grund.«

Herr Antonius kombinierte nicht schnell; aber da die Hofrätin den Namen des Erbprinzen nannte, fiel ihm unwillkürlich die Dose ein; er hütete sich etwas zu sagen, aber als er nach Hause kam, hatte er sehr viel zu denken. Und am nächsten Morgen stand er zeitig auf, ging nach dem Felsbach, der am Bergabhang zwischen den Tannen niederschoß, und angelte nach Forellen, die er Frau Sommer schicken wollte, aber er hatte kein Glück und fing nur eine einzige, und das lohnte nicht.

Das war Freitag gewesen. Des Sonnabends erschienen nur der Hauptmann und er bei Frau Sommer; der Sanitätsrat blieb aus. Das war schon öfter geschehen, wenn ein später Krankenbesuch ihn abgehalten hatte; trotzdem wollte diesmal das Gespräch nicht recht in Gang kommen, das musikalische Zusammenspiel zwischen dem Klavier und der einen Flöte glückte nicht, und zum Singen hatte Frau Sommer keine Lust. Als sie es zuletzt dennoch tat, versagte ihr die Stimme. Die Lichter brannten trüb, am Himmel standen Wolken, und der Mond hatte einen Hof. Schweigend saßen alle drei auf der Veranda; wenn hie und da ein Wagenrollen näherkam, warteten sie gespannt, aber jeder Wagen rollte vorüber. Als die beiden Herren gingen, veranlaßte der Hauptmann den Vermesser, mit ihm noch bei der Schönen Hirtin einzukehren. Herr Antonius, der nie trank, mußte an einer Flasche Leistenwein teilnehmen; infolgedessen erzählte er, was er an dem Tage erlebt hatte. Der Hauptmann hörte mit vielen »Hm« und »Ha« zu. Da er von dem Benehmen der Damen bei Bahlmann hörte, sagte er, wenn es Männer gewesen, hätte er sie vor seinen Degen gefordert, gegen Damen könne ein Kavalier nichts machen. »Aber ich will Ihnen etwas sagen, Antonius,« fügte er plötzlich hinzu, »auf Schloß Wiswold ist ein Luderleben geführt worden.«

»Wenn ich über Land gehe,« sagte der Vermesser, »sehe ich manche reine schöne Blume aus einem Sumpf erwachsen.«

»Das haben Sie sehr gut gesagt, Antonius. Aber das männliche Empfinden ist etwas sehr eigenes, etwas ... intolerantes, besonders wenn die Erfahrung fehlt. Ich habe selber ein wildes Leben geführt ... Ein so süperbes Weib! Nun, – tu l'as voulu, George Dandin!« Er lachte kurz auf. Dann gingen sie.

Herr Antonius, der sonst nie träumte, träumte diese Nacht von zahllosen Forellen, die blaugesotten sich aus dem Wasser in Schüsseln und Teller warfen, während in der Ferne die Hofrätin Högerlein Frau Sommer mit grünseidenem Band verfolgte; zuletzt sah er alle, den Hauptmann und den Sanitätsrat und Bahlmann und die Damen am Tische des Bürgermeisters sitzen, sehr dicht gedrängt vor lauter verschlossenen Schüsseln, die niemand aufdeckte, bis der Hauptmann donnernd rief: »Antonius, wo sind die Forellen?« und er erwachte.

Draußen ging ein stiller, langwieriger Regen nieder. Die Straßen und Plätze waren leer. Es regnete auch an den folgenden Tagen.

Am Montag abend hielt der Wagen des Sanitätsrats, aus dem oberen Waldtal kommend, vor Frau Sommers Haus; der Kutscher schlug die Regendecke zurück, der Sanitätsrat im Havelock stieg aus, ging durch den Garten und klingelte. Frau Sommer selbst öffnete ihm die Türe und bat ihn einzutreten.

Er sei am vergangenen Sonnabend zu kommen verhindert gewesen, sagte er beklommen. Frau Sommer erwiderte nichts. Er legte den Havelock ab und folgte ihr ins Haus. Es war ein regentrüber Abend; in der Stube, der die Pflanzen auf dem Blumentisch das karge Licht nahmen, war es nicht hell. Frau Sommer setzte sich auf das kleine Sopha und wies ihm einen Stuhl. Er zog sein seidenes Tüchlein aus der Tasche und fuhr damit mehrere Male über die Stirn und sein blondes Haar. Er saß sehr gerade; seine stahlblauen Augen wurden groß, und die Worte kamen schwer aus seinem Munde. »Er habe ihr etwas zu sagen«, begann er und verstummte wieder.

Sie wartete, daß er weiterspräche, und kam ihm nicht zu Hilfe.

»Sie habe ihm an ihrem Geburtstage gesagt,« fuhr er endlich fort, »daß sie einst am gleichen Tage von ihrem Manne geschieden worden ... Würde sie sich ihm soweit anvertrauen, daß sie ihm erzählte, warum sie sich damals geschieden?«

Frau Sommer machte eine Bewegung; über ihr Gesicht ging eine jähe Röte; dann wurde sie bleich.

»Ich weiß, ich habe kein Recht zu dieser Frage«, sagte der Sanitätsrat.

»Warum stellen Sie sie dann?« rief sie. Sie war aufgesprungen und auch er erhob sich. »Was wollen Sie von mir?« fragte sie heftig.

Der Sanitätsrat sah ins Leere; er verschränkte die Finger. »Ich will Klarheit«, sagte er endlich. Sie sah ihn entrüstet an.

Wie mit schwerstem Widerstande kam es von seinen Lippen: »Ich möchte schon lange sprechen ... Sie haben mir ein außerordentliches Gefühl eingeflößt ... und ich möchte Sie bitten, mein Leben zu teilen ... Sie sind sehr schön und sehr gut ...«

Jetzt lächelte sie, ja, sie lachte beinahe, da fuhr er fort: »Aber dann habe ich ein Recht zu wissen und muß erst wissen ...«

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht; er war ihr so nahe gekommen, daß er ein Zucken darin wahrnahm; da eilte sie ans Fenster und stand abgewandt, so daß er nichts mehr sehen konnte. Er folgte ihr und wartete eine ganze Weile, ehe sie sich wieder umkehrte; hier im letzten Licht sah er, daß ihr Gesicht hart und böse geworden war.

»Sie müssen also erst wissen ...« sagte sie heftig. »Wie es scheint, wollen Sie mir die Ehre erweisen, sich um meine Hand zu bemühen, und ich muß für diese Ehre tief dankbar sein, aber ... Sie müssen erst wissen, ob ich dieser Ehre auch würdig bin, weil ich ... weil ich ... weil ich ...« sie sprach nicht zu Ende, sondern brach in ein so fassungsloses Weinen und Schluchzen aus, daß sie sich zuletzt über den Tisch warf. Nicht minder fassungslos blieb der Mann vor ihr stehen und sprach unzusammenhängende Worte, auf die sie nicht achtete, sondern immerzu in ihre Hände und dann in ihr Taschentüchlein, das sie aus ihrem Kleide hervorgesucht, weinte.

»Aber liebe Freundin, Verehrte, was ist es denn?« sagte er und berührte mit halb schüchterner Bewegung ihre Schulter. Da zuckte sie zusammen und sprang auf. »Gehen Sie fort! Ich brauche Ihr Mitleid nicht, noch Ihre Werbung. Gehen Sie! Gehen Sie!« wiederholte sie immer heftiger und griff nach ihrem Herzen. Und was immer er sagte und bat, sie antwortete mit der gleichen Aufforderung, so daß ihm zuletzt nichts übrig blieb, als betroffen und verzweifelt sich zurückzuziehen.

Da er im Vorzimmer den Mantel vom Kleiderständer nahm, kam die Magd eben zurück, schüttelte das Regenwasser von ihren Überkleidern und Schuhen und sah dem an ihr vorübereilenden Herrn ganz erstaunt nach.

Völlig bestürzt schritt er über die Kieswege nach seinem Wagen, rief dem Kutscher, der darin gesessen und jetzt herausgesprungen war, in ungewöhnlich heftigem Ton »Nach Hause!« zu und stieg schnell ein. Der Kutscher zog den Pferden die Decken ab, legte die eine unter und breitete die andere über sich, die Tiere zogen an, und der Wagen rollte über die nassen Straßen, deren Wasserlachen das letzte Tageslicht widerspiegelten, zwischen den dunkelnden Wiesen und Waldhängen der Stadt zu unter trostlosem Regen.

Am Wochenende erschienen Herr Antonius und der Hauptmann wie sonst in Frau Sommers Garten, aber sie wurden nicht empfangen. »Madame sei unpäßlich«, sagte die Magd. Auch die nächsten Abende glichen den früheren nicht mehr. Der Sanitätsrat fehlte, Frau Sommer war bleich und still oder sprach mit einer heftigen Heiterkeit, die nicht natürlich war. Wenn sie kamen, fanden sie sie oft über Briefen und Rechnungen sitzen, die sie sogleich beiseite legte und einschloß.

»Die guten Menschen sind noch schlimmer als die bösen«, sagte sie einmal, als Herr Antonius von guten Menschen sprach.

»Die Menschen sind weder gut, noch böse, sondern Narren sind sie«, meinte der Hauptmann. Antonius hatte indessen die Karten verteilt; alle drei betrachteten und ordneten ihre Blätter: »Hier ist der Erbprinz!« sagte der Hauptmann und spielte den Buben aus. Im nächsten Augenblick biß er sich auf die Lippen. Frau Sommer hatte ihr Blatt gesenkt und starrte ihn an: »Die guten Menschen sind noch schlimmer als die bösen«, wiederholte sie. Antonius stach mit seiner Karte und forderte sie auf zu spielen, als ob nichts geschehen wäre. Das Spiel kam wieder in Gang, aber nicht das Gespräch, und noch ehe es zehn schlug, gingen sie in gedrückter Stimmung auseinander.

»Ich muß ein Glas Wein trinken«, sagte der Hauptmann und zog den Vermesser durchs Gartentor der »Schönen Hirtin«. »Ich begreife nicht, Antonius, wie mir das entschlüpfen konnte; ich wollte das Wort nicht gebrauchen; Gedanken in mir müssen sich gekreuzt haben. Was muß sie von mir glauben?«

»Haben Sie den Sanitätsrat in letzter Zeit gesehen?« lenkte Antonius ab.

»Nein«, erwiderte der Hauptmann unwirsch.

»Er besucht auch das Haus des Bürgermeisters nicht mehr«, sagte der Vermesser, »die Högerlein hat Annetten gefragt, was mit ihrer Verlobung wäre; sie antwortete, sie wisse nicht, wovon die andere spräche. Annette, sagte die Högerlein, werde sich mit ihrem Vetter Othmar verloben, mit dem sie ständig zusammen sei.«

Es kam dem stillen Mann seltsam vor, daß er all diese Kunde auskramte. Sie waren die einzigen Gäste in der Wirtschaft; über ihnen breitete eine Linde ihre Zweige; auf ihrem Tische stand ein Windlicht; der Hauptmann hatte den weißen Kopf in die Hand gestützt und sah in sein Weinglas. Herr Antonius, der diesmal vorsichtig ein Dünnbier bestellt hatte, zog seine Flöte hervor und putzte das Mundstück mit seinem Taschentuch.

»Es ist nichts mit dem Zivil«, sagte der Hauptmann, der ihm zusah.

Die Nachtfalter flogen um ihr Windlicht; rings um sie war völliges Dunkel. Herr Antonius fing an, die Flöte zu blasen, und die sanften wehmütigen Töne zogen zu den Fenstern des nahen Hauses, hinter denen Frau Sommer schlaflos lag.

In der oberen Stadt saß der Sanitätsrat mit starrem Gesicht vor der Studierlampe und versuchte in einem medizinischen Werk zu lesen, das auf dem alten Schreibtisch vor ihm aufgeschlagen war.

Unten auf dem Markt ging ein verspäteter Bürger nach seinem Hause; der Nachtwächter blies auf seinem Horn und rief die Stunden aus. Im Kaffee Hahn beim alten Schloß saß Othmar Pohl und schäkerte mit der Kellnerin, während er die letzten Modenzeitungen durchsah. Ein Bild des jungen Lord Duncannon ließ ihn erkennen, daß seiner Garderobe etwas mangelte, und er beschloß am nächsten Tag nach der Residenz zu fahren, um sie zu ergänzen.

Acht Tage später erschien er auf der Promenade nach der Kirche in einem kurzen auf Taille geschnittenen drapfarbenen Rock mit ganz schmalem Umlegekragen und an den Schultern keulenförmig geweiteten Ärmeln, einer gelben, mit schmalem, bräunlichem Ornament gleichsam punktierten Nankinghose; über der weit ausgeschnittenen Weste und der kunstreich geschlungenen hellen Kravatte sah sein Gesicht genau so frisiert und genau so unbeweglich wie das Lord Duncannons unter dem geschweiften grauen Zylinderhut hervor. Die linke Hand stak in der Seitentasche des Rocks, die rechte hielt ein Stöckchen mit dem gebogenen Griff nach vorn und abwärts. So schritt er über das Pflaster, als ahnte er das Aufsehen nicht, das er erregte. Die Bürgermeisterin sah ihn nicht ohne Wohlgefallen und Annette hing sich in den ihr gebotenen Arm.

Dann trat er ins Kaffeehaus, um die Stunde bis zum Mittagessen beim Billard zu verbringen, und noch im Hochgefühl des Eindrucks, den er gemacht hatte, schlug er den Hauptmann Scherer in zwei Partien, was ihm sonst nicht leicht gelang. Mißmutig setzte der Hauptmann sich an einen Tisch und bestellte ein Glas Kirschwasser, während Pohl mit einem jungen Mann eine neue Partie begann. Da er, während der andere spielte, auf seinen Billardstock gestützt, durchs Fenster sah, ging Frau Sommer im lichten Kleid, das runde Hütchen ums Gesicht, ihr Strickbeutelchen am Arm, draußen vorüber, und da Othmar, obwohl er schon wieder an der Reihe war, immer noch auf die Straße hinaussah, und die andern lachend fragten, nach wem er sähe, antwortete er, wie man bisweilen völlig vergißt, vor wem man spricht: »Nach der Sommer, der Hetäre aus der Waldstraße.«

Des Hauptmanns rotes Gesicht wurde dunkelbraun, und während Othmar ahnungslos an dem kleinen Tischchen, an dem er saß, vorüber um die Ecke des Billardtisches ging und sich zum Stoß anschickte, griff er nach ihm, bekam aber nur den Rockschoß zu fassen, und wie Othmar sich weit hinüberbeugte, um dem elfenbeinernen Ball einen kräftigen verkürzten Stoß von oben zu geben, riß unter der Bewegung das kostbare drapfarbene Tuch erst in der Naht, dann im Stoff, so daß alle es reißen hörten; der Hauptmann aber, da er die üppige nankinggelbe Rundung, die er enthüllt hatte, vor sich sah, schlug klatschend zu, während der Stoß vom Ball abglitt und in das Billardtuch fuhr, das gleichfalls einen Riß bekam.

Rasend kehrte Othmar sich um. »Herr!« schrie er, den herunterhängenden Rockschoß mit der linken Hand aufnehmend.

»Bube!« rief der Hauptmann, »knie nieder und widerrufe!«

Schon waren Leute zwischen sie getreten; die meisten hielten es für einen Streit über das Spiel, und während die hübsche Kellnerin Nadel und Faden brachte, um den Schaden notdürftig gutzumachen, während die einen lachten und andere schrien, wurde rasch von den nächsten eine Begegnung verabredet und allen tiefstes Stillschweigen auferlegt.

Sie trafen sich noch am selben Tag in einer Lichtung im Walde, und da kein Teil den Sanitätsrat angehen wollte, so hatten sie nur den Bader aus der Rosengasse mitgenommen, den sie schon ziemlich angeheitert in einer Wirtschaft gefunden hatten.

Der Hauptmann war trotz seiner fünfundfünfzig Jahre ein gefährlicher Fechter, während Othmars schöne Bewegungen etwas langsam waren. Anspringend kam der wilde kleine Herr ihm so nahe, daß er ihm den Säbel über den Magen schlug, und wenn auch nur die flache Klinge, so hatte es doch peinliche und lächerliche Folgen. Der Bader, der dem jungen Mann den Kopf hielt, sagte grinsend, auf Blessuren solcher Art sei er nicht gefaßt gewesen. Mit blassem Gesicht trat Othmar wieder an; er kam kaum mehr zur Parade, der Hauptmann schlug sie glatt durch, und blutüberströmt brach er zusammen.

Bestürzt standen die unerfahrenen Sekundanten; der Bader begann unsicher an ihm herumzupfuschen, schließlich stieß der Hauptmann ihn beiseite und machte selbst einen Notverband; dann trugen sie den Ohnmächtigen vorsichtig vom Platz. Kaum auf der Straße angekommen, sahen sie die Braunen des Sanitätsrats herantraben, der mit Verwunderung ihren Zug sah und halten ließ. Scherer rief ihn an, der Sanitätsrat stieg aus, und Othmar, der nur wirr um sich blickte, wurde in den Wagen gelegt und nach dem nahen Forsthause gebracht, wo der Sanitätsrat, nachdem er alles Nötige gefordert, sich mit ihm und dem Feldscher einschloß.

Der Hauptmann saß indessen mit dem Forstmeister bei dessen berühmtem und sonst sorgfältig verschlossenen Kirsch und leerte ein Glas nach dem andern. Endlich öffnete der Sanitätsrat die Tür; der Verwundete lag mit entblößtem Oberkörper, den Kopf verbunden und die Haare von Blut gereinigt, auf dem Bette und schlief. Er sah wie eine antike Statue aus.

»Wie schade, daß in dieser schönen Hülle so gar keine Seele lebt,« sagte der Sanitätsrat, »aber Gefahr scheint zunächst nicht vorhanden.«

Er wünschte nun auch den Anlaß zu kennen und bemerkte, daß er grundsätzlich gegen das Duellwesen sei, aber sein Gesicht wurde noch starrer, als es sonst werden konnte, da der Hauptmann ihn auf diese Frage scharf ansah, das Glas, das er eben zum Munde erhoben hatte, hinstellte und »Es handelte sich um eine Dame!« sagte. Danach stand er auf, trank sein Glas aus, setzte es heftig auf den Tisch und ging.

Der Sanitätsrat aber blieb stehen und sah vor sich hin.

Als Frau Sommer zwei Tage später in die Apotheke kam, hörte sie den Provisor zu einem andern Kunden sagen: »Er wird sterben. – So jung!« Als die Männer sie bemerkten, verstummten beide und starrten sie an, dann gab ihr der Provisor die verlangten Tropfen mit frostiger Unhöflichkeit. Sie trat wieder auf die Straße, da sah sie in einem Fenster einen alten Mann, der seine Pfeife rauchte und sie jetzt aus dem Munde nahm und damit nach ihr wies. Eine Frau kam ans Fenster, sagte etwas und sah ihr nach. Aus den Läden traten Frauen und blieben stehen, da sie vorüberkam. Zu Hause erfuhr sie von ihrer Magd, wovon die ganze Stadt sprach. Als sie wieder allein war, lachte sie auf, mußte aber sogleich Tränen abtrocknen; dann schrieb sie mehrere Briefe an den Hauptmann, die sie alle wieder zerriß. Es schien ihr richtiger, auf seine Erklärungen zu warten.

Indessen fuhr der Sanitätsrat täglich nach dem Forsthaus und täglich schickte der Hauptmann seinen Diener, sich nach Othmars Befinden zu erkundigen. Wenn er in den Barbierladen oder ins Kaffeehaus trat, öffnete und schloß man die Türe für ihn, nahm ihm Hut und Stock mit doppelt beflissener Höflichkeit ab; die jungen Leute machten ihm nicht ohne Ehrfurcht Platz.

Für Mittwoch Abend war er vom Domänendirektor eingeladen. Durch ein leeres halbdunkles Zimmer kommend, während im zweiten die Gesellschaft versammelt war, hörte er eine hohe, schrille Frauenstimme Worte sprechen, die ihm das Blut wieder zu Kopf steigen ließen.

»Ihr Vater, der Kapellmeister,« sagte die Stimme, »hat sie an den Erbprinzen verkauft; der hat sie an den alten Sommer verheiratet, und dem ist sie wieder davongelaufen ...« Sie verstummte, als er eintrat; es wurde so still im Zimmer, daß man die große Standuhr auf dem Spiegeltisch ticken hörte; und der Hauptmann sah unwillkürlich auf die Uhr und die Porzellangruppe an ihrem Fuß, eine Nymphe, die einem Flötenspieler lauschte. Dann erst bemerkte er auf dem geblümten Sofa die Bürgermeisterin, die ihn mit großen kampfbereiten Augen ansah. Neben ihr die Högerlein hielt die ihren gesenkt; ihre Nadel ging stechend weiter, während ihre Zunge schwieg. Der Domänendirektor schob, den Hauptmann mit beiden Händen begrüßend, seine mächtige Gestalt wie eine Mauer dazwischen und suchte ihn nach einem der Tische im Nebenzimmer zu leiten, auf dem Flaschen und Gläser bereitstanden. Aber der Hauptmann in seinem Grolle sträubte sich, dabei stieß er an den Spiegeltisch, und da er seine Hand heftig befreite, schlug er mit dem Ellenbogen gegen die Uhr, die herabstürzte und in Stücke brach.

Eben trat der Sanitätsrat ein und sah alle um die Scherben versammelt. Das rosig überhauchte Köpfchen der Nymphe lag auf dem Tisch und erinnerte beide Männer irgendwie an ein anderes, das sie kannten; der Flötenspieler war unverletzt geblieben; er saß allein und spielte ins Leere.

Dann kam das Dienstmädchen mit Schaufel und Besen und trug die Stücke fort.

Vergeblich suchten alle nach einem Gespräch. Der Sanitätsrat begrüßte die Bürgermeisterin: »Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß Ihr Neffe außer Gefahr ist«, aber ihm selbst schien die Mitteilung jetzt und hier nicht am Platze zu sein. Sie wurde ihm auch nicht warm gedankt, und er ging weiter. In einem winzigen Eckzimmer standen drei junge Mädchen unter der Lampe; von kleinen Töpfen und Brettern fiel zartes Grün in Rankengewinde und Blättchen herab und umrahmte Annettens hübsches Gesicht. Sie redete.

»Das hat sie schon vor vielen Jahren auf dem Schloß gelernt,« erklärte sie, »sie ist eine alte Schauspielerin; überhaupt, wenn man so alt ist ...« Sie wand sich wie ein Schlänglein, das gestochen hat und gefaßt wird; denn in der Türe sah sie das Gesicht des Sanitätsrats, der schöner und strenger aussah als je; ihre Wangen wurden blutrot; dennoch mußte sie lächeln.

Aber der Sanitätsrat sah sie mit funkelnden Augen an: »Sie scheint ein böses Kind geworden, Annette!« sagte er und wandte sich ab. Da traten Tränen in ihre Augen.

Das Gespräch kam nicht in Gang, bis der Hauptmann und der Sanitätsrat wieder verschwanden, jeder für sich, wie sie gekommen waren. Dann ward es um so lebhafter. Nie hatte man die Bürgermeisterin so zornig gesehen. Noch auf dem Heimweg in den dunkeln Gassen, ohne des zu achten, daß sowohl Annette als der Bediente, der mit der Laterne vorausging, sie hören mußten, rief sie: »Ich habe dir's immer gesagt, Pohl! Kluge ist ein Narr!«

»Er fährt ja schon lange nicht mehr zu ihr ...«, erwiderte ihr Gatte. Aber er kam nicht zu Ende.

»Sie haben nie ein wahreres Wort gesprochen, Frau Bürgermeisterin!« sprach eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit, »Sie sind eine böse Zunge, aber eine gescheite Person!« Und da der Diener die Laterne hob, beleuchtete er das rote Gesicht und die weißen Haare des Hauptmanns, der mit höflich gezogenem Hut vorbeischritt, während die Bürgermeisterin ihm mit großen zornigen Augen nachsah und Mann und Tochter und Diener ausschalt, die sie solchen Insulten aussetzten.

Am andern Tage bestellte der Diener des Hauptmanns für seinen Herrn einen Platz auf der Post, und zwei Stunden später sah man ihn hinter dem Postillon sitzend und seine Pfeife rauchend zum oberen Tor hinausfahren. Er kam erst Sonnabends spät zurück, und so war Herr Antonius der einzige, der an diesem Abend bei Frau Sommer erschien, und er wußte ihr wenig zu sagen, denn er hatte die ganze Woche außerhalb der Stadt zu tun gehabt und weder den Hauptmann noch den Sanitätsrat gesprochen. Ein wenig verloren saß er ihr gegenüber und wollte zuletzt seine Flöte hervornehmen, aber sie wehrte ihm. »Sie sind der letzte, der zu mir kommt, Antonius,« sagte Frau Sommer, »und Ihnen will ich darum etwas sagen. Ich gehe von hier fort.« Er machte eine Bewegung. »Ich muß von hier fort. Ich kann hier nicht länger leben.«

Beide schwiegen; der stille Mann sah sich in dem Zimmer um, in dem er im letzten Jahr die wohligsten Stunden seines Lebens verbracht hatte. Da blieb sein Blick auf dem Tischchen haften, auf dem die Miniatur Frau Sommers stand: neben ihr lag die silberne Dose, die der Sanitätsrat an jenem Abend in der Hand gehabt; das Porträt war herausgenommen und stand an ein Kästchen gelehnt im vollen Licht; in den zarten und glänzenden Farben auf dem Porzellan sah das Gesicht des verstorbenen Erbprinzen mit einem spöttisch überlegenen Lächeln herüber.

Frau Sommer folgte den Blicken ihres Besuchers.

»In der Hölle, in der ich aufwuchs,« sagte sie langsam, »war ein Mann, der sonst vielleicht nicht der beste war, gut zu mir. Und darum bleibt sein Bild bei meinen Erinnerungen. – – An meinem zwanzigsten Geburtstag ward ich dann verheiratet und kam in eine andere Hölle, aus der ich Jahre später wieder an meinem Geburtstag entfloh. Dann kam ich hierher. Nun ist auch das vorüber. Ich sagte es Ihnen: die guten Menschen sind schlimmer als die bösen!«

Viele Gedanken waren in Herrn Antonius' Kopf und seine Seele war bewegt, aber er saß hilflos. In dieser verwirrten Welt konnte man gerade noch den eignen Weg mit einiger Sicherheit gehen.

»Wenn ich Ihnen irgendeinen Dienst erweisen kann ...«, sagte er endlich. Aber es lag viel mehr in diesen Worten.

»Ja, Antonius,« sagte sie, ihn freundlich ansehend, »wenn Sie mir für Dienstag Plätze auf der Post bestellen, und wenn Sie mich dann zum Wagen begleiten wollen ... wenn Sie wollen, Sie müssen keineswegs ...,« er machte eine beteuernde Bewegung, »und dem Hauptmann nachher diesen Brief übergeben ...«

Er versprach alles.

»So, und jetzt müssen Sie gehen,« sagte sie, »ich habe noch viel zu tun.«

Als er fort war, setzte sie sich an den Schreibtisch und rechnete und schrieb. Aber oft ging sie ans Fenster und stand dort lange und lauschte auf Schritte, die nicht kamen, und von denen sie wußte, daß sie nicht kommen würden. Die Nacht wurde einsamer und stiller, und ihre Gedanken erregter; mit sich selber sprechend und klagend, ging sie auf und nieder, bis das Mädchen, das schon geschlafen hatte, aufstand und sie bewog ihre Tropfen zu nehmen, und sie zu Bett brachte. Sie schlief aber nicht, und am nächsten Morgen begann sie, obwohl übernächtigt und müde, ihre Schränke auszuräumen und ihre Kleider durchzusehen, und hieß den Gärtner ihre Koffer vom Boden bringen und abstäuben.

Es war ein strahlender Morgen. Hoch oben im Wald stand Antonius seit Stunden am Bergbach mit der Wurfangel und löste eine schöne rotgefleckte Forelle nach der andern vorsichtig vom Haken und tat sie in das hölzerne wassergefüllte Gefäß neben ihm. Die Gräser leuchteten noch vom Tau; jetzt trat er über weiches Moos durch das Dickicht auf den Weg hinaus und sah den weißen Glast in der Ferne auf Feldern und Hügeln liegen. Die alte Stadt lag mit ihren engen krummen Straßen gerade unter ihm; rings um sie blitzte der Fluß; spiegelnd warfen die Fenster des Schlosses oben den Sonnenglanz zurück; zwischen den Häusern im Schatten der Gassen sah er kleine Wagen und noch kleinere Menschen gleichsam kriechen; aus der Domkirche hallte der ferne Orgelton zu ihm herauf, und jetzt rollte Glockenläuten von allen Türmen.

Unten auf dem Platz strömte die Menge aus der Kirche, noch beeindruckt und beschäftigt von den Worten des Propstes, der alle zur Sittenreinheit und zu friedfertigem Wesen gemahnt hatte. Hinter dem Bürgermeister und seiner Frau kam Othmar, einen schwarzen Streif auf der blassen Stirn, von seiner Cousine Annette liebevoll gestützt. Da sahen alle ein neues Schauspiel: vor dem Gasthof »Zur Sonne« stand die offene gelbe Kalesche des Wirts angeschirrt, aus dem Tor trat der Hauptmann in Uniform, im dunkelgrünen Rock mit roten Aufschlägen und silbernen Litzen, seine Orden an der Brust, den Degen an der Seite, eine Rose im Knopfloch; man sah ihn einsteigen, seinen Diener neben dem Kutscher Platz nehmen, und die Nächsten hörten ihn laut das Haus in der Waldstraße nennen. Eine Ahnung ergriff die Leute; der kleine Herr sah entschlossen vor sich hin, die beiden Schimmel zogen an ... Von der andern Seite fuhr der Wagen des Sanitätsrats über den Platz; der eine Schimmel wieherte den Braunen zu; die beiden Herren grüßten einander überrascht und höflich, dann waren beide Wagen in verschiedenen Straßen verschwunden.

Ganz unwillkürlich setzten die Leute, die ihren Vormittagsspaziergang sonst auf Markt und Graben beschränkten, ihn heute fast alle durch das Tor fort auf die grüne Waldstraße hinaus, und einige kamen so weit, daß sie den Wagen vor Frau Sommers Haus stehen sahen; aber sie und der Kutscher warteten lange, und da die Mittagszeit kam, gingen sie mit ungestillter Neugier nach Hause.

Als der Hauptmann endlich zurückfuhr, war ein merkwürdiges Leuchten in seinen Augen; er fuhr zum Sonnenhof, wo die Zimmer schon leer standen, und speiste allein; seinen Diener aber schickte er mit einem großen Blumenstrauß, den der Sonnenwirt auf seine Bitte im Garten für ihn hatte schneiden lassen, zu Frau Sommer.

Schon um vier Uhr hörte der Sanitätsrat, der auf einem Besuch weit draußen gewesen war und dessen Pferde staubbedeckt und müde durch die leeren Straßen trotteten, aus dem Garten eines Patienten, an dem er vorüberkam, von den eifrig darin Sprechenden angerufen, daß Frau Sommer dem Hauptmann ihr Jawort gegeben.

Er hob den strengen schönen Kopf einmal und senkte ihn wieder, sagte langsam: »Das ist ja recht schön und erfreulich«, und fuhr grüßend weiter, während alle ihm schweigend nachsahen.

Er aß nicht, er blieb auch nicht in seinem Hause; er ging in schweigender Qual durch die Waldwege; seine Gedanken jagten ohne Klarheit, aber bitter war ein jeder.

Er wußte nicht, wie lange, noch welche Wege er gegangen war; wo er Menschen kommen gesehen, war er ausgewichen, – als er sich plötzlich vor einem kleinen grünen Zaun befand, an dem der Weg endete; jenseits waren Büsche und Blumen; er erkannte, daß er unbewußt Flötentönen gefolgt war, die so leise und sanft erklangen, daß sie zur Stille des Sommernachmittags zu gehören schienen, dessen Ruhe überall war, nur nicht in ihm.

Er blieb gebannt stehen; die Töne fluteten voller; ihm war, er träumte; obwohl er genau wußte, daß er vor dem Häuschen des Vermessers stand. Oben im Rahmen des schmalen Holzfensters unter dem Weinlaub, das die Mauer bedeckte, saß Herr Antonius und blies; ihm gegenüber im Fenster saß seine alte Mutter, die mit ihm wohnte, und hörte zu; unten aber in dem kleinen Gärtchen saß an einem weißgedeckten Tisch im Grünen der Hauptmann auf seinen Arm gestützt und hörte zu; auf dem Tisch vor ihm stand eine Flasche und ein Glas und ein kleines elfenbeinernes Miniaturbild, das der Sanitätsrat kannte, und neben dem eine Rose lag. Im gleichen Augenblick sahen ihn die andern; Antonius verstummte; der Hauptmann stand langsam auf.

Da streckte der Sanitätsrat ihm über den Zaun die Hände entgegen und sagte: »Lieber Freund, ich beglückwünsche Sie. Sie haben tapfer getan, wozu ich zu kleinlich und zu vorurteilsvoll war.«

»Das ist alles recht schön und gut,« sagte der Hauptmann, »aber ich heirate Frau Sommer nicht.«

»Wie? ... warum? ...« stotterte der Sanitätsrat.

»Weil sie mir einen Korb gegeben hat.«

Der andere konnte ihn nur verwirrt ansehen.

»Weil sie nicht noch einmal ohne Liebe heiraten will. Ich habe ihr gesagt, daß bei dem Altersunterschied sie das Opfer bringt, und daß ich ihr's schuldig bin, weil ich sie neuerlich ins Gerede gebracht, und daß sie mir die Ehre erweist ... aber sie will nicht. Ihr Mann war ein wüster Schurke ... Er schreibt ihr jetzt noch Drohbriefe. Und nun zieht sie von hier fort ... Wenn ich Sie wäre ... aber die Bürgermeisterin hat recht: Sie sind ein Narr!«

Der Sanitätsrat war so blaß geworden, daß der Hauptmann das kleine Glas von seinem Tisch holte: »Der Forstmeister hat mir da eine Flasche von seinem Kirsch geschenkt. Wollen Sie?«

Aber Kluge dankte. Er drückte dem Hauptmann die Hand, und sie sahen nur seinen Rücken, wie er sich eilig entfernte.

»Anspannen, Emmerich!« rief er seinem feiertäglich vor der Stalltür rauchenden Kutscher zu.

»Die Braunen sind heute schon viel gegangen, Herr!« sagte der Kutscher.

»Heut müssen sie nochmals gehen.«

Der Wagen fuhr durch die dunkelnden Straßen, unbeachtet. Die Pferde trabten schnaubend und die Köpfe schüttelnd durch die Waldstraße. Auch der Kutscher schüttelte den Kopf.

Sie hielten. Der Sanitätsrat öffnete das Gartenpförtchen, als Frau Sommer eben aus dem Hause trat. Die späten Sommerrosen standen blaß in der Dämmerung. Er ging gerade auf sie zu: »Liebe Freundin,« sagte er, »wollen Sie meine Ungeschicklichkeit verzeihen?« Sie stieß ein leises »Ach« aus, dann lächelte sie, und er folgte ihr ins Haus.

Eine Stunde später standen sie auf dem Balkon. Sie standen schweigend und glücklich.

Im Zimmer hinter ihnen wurde die Tür geöffnet. »Madame Sommer!« rief das Mädchen, »soll ich die Forellen blau kochen?«

»Ja, ja«, sagte sie sich umwendend. »Ich hatte es ganz vergessen. Antonius hat mir Forellen geschickt. Wir wollen sie zusammen essen.«

Unten stampften die Pferde. »Fahr zur ›Schönen Hirtin‹, Emmerich«, rief der Sanitätsrat zur Stiege hinunter, »und hole mich dann ab, wie immer. – Kommen Sie, Cäcilie,« sagte er, »es wird kühl. Und sie müssen so müde sein!«

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