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Jean Bouche, der Lakai

Die lange Susanne hatte ihm gesagt, daß sie soweit wäre, und als Jean Bouche sich dumm stellte, hatte sie gedroht, sie werde mit dem Herrn reden. Der Pächter war ein strenger, gläubiger Mann: das hieß Kirche und Brautaltar; und für die Ehe mit der langen Susanne, die um sechs Jahre älter war als er, war er sich zu gut. Sonntag früh schnürte er sein Bündel, und Sonntag mittag, nach dem Essen, versteht sich, rückte er aus. Vor Montag früh würde man ihn nicht suchen, und dann konnte er schon beinahe in Nancy sein; dort war einer der Vorsteher der Schuhmacherzunft seiner Mutter Bruder.

Er lief schnell über die wohlbekannten Waldwege; erst nach drei Stunden wagte er sich auf die Landstraße; aber schon eine Stunde nach Mittag hatte es zu regnen begonnen und um die Vesperzeit war er so triefend naß, daß er sich unter einem überhängenden Felsen im Gestrüpp am Wegrand vor den strömenden Güssen barg. Seine Schuhe und Strümpfe hatte er längst ausgezogen und in sein Bündel getan. Als er eine Weile schauernd da gehockt, hörte er Hufschläge hallen durch den plätschernden Regen; von der Seite der Straße, die er übersehen konnte, kamen zwei Reiter; der eine, der offenbar der Herr war, ritt voran, der andere folgte; beide waren tief in ihre Mäntel gehüllt und ritten schweigend. Die Landstraße lief hier durch einen Sattel zwischen steinigen Waldhügeln. Gerade vor ihm hielt der eine Reiter an, sagte zu dem Diener, der sein Tier gleichfalls zurückhielt, ein paar Worte, die der Junge im Gestrüpp nicht hören konnte, ritt dann die Straße ein wenig weiter hinauf, kehrte um, kam wieder zur gleichen Stelle zurück, und hieß den Diener ihm den Steigbügel richten. Jean Bouche sah, wie der Diener abstieg, den Riemen aufschnallte, zum Herrn aufsah, um nach dem richtigen Loch zu fragen, und sich wieder zuzuschnallen bemühte; und wie der Herr indessen eine Reiterpistole hervorzog, sie dem Gebückten fast an die Stirn hielt und losdrückte.

Es gab einen kurzen scharfen Knall, und der Getroffene stürzte ohne einen Laut mit ausgebreiteten Armen zur Erde. Der Herr stieg ab, beugte sich über den Gefallenen und durchsuchte seine Taschen; dann stieg er wieder auf, faßte nach dem Zaum des ledigen Rosses und ritt davon.

Starr vor Schrecken hatte Jean Bouche zugesehen und kaum zu atmen gewagt. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als er sich, an allen Gliedern zitternd, auf die Straße hinauswagte und den Toten betrachtete, der durchnäßt im Kote lag. Es war ein blonder, kräftiger, junger Mensch, der nicht viel über die zwanzig hinaus sein konnte. Als er ihn eine Weile mit Schrecken und Neugier angesehen, bemerkte er auf der Erde, von dem Leibrock des Toten halbversteckt, etwas Weißes, wie ein Knöchlein, das näher besehen sich als ein beinernes Büchslein erwies, ein wertloses Ding wie es schien, aber von niedlicher Arbeit. Er nahm es an sich. Was ihn dazu trieb, wußte er kaum. Da kam ihm wie Todesschreck der Gedanke, daß Leute kommen, und ihn bei dem Toten finden, ihn für den Mörder halten könnten; er sprang wie verrückt in den Wald zurück, ergriff sein Bündel und lief davon.

Zwei Tage später kam er todmüde und zerrissen in Nancy an. Sein Oheim zeigte keine übermäßige Freude, ihn zu sehen, noch weniger Lust, ihn zu behalten. Jean Bouche bat, ihm nur solange Herberge zu geben, bis er Arbeit gefunden; inzwischen tat er, was man ihn hieß und redete nicht viel. Am dritten Tag kam der Schuster nach Haus und sagte, im Gasthaus zum goldenen Blumenkorbe wohne ein vornehmer Herr, der ihn auf die Empfehlung des Wirtes zum Lakaien nehmen wolle; die Livree würde er bekommen und hundert Silberstücke im Jahr; er könne die Stelle annehmen und Gott für sein Glück danken; er könne sie auch nicht annehmen; aber in jedem Falle wollten sie heute abend seinen Abschied feiern.

Jean Bouche folgte dem Oheim zu dem Gastwirt, der ihm einen Taler als Handgeld gab. Am anderen Morgen durfte er bereits die Stiefel seines neuen Herrn reinigen, dann nahm ihn der Wirt auf dessen Stube. Der gnädige Herr lag noch im Bett und wurde gerade vom Barbier eingeseift; er schob den Barbier ein wenig zur Seite, sah Jean Bouche flüchtig an, fragte ihn, wie er heiße und woher er sei, und sagte dann kurz: »Wenn du brav und treu bist, wird es dir bei mir gut gehen; wenn nicht, nicht!« und entließ ihn.

Noch am selben Nachmittag brachen sie auf, und da, als er seinen neuen Herrn in Mantel und Federhut zu Pferde sitzen sah, da erst erkannte er ihn sowie die beiden Rosse wieder; es war der Mann, der seinen Diener im Walde erschossen hatte, und er selbst saß auf dem Pferde des Toten.

Er fühlte es wie im Fieber, und der Schweiß trat ihm aus die Stirne: »Bei nächster Gelegenheit laufe ich davon!« war sein erster Gedanke, »Schlimme Sache, einem so großen Herrn davonlaufen«, der zweite, »zu Fuß komme ich nicht weit, und nehm' ich das Pferd mit, bis an den Galgen; da bin ich schön aus dem Regen in die Traufe gekommen; aus dem Ehebett der langen Susanne in den Dienst dieses Exkommunizierten!«

Das Rößlein ging sachte unter ihm, aber der Himmel und Wald und Wiesen waren so klein und undeutlich geworden, wie auf einem der alten Heiligenbildchen, die an den Bäumen hingen; so schwammen seine Augen. Bis ihn auf einmal der Gedanke tröstete, daß ja er den Herrn in der Hand hatte, von dem er ein so greuliches Geheimnis wüßte. Der Gedanke machte ihn beinahe lachen, hinderte aber nicht, daß er bei jedem Befehl des andern zusammenschrak, und hätte jener ihn etwa absteigen und die Bügel richten geheißen, so wäre er vor Entsetzen hingefallen.

Sein Herr sprach wenig und rauh, schien aber sonst nicht unmenschlich zu sein. Wundern mußte er sich nur, daß ein so großer Herr, der Pair und Marschall von Frankreich war, mit einem einzigen Diener und in so geringem Aufzug reiste, und auch seine Ration, sowie die der Pferde in den Gasthöfen wurden ihm zwar gerade ausreichend, aber sehr genau zugemessen.

Sie hatten das lothringische Doppelkreuz schon lange hinter sich, als sie in einer kleinen Stadt vor einem alten Schlosse Halt machten. Die Straße war eng und schlecht gepflastert, das Tor verwittert; nur zwei magere Pferde standen noch im Stall, und eine wackelige alte Karosse in dem weiten Gewölbe daneben. Auch der Kutscher war wacklig und alt; der Koch hatte nur einen Küchenjungen; zwei schmutzige schwarzhaarige Mägde liefen zerrissen und barfüßig durch Küche und Haus ... aber oben im Saal saß eine wunderschön geputzte Dame, und wenn sie auch nicht mehr ganz jung war und eine gewisse Fülle erreicht hatte, so hatte sie doch den weißesten Busen, den Jean Bouche sich denken konnte, und den sie auch reichlich zeigte.

Sie saß in einem hohen Sammetsessel, hinter ihrem runden Rücken war auf dem verschlissenen und zerrissenen Stoff ein goldgesticktes Wappen sichtbar; und hinter dem Stuhl stand ihre Kammerfrau mit einer großen weißen Halskrause; von den beringten Ohren hing je ein schwarzes Haarsträhnchen herab, und sie lächelte dem neuen Burschen zu, als er der Frau Marschallin den Saum ihres Kleides küßte; ihre Augen schielten und ihr Mund verzog sich süßlich beim Lächeln, was Jean Bouche nicht gefiel.

»Wo haben Sie denn Gaspard gelassen?« fragte die Marschallin ihren Gatten, der am Fenster stand und pfiff.

»Vor Nancy hab ich ihn auf einen Botengang geschickt und er ist nicht wiedergekommen; ob er entlaufen oder ob ihm etwas zugestoßen ist, hab' ich nicht erfahren können.«

Jean Bouche zitterte am ganzen Leibe. – »Was hat der Bursch?«

»Ich habe einen Schatten gesehen!« stammelte er.

Der Marschall, dessen rotes Gesicht nicht einmal röter wurde, griff nach seiner Hundepeitsche: »Ich werde dich lehren, hier Schatten sehen ...« begann er.

Jean Bouche sprang rund um den Tisch und blieb erst auf der Treppe, eine Stufe tiefer, als der Saal war, stehen, indem er sich mit der Hand am Türpfeiler hielt und zurücklugte. Der Marschall hatte einen gichtigen Fuß. Die Marschallin lachte; es war ein trillerndes kokettes Lachen, das kindlich und doch heiser klang. »Sehr behende!« sagte sie.

So begann Jean Bouche seinen Dienst bei dem Herrn Marschall von Saint-Nazaire. Er sah wohl, daß sein Herr nicht im Golde schwamm, und er hörte bald, daß er beim König in Ungnade gefallen war. Zur Livree erhielt er nichts als einen alten blauen Rock mit großen Fettflecken; der Küchenjunge lief bloßfüßig über die Fliesen. Die Schüsseln waren verbeult, das Brot spärlich und der Wein schlecht; nur am Braten fehlte es nie, weil der Marschall selber zur Jagd ritt. Wenn die Herzogin im Wagen ausfuhr, wußte man nie, wo er stecken bleiben würde, weil die Pferde nicht weiter konnten; Hafer bekamen sie nie. Das hinderte nicht, daß alles den Hut bis auf die Erde zog, wenn der Herr Marschall mit seinen Wolfshunden vorüberschritt, und daß Jean Bouche selbst jeden unsanft beiseite stieß, wenn er dem Herrn Marschall voranleuchtete und einer ihm in den Weg kam. Manchmal aber gab es plötzlich reichere Schüsseln und bessere Weine, die Herzogin trug ein neues Seidenkleid, und allabendlich kamen vollblütige Herren und geschminkte Damen aus der Stadt; sie saßen bis zum Morgengrauen beim Kartenspiel, unter Lärm und Lachen; erst wenn unten die ersten Händler Milch oder Wasser auszurufen begannen, wurden die gähnenden Lakaien der Gäste geweckt und leuchteten ihnen durch die finsteren Gassen nach Hause.

Des Tags gingen allerlei Leute die schadhaften Treppen auf und ab und bisweilen erhob sich im Zimmer des Marschalls ein fürchterliches Lärmen, und irgend jemand flog heraus und fand sich und seine Perücke am Fuße der Treppe wieder. Auch des Nachts hörte Jean Bouche Türen öffnen und schließen, nie aber ward er gerufen, mit der Laterne einem der späten Gäste zu leuchten. Einmal hörte er gegen Mitternacht an der Hinterpforte des Hauses lange klopfen und leise rufen; da eilte er hinab und öffnete: der Eintretende, ein junger Edelmann, der ganz in seinen Mantel gewickelt war, drückte ihm ein schweres Goldstück in die Hand. »Ei!« dachte Jean Bouche und suchte von nun an zur Stelle zu sein, wenn er um diese Zeit jemanden kommen hörte, und leuchtete dem Herrn beflissen die Treppe hinauf.

Als er dies zum zweiten Male tat, begegnete er der schielenden Kammerfrau, die eine Waschschüssel über den Gang trug, und deren Augen noch weiter auseinander starrten, als sie ihn erblickten. »Ist denn das nicht ...?« hörte er den Fremden fragen – da war er auch schon oben in seiner Schlafstätte.

Am folgenden Tag rief ihn die Kammerfrau in ihr Zimmer und sagte ihm, er sei ein kluger und gewandter Bursche; der Herr von gestern schicke ihm noch ein Goldstück, das möge er auf seinen Mund legen; dann werde es ihm nicht schwer fallen, ihn geschlossen zu halten.

Den Mund wußte er zu halten, aber seine Neugier nicht; und so schlich er in Strümpfen auf und ab und zeigte sich dienstbeflissen, bis er entdeckt hatte, daß, wenn bei Tags die Leute in allerlei Geschäften, die er nicht begriff, zum Herrn Marschall kamen, dann kamen sie des Nachts, auch in allerlei Geschäften, zur Frau Marschallin.

Jean Bouche, der nun schon so viel wußte, wußte auch zu schweigen, wenn's ihm auch immer weniger geheuer wurde. Daß man ihm dieses Schweigen anrechnete, das merkte er daran, daß er mehr als früher zum Dienst der gnädigen Frau befohlen wurde. Er mußte die Kohlen anblasen, mußte Limonade bringen oder Wein; bald durfte er auch die Puderschachteln und Schminktöpfchen halten, wenn Nanon, die Kammerfrau, ihre Herrin frisierte; ja er durfte selber der gnädigen Frau die Schuhe aufschnüren, und in kurzen Wochen stieg das Vertrauen der gnädigen Frau zu ihm so sehr, daß er kommen durfte, wenn sie kaum dem Bett entstiegen war, und bleiben, beinahe bis sie sich wieder in die Kissen legte; und er bewunderte reife Reize.

Als die Dame einmal einen seiner bewundernden Blicke bemerkte – oder hatte Nanon sie darauf aufmerksam gemacht – da lachte sie nur und fragte, ob sie ihm gefiele? Er wurde rot und stammelte irgendeine überschwengliche Antwort; da lachten beide Frauen lustig über ihn, und die Herzogin fand, daß er ein hübscher Junge sei, und so kam es dahin, daß er bald länger bleiben oder früher kommen durfte und daß der Liebhaber, der der langen Susanne entlaufen war, im Bette einer Herzogin lag.

Kaum aber sah er sich so in Seide und Üppigkeit gebettet, als er das mißliche der Sache zu fühlen bekam. Daß er im Hemde über kalte Steingänge flüchten mußte, wenn unten Hufschläge auf dem Pflaster schollen und der Marschall von nächtlicher Jagd heimkehrte oder sonst ein verdächtiges Geräusch hörbar wurde, das begriff er; derlei Fluchterlebnisse waren ihm nichts Neues. Aber daß er in dem Augenblick vom Liebhaber wieder zum Lakaien herabsank, in dem er aus dem wappengeschmückten Bette stieg, daß er unter Tags um gar nichts besser behandelt oder angesehen wurde als vorher, das fraß ihm am Herzen, obschon er selbst sich auch durchaus nicht anders zu benehmen wagte. Und eines Morgens sagte Nanon ihm auf dem Gange im Vorübergehen, daß er für den Dienst der gnädigen Frau augenblicklich nicht benötigt werde, da die kleine Tiennette, ihr Patenkind, jetzt dazu da sei. Schlaflos, in dem kalten Bretterverschlag unter dem Dach, in dem er gebettet war, wo auf dem Fußboden ein zerbrochenes Waschbecken und ein alter Talgleuchter standen, während neben ihm Jacquot, der bloßfüßige Küchenjunge, im tiefsten Schlafe lag, hörte er unten die Türe gehen. Im Augenblick war er aus dem Bette und auf dem Treppenabsatz. Ein Licht glitt die Stufen herauf, das ihn und alles andre in noch undurchdringlicherem Dunkel ließ. Nanon war es, die das Licht trug und einem breiten, untersetzten Mann, der beim Treppensteigen heftig schnob, beständig »St, st« zuflüsterte. Obwohl auch er den Mantelkragen mit breiter Hand halb vors Gesicht hielt, erkannte Jean Bouche doch den Seidenhändler Béchameil, zu dem er am selben Tag mit der Botschaft geschickt worden war: »die Pachtzeit laufe ab, er möge sie erneuern kommen.«

Am andern Morgen trug er ungeheißen die Kohlen in das Schlafzimmer der Herzogin, die kaum bekleidet vor dem Spiegel saß, stellte den Eimer hin und überhäufte sie mit Vorwürfen. Die Herzogin, ohne ihm auch nur einen Blick zu schenken, rief: »Nanon, schaff mir den Burschen hinaus!« Da warf er sich vor ihr nieder, bat sie um Verzeihung, schwor ihr, daß er vor Sehnsucht und Liebe vergehe und vor Eifersucht sterbe, küßte ihr die Füße und bat sie weinend, ihn nicht sterben zu lassen. Weniger von seinen Tränen, als von seiner frischen Jugend gerührt, streichelte sie seine Wangen, nannte ihn ein dummes Kind, und versprach ihm die Erfüllung seiner Wünsche, »falls er sich hinfort bescheiden und ehrfürchtig betragen würde«, und dankbar küßte er ihr die weichen Hände, die wie kleine Seidenpolster waren.

Auf dem Steingang tönten hallende Sporenschritte, und Jean Bouche sprang in jener Angst empor, die ihn meist überfiel, wenn sein Herr sich unversehens näherte. »In den Alkoven, hinter den Vorhang, schnell!« flüsterte seine Herrin ihm zu, und auf den Zehenspitzen schleichend verschwand er hinter den schweren Falten ihres Bettvorhangs. Der Marschall, der sehr übler Laune zu sein schien, begann sogleich mit seiner Frau über Geldangelegenheiten zu streiten; sie stritten lange, und Jean Bouche, dem das Stehen hinter dem Vorhang unbequem ward, ließ sich sachte auf die Kissen des Bettes nieder; er fühlte, daß er auf etwas Hartes zu sitzen kam, und vorsichtig greifend, fand er, daß ein Beutel mit Goldstücken im Bette versteckt lag. Da ging ihm ein Licht auf, da er des Besuchers der eben vergangenen Nacht gedachte, der gekommen war, »die Pacht zu erneuern«; und darüber begann er weiter zu denken und nachzurechnen, indem er die Nächte, in denen er die Hinterpforte gehen und vermummte Besucher die Treppe hatte hinaufschleichen hören, mit den guten Zeiten der Tafel und des Hauses verglich. Im Zimmer war es indessen still geworden, er hörte nur das Knistern von Papieren, in denen geblättert wurde und das leichte Geräusch unwillkürlicher Bewegungen. Er schob die Falten des Vorhangs zwischen beiden Händen ein wenig auseinander und spähte mit seinen vorwitzigen Augen durch den Spalt, konnte jedoch das Paar nicht erblicken, weil sie sich in einem Teil des Gemachs befanden, der vom Alkoven aus nicht sichtbar war. Statt dessen fielen seine Blicke auf einen kleinen mit grauer Seide gefütterten Schrein, in dem sich allerlei zierliche aus Bein geschnitzte Sächlein befanden, wie Frauen sie zur Handarbeit und zu andern Dingen benötigen, und darunter genau das gleiche Büchslein, wie das des Toten, das er noch immer in seinem Bündel verwahrte; er entdeckte auch eine leere Vertiefung in der Seide an der Stelle, wo das andere Büchslein fehlte. Als seine Augen dies sahen, da ging in seiner Seele ein zweites Licht auf, das längst darin hätte aufflackern können, wenn er klüger gewesen wäre: er wußte plötzlich, warum sein Herr jenen Gaspard an der einsamen Stelle im Walde erschossen hatte, und mit einem Schrecken, der ihm durch alle Glieder fuhr, erkannte er, daß er genau in der gleichen Falle stak wie jener und genau die gleiche Tat begangen hatte, um derentwillen er bleich und blutig im Straßenkot gelegen hatte.

Die Zähne schlugen ihm im Munde bei diesem Gedanken, und die Knie schlotterten ihm; er wußte, im nächsten Augenblick würde er entdeckt und erschlagen werden; in seiner Todesangst wollte er schon selber hervorspringen und sich dem Marschall zu Füßen werfen, als das Gespräch im Zimmer wieder laut und heftig wurde. Er hörte, wie der Marschall seine Frau eine Hure, ein liederliches verschwenderisches Weibsbild nannte, und ihr nicht nur ihr eigenes Verhalten, sondern auch das ihrer Schwester, ihrer Mutter, ihres Vaters, das ihrer Vettern und Tanten, und als schlimmstes immer wieder ihr eigenes vorhielt, während sie ihm die Antwort nicht schuldig blieb, und ihm alle seine verlorenen Schlachten, seine miserabeln Dienste auszählte, und wie er den Marschallstab nur bekommen, weil er sie geheiratet und einem ihrer Vettern einen nicht näher zu nennenden Teil seiner Person geküßt hätte, den sie übrigens mit ungeschminktem Wort zu nennen nicht zögerte; einen schäbigen Lumpen nannte sie ihn, der ihr nicht genug zu essen und nicht Kleider zum Anziehen geben könnte, so daß sie im Hemde gehen müßte, – wie sie ja tatsächlich im Hemde da saß, – einen Feigling und Dummkopf, dessen jeder lache ... und für diese und ähnliche Worte, die sie ihm sagte, bekam sie reichlich Ohrfeigen und Faustschläge, bis sie vor Wut und Schmerz jämmerlich schrie. Endlich schritt der Marschall fluchend und pfeifend hinaus; Jean Beuche lugte um die Ecke und sah die Herzogin übel zugerichtet, mit zerbläuten Schultern und dunklen Flecken im Gesicht dasitzen; die schielende Nanon war eingetreten und legte ihrer Herrin nasse Tücher um, jammerte und schimpfte mit ihr und wollte sie zu Bett bringen. Da fanden sie den vor Angst halbtoten Jean Bouche, der sie mit Grauen anstarrte. Die Herzogin gab ihm sogleich eine der Ohrfeigen zurück, die sie bekommen hatte und hieß in sich hinaustrollen; Nanon übergoß ihn mit einem Kruge kalten Wassers und warf ihm noch die Brennschere nach.

Grauen und Wut im Herzen eilte er in seine Kammer, öffnete sein Bündel und suchte das beinerne Büchschen hervor, das er unter dem Toten bei Nancy gefunden hatte und das in dem grauseidenen Schrein unten fehlte. Als er es genug beäugelt hatte, lief er durch drei oder vier Gassen zu dem kurzsichtigen alten Schreiber Quicquetot, der hinter der Kapitelkirche im ersten Stock am Fenster saß, und der ihm für ein paar Kupfermünzen die Worte: »Der galante Gaspard seiner Dame« auf einen Papierzettel schrieb. Der Schreiber stellte allerlei Fragen nach dem Grund und Zweck der Schrift, aber Jean Bouche gab ihm so dumme Antworten, daß jener auch nicht klug daraus wurde. Neugierig ließ er sich die einzelnen Worte zeigen und vorbuchstabieren und zu Hause machte er hinter dem Namen Gaspard ein dunkles Kreuz. Dann tat er den Zettel in das Büchschen, das er an seinen richtigen Platz zu bringen gedachte. Aber so oft er sich ungesehen in das Zimmer schlich, das er früher bei Tag und Nacht so oft betreten hatte, überfiel ihn ein Zittern, so daß er sich nicht bis in den Alkoven wagte, sondern von einem Schreck gejagt wieder aus dem Zimmer lief. Nun dachte er das Büchschen im Speisesaal seiner Herrin auf den Teller zu legen; fand aber auch dazu nicht den Mut, und als er sich endlich entschlossen hatte, es einfach auf dem Fußboden des Saales aufzustellen, so daß es seltsam und unvermutet allen sichtbar werden mußte, da griff er umsonst in seine Taschen: ob er es auf der Straße oder im Hause verloren oder ob man es ihm gestohlen hatte, er fand es nicht mehr. Am liebsten wäre er sofort aus dem verfluchten Hause gelaufen, aber schlimme Bedenken und eine furchtbare Neugier hielten ihn darin fest. Zuletzt kam ihm der Gedanke, auf das Kapitel zu gehen und dort alles zu beichten, aber was er von sich selber zu beichten gehabt hätte, schreckte ihn ab, obschon die Vorstellung, wie er dem geistlichen Herrn sagen würde: »Auch ich habe leider mit der Frau Herzogin geschlafen« ihn so aufgeblasen machte, wie einen der Gänseriche, die im Hofe schnatterten. Sie schnatterten nicht ohne Grund: Jacquot, der Küchenjunge, hatte sie aufgeschreckt, als er dem größten Vogel das Büchslein aus dem Schnabel riß, das dieser in einer Pfütze im Hofe aufgepickt hatte. Der Koch trug es, nachdem er es an seiner Schürze sauber abgewischt, mit tief gezogener Mütze in den Saal, wo die Herrschaften beim Mittagstische saßen, da er wohl dachte, daß die Gnädige Frau es verloren haben müßte.

Der Marschall nahm es an sich, ohne zu bemerken, welch einen verwirrten Blick seine Gemahlin darauf heftete: »Das muß in der Tat Ihnen gehören, Madame«, sagte er.

Sie streckte ihren üppigen Arm über den Tisch, daß er es ihr geben sollte: der Marschall jedoch, ohne ihrer Bewegung zu achten, fingerte halb höhnisch, halb gleichgültig daran, und öffnete es zuletzt, und zog das Papier heraus, das darin zusammengefaltet lag. Die Herzogin wurde kreideweiß, der Marschall aber tat, nachdem er es gelesen, einen wilden Fluch, schlug mit der Faust auf den Tisch und warf ihr Büchslein und Zettel ins Gesicht.

Sie las das Zettelchen und sagte nur: »Welche Dummheit! ... aber dieser Gaspard war immer ein Dummkopf, der sich alles Mögliche einbildete!«

Da brach der Marschall in ein wüstes Gelächter aus, und die Marschallin stimmte mit ihrem heiseren koketten Lachen ein.

»Aber was mag nur das schwarze Kreuz hinter dem Namen bedeuten?« fuhr sie mit schmeichelnder Neugier fort.

Da wurde der Marschall weiß im Gesicht und saß mit stieren Blicken da. Eben wollte Jean Bouche ihm mit unsicheren Händen den Braten servieren, aber die Schüssel schwankte so, daß er die Brühe über den Spitzenkragen und Leibrock des Marschalls schüttete, der mit dem gichtischen Fuß aufstampfte und zornig nach ihm schlug.

»Ich habe einen Schatten gesehen, gnädiger Herr!« rief Jean Bouche. »Wirklich und wahrhaftig!« und sank auf die Knie.

Der Marschall aber, von dessen Ärmeln und Manschetten das Fett tropfte, warf ihm das ganze in Saft und Gewürz klebende Stück Braten ins Gesicht. Sein eigenes Angesicht war jetzt so rot, als ob es an einem Ofen geglüht wäre, und unter Flüchen erhob er sich und schritt stolpernd aus dem Zimmer.

Die Herzogin saß noch eine Weile bleich am Tische, während Jean Bouche sich das Gesicht mit der Serviette reinigte und sie gleichzeitig blinzelnd beobachtete. Endlich stand sie seufzend auf und ging in ihr Zimmer. Dorthin kam ihr der Marschall nach und sehr bald hörte die Dienerschaft wiederum böses Fluchen, Drohen und Schreien daraus. Und so schrecklich ward der Lärm, daß alle, Nanon, die kleine Tiennette, der Koch, Jean Bouche und die Mägde auf dem Gange vor der Türe zusammenliefen und horchten.

»Sie müssen ja wissen, ob ein Schatten in Ihrem Hause umherschleicht!« schrie der Marschall, und dann flog irgend etwas an die Wand, und seine Frau heulte.

Plötzlich wurde es ganz still im Zimmer; sie hörten einen schweren Fall; die Türe öffnete sich, mit offenen Haaren und blutiger Nase und Lippen stürzte die Herzogin heraus und sah mit verstörten Blicken die Leute an, die beim Öffnen der Türe zurückgefahren waren und dann alle ins Zimmer drängten.

Der Marschall lag mit halboffenem Mund auf dem Boden und rührte sich nicht; nur seine Augen sahen in schrecklicher Wut aus dem verzerrten Gesicht auf die Eindringlinge.

Man hob ihn auf und setzte ihn auf einen Stuhl; aber er redete nie wieder und stand auch nie wieder auf den Füßen; nur die Augen blickten mit immer gleicher Wut nach seiner Frau, wenn sie lächelnd im Hause ihre Anordnungen traf, und ihn in ein beliebiges Zimmer schieben ließ, sobald sie Gäste empfing oder sich an den Spieltisch setzte.

Jean Bouche hatte sie bald nach dem unglücklichen Ereignis entlassen.

Er diente noch manchem andern Herrn, sah vieles und wußte, da er die Gabe der Verschwiegenheit besaß, manche Gunst zu finden; und so erhielt er zuletzt die Erlaubnis, in Paris ein Badehaus zu eröffnen, in dem vornehme Herren abstiegen, und wo sie außer Zimmern und Bädern noch manche andere Gelegenheit fanden; und das Badehaus von Jean Bouche auf der Place du Coq-Héron ward das besuchteste der Hauptstadt.

Es war daher für ihn eine tiefe Kränkung, als die verwitwete Marschallin von Saint-Nazaire, der er einst gedient hatte, und die in große Nöte geraten war, das Haus ihm gegenüber bezog. Nicht etwa, weil dies unangenehme Erinnerungen in ihm wachrief. Er war damals bereits ein beleibter Herr geworden, hatte sich gut verheiratet und trug stets eine Perücke à la Financière und einen Stock mit einem Silberknopf. Die Herzogin, die noch beleibter geworden war als er, immer schwarz gekleidet und im Witwenschleier ging, hatte ihn längst vergessen. Aber in ihrem Hause wurden allabendlich ungeheure Summen verspielt, und da sie, dank ihrer vornehmen Geburt und ihren Beziehungen, den Herren, die zu ihr kamen, ganz andere Damenbekanntschaften vermitteln konnte als Jean Bouche, so wurde sein Haus leer, während das ihre sich füllte, und jeden Abend sah er mit Verdruß die Zahl der Karossen und Sänften auf der andern Seite des Platzes steigen, während die vor seinem Tor abnahm.

Vergeblich wendete er sich an mehrere seiner vornehmen Gönner; obwohl niemand vom Hofe mit ihr verkehrte, machte der hohe Rang der alten Dame es doch unmöglich, daß gegen sie eingeschritten wurde. Endlich entschloß er sich, ihrem Sohne, dem jungen Herzog von Saint-Nazaire, der seit langem einer seiner Klienten war und ihm viel Geld schuldete, Vorstellungen zu machen. Der Herzog wurde rot und weiß im Gesicht und vielleicht hätte er den Degen gezogen und Jean Bouche auf der Stelle totgestochen, wenn er nicht gerade wieder eine größere Summe von ihm benötigt hätte, während er von seiner Mutter, mit der er in Unfrieden lebte, nichts zu hoffen hatte. Daher machte er dieser einen Besuch und hielt ihr vor, wie beschämend es für ihn wäre, wenn er das Haus Jean Bouches besuchte, sich sagen zu müssen, daß gegenüber ein ähnliches sei, das seiner Mutter gehöre. Aber sie achtete nicht auf ihn und hieß ihn von diesen Dingen schweigen, da es ihm nicht zukäme, mit seiner Mutter davon zu sprechen. Da geriet er in Zorn und sagte ihr, wie sehr sie ihn auch immer vom Hause entfernt gehalten, so wisse er doch gut, was für einen Lebenswandel sie geführt und daß sie sein Erbe vergeudet hätte, und zählte ihr zuletzt alle ihre Liebhaber auf, von denen er wußte, – es waren ihrer mehr als vierzig, – darunter Leute niedrigsten Standes.

Die Herzogin atmete, als er geendet hatte, erleichtert auf, da sie ihrer viel mehr wußte; dennoch begann sie zu weinen, während ihr Sohn lachte und pfeifend fortging, wie einst sein Vater. Aber sonst änderte sich nichts.

Da geschah es, daß einem schweizerischen Offizier, der eben von der Armee des Herrn von Turenne nach Paris gekommen war, im Hause der Herzogin all sein in vielen Feldzügen erspartes Geld und selbst Uhr und Ringe abgenommen wurden, worauf man ihn ohne Degen, Leibrock und Stiefel auf die Straße gesetzt hatte. Nachdem er vergeblich sein Recht gegen sie gesucht, ließ er an den umliegenden Häusern und an den Stadttoren Zettel ankleben, auf denen er jeden Fremden vor dem Hause auf der Place du Coq-Heron warnte. Damit aber begnügte er sich nicht, sondern ging seine Kameraden um Hilfe an, und in einer Nacht kamen sie erst leise, dann mit großem Lärmen und Pfeifen und Trompeten auf dem Platze zusammen und warfen alle Fenster des Hauses ein. Dann begaben sie sich zu Jean Bouche und feierten ein großes Siegesfest.

Die Folge war, daß zwar einige von ihnen auf kurze Zeit gefangen gesetzt, aber auch das Haus, das Jean Bouche soviel Ärgernis gab, geschlossen wurde.

Jean Bouche sah noch den Leichenzug der Herzogin, der sie mit vielen Wappen und Fackeln, aber ohne alles Trauergeleit, in einsamer Nacht auf den Friedhof führte. Er selbst wurde ein vermögender Mann und der Gründer einer angesehenen Familie von königlichen Beamten, Ratsherren und Geistlichen.

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