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Der glückliche Gatte

Der Professor stand auf. »Damit wären meine wissenschaftlichen Ratschläge für Sie erschöpft,« sagte er, »und nun werde ich Sie meiner Frau vorstellen.«

Er ging mit raschen Schritten durch das Zimmer, öffnete eine dunkle Holztüre mit farbigen Butzenscheiben zwischen den Bücherschränken und rief »Antonie!« Da niemand antwortete, verschwand er durch die Türe. Der junge Mann blieb allein.

Durchs Fenster schien die Abendsonne; aus dem dämmernden Zimmer mit seinen hohen Bücherwänden und altdeutschen braunen Holzstühlen sah er auf das üppige Grün der Gärten und Hügel hinaus.

Da kam der Professor zurück. »Sie wird im Garten sein«, sagte er. Sie stiegen eine schmale kleine Treppe hinab und standen vor dichten Büschen im Jasminduft. Der Professor ging voran durch die engen Kieswege. »Antonie!« rief er.

Von einer Bank, auf der sie, die Hände im Schoß verschlungen, träumend gesessen, stand eine schlanke, große, junge Frau auf und sah mit einem unbestimmten, fast leeren Blick auf die Männer.

»Dies ist mein junger Freund, Herr Künzli, der uns so gut empfohlen ist«, sagte ihr Gatte.

Die Frau reichte dem Fremden die Hand und betrachtete ihn schüchtern. Er war jung, nicht klein noch groß, ein wenig zur Fülle neigend: aus einem bartlosen Gesicht sahen zwei klare Augen mit gelassener Bewunderung auf sie.

»Sie kommen aus der Schweiz?« fragte sie endlich mit leiser Stimme.

»Ich bin Schweizer; ich komme aus Holland.«

Der Professor nahm ein grünes Blatt aus den braunen Haaren seiner Frau und sie errötete. Ihr Mann betrachtete sie einen Augenblick durch seine goldgeränderten Augengläser. »Ich habe noch zu tun,« sagte er, »ich sehe Sie dann beim Abendessen«, und er ging ins Haus zurück.

»Ich werde Ihnen den Garten zeigen«, sagte die junge Frau zu ihrem Gast, und sie folgten den Kieswegen.

Nie hatte sie einen so gelassenen jungen Mann gesehen. Er bestimmte das Gespräch mit großer Sicherheit, stellte ruhig die Fragen, die er wollte, und wenn sie sich in Schweigen verlor, wartete er unbefangen, bis ihre Gedanken, deren Flucht er bemerkte, sich zurückgefunden hatten.

Ein kleines Wasserrohr war offen geblieben und hatte die dunkle Erde eines Rosenbeetes überschwemmt. Er machte sie aufmerksam, da sie achtlos vorüberging; sie nahm ihr Kleid ein wenig auf und stieg ins Feuchte, um den vergessenen Hahn zu schließen. Der Garten war nicht groß, aber voll Buschwerk, und die Wege dadurch verborgen und nicht gleich zu übersehen. Schon mehrmals waren sie an einen halb versteckten Zaun gekommen und jetzt an ein Türchen, das offen stand: Kinderrufe schollen hinter den Büschen; zwei kleine Mädchen waren plötzlich da und blieben betroffen stehen, als sie den Fremden bemerkten. Überrascht sah dieser die Kinder und die Frau an, die sie zärtlich begrüßte.

»Wo ist Mutter?« fragte sie zuletzt.

»Da kommt sie!« Eine bildhübsche kleinere Frau kam den Kindern nach, kräftig und wohlgeformt in dem ausgeschnittenen hellen Gartenkleid; aus dem runden Gesicht unter gescheiteltem schwarzen Haar blickten lachende Augen.

»Das ist Herr Künzli, Emma, ein Schüler meines Mannes,« sagte die Hausfrau, »unsere Nachbarin Frau Professor Lecoq.«

Die Freundin hatte viel von den Kindern zu erzählen, aber im Gespräch gingen ihre Blicke wiederholt nach dem jungen Mann, der ihnen unbekümmert standhielt. Indessen begann er mit den Kindern zu scherzen, die sogleich vertraut waren. »Was habt ihr für schöne Bandeli im Haar?« fragte er, und sie lachten furchtbar über »Bandeli«. Er fing ihre Bälle und hob die kleinen Mädchen auf seine Schulter. Die Frauen sahen zu. Drüben wurden die Büsche gesprengt, von dem nassen Laub und der Erde drang der starke feuchte Geruch des Lebens. Alle fünf gingen fröhlich weiter, bis der Professor an einem Fenster erschien und »Antonie!« rief.

»Was ist nun an Dem?« fragte sich Frau Emma halblaut, als die andern nach dem Hause gegangen waren und sie allein im Grün an der kleinen Gartenpforte stand.

Im Zimmer droben redeten die Männer beim Abendbrot von gelehrten und politischen Dingen; höflich stand der Gast dem Professor Rede und verbeugte sich lächelnd, wenn dieser ihn belehrte und seine Ansichten verbesserte; dann aber lenkte er weltmännisch zu Gesprächen, die die Frau interessieren mochten, erzählte von Reisen, von der Gesellschaft fremder Städte, von Abenteuern auf den indischen Inseln. Sie lauschte, die Hände auf den Tisch gestützt. Da faßte ihr Gatte ihren Ellenbogen und schob ihn sachte vom Tisch; sie wurde sehr rot. Schweigend hatte Künzli der Erziehung zugesehen, ohne daß seine Züge sich verändert hätten. Der Professor aber hieß seine Frau Zigarren bringen und befragte seinen Gast über eine Handschrift aus Bollenz im alten Tessiner Dialekt, die jener im Kloster dort gesehen hatte.

Als Künzli den Hügel hinab nach Hause ging, blieb er an der Biegung der Straße stehen, sah nach dem erleuchteten Fenster zurück und dachte über den rotblonden, unfehlbaren Mann und die bange Frau nach. Neben dem Hause stand hinter der schmalen Buchsbaumhecke ein zweites von völlig gleicher Bauart, und das andere hübsche Frauengesicht, das er heute gesehen, tauchte vor ihm auf. Er blies den Rauch der Zigarre von sich und schritt weiter.

Von da an kam er öfters und war bald in beiden Gärten ein häufiger Gast, und auch in beiden Häusern, da Frau Lecoq ihn einlud und ihn mit ihrem Gatten bekannt machte, einem bartlosen Herrn mit lächelnden Augen und aufgeworfenen Lippen, der stets grau gekleidet ging.

Künzli arbeitete in Professor Seiffarts Seminar und half ihm zu Hause bei seinen Korrekturen. Er spielte sehr gut Klavier; in dem kleinen, immer blumengeschmückten Salon bei Lecoq stand ein Flügel, und beide Frauen hörten ihm gerne zu. Lieber noch hörten sie ihn erzählen, weil dies nicht unaufregend war, denn in seinen Geschichten tauchten ungewollt und unvermeidlich leise Andeutungen auf, wie ein Parfüm aus Erinnerungen, denen sie nicht nachzufragen wagten. Einmal brachte er ihnen Photographien, auf denen ein dunkles Mädchen vor einer Hütte unter den Farnbäumen stand; auf einem andern Bild kauerte sie im Innern der Hütte und spielte auf einem seltsamen Instrument. Diesmal fragten sie.

»Das ist Dalima, die meine Freundin war, oder wenn Sie lieber wollen, meine Dienerin.«

Beide Frauen schwiegen; er machte sie auf die wundervollen Arme und Füße der Javanerin aufmerksam.

»Wo ist sie?« fragte Frau Lecoq.

»Wer weiß es?« antwortete er und blies den Rauch von sich.

Monatelang kam und ging er in gleicher Weise, und immer noch gingen die Freundinnen in den Nachbargärten Arm in Arm, oder saßen auf einer Bank mit Handarbeiten beschäftigt, während die Kinder spielten, wenn es auch manchmal vorkam, daß sie lange schwiegen oder daß die eine von ihrem Garten aus das Gehen oder Sinnen der andern beobachtete.

Im Sommer verreiste Künzli für wenige Wochen und kam dann wieder. Da er eine schöne Wohnung gemietet hatte, im besten Gasthof der Stadt speiste, sich sehr gut kleidete und aus all diesen Gründen für reich galt, da er sonst kaum verkehrte und vom üblichen Leben der Studenten sich fernhielt, fiel er auf. Neugierige Augen aus Barbierläden wie aus den Fenstern der Bürgerhäuser folgten ihm. Nicht alle sahen dasselbe, aber soweit er gesehen wurde, ging er immer die gleichen Wege, bis in den beiden Gärten auf dem Hügel Bäume und Sträucher kahl und durchsichtig aus dem Schnee ragten.

Emma und Antonie saßen oft in ihren warmen Wohnstuben beisammen, und viele Spuren im Schnee führten von einer Türe zur andern. Der Verkehr der Gatten war nachbarlich, aber minder vertraut. Seiffart war dem andern zu laut und selbstbewußt, der ein stiller Gelehrter war und gern ironisch wurde.

Als der Winter wirklich da war, fand Künzli eines Tages beide Frauen mit einer Schneiderin beratend, während Stoffe, Bänder, Scheren und Nähzeug umherlagen. Sie wollten ihn erst nicht einlassen, dann aber sogleich sein Urteil über ihre Kostüme hören. Es war vernichtend. Auf einem lebenden Bilde sollten sie zwei der neun Musen darstellen. Künzli ließ einen Waschzuber bringen, tauchte den ganzen Stoff hinein, wand ihn, die Rockärmel über den kräftigen Handgelenken zurückschiebend, vorsichtig aus und ließ die so gewundene Rolle zum Trocknen hängen; dann warf er ein paar rasche Striche auf ein Papier. Am folgenden Tag kam er wieder, legte das kreppartig in tausend Fältchen geworfene Tuch erst über Frau Emmas, dann über Antoniens Schultern, steckte und richtete selbst, und gab dann noch Rat und half bei dem vergoldeten Riemenwerk für ihre Sandalen.

Der Spaß und die heimliche Freude waren groß, aber als Antonie das griechische Kleid anlegte, da mißbilligte ihr Gatte, streng durch die goldgefaßten Gläser blickend, die bis zu den Schultern freien Arme. Über und über errötend, nähte sie rasch den Stoff zu kleinen Ärmelteilen fest.

»Sie pariert gut, wie?« fragte der Professor den jungen Mann, der nur mit einem ausdrucksvollen »Hm!« antwortete, während er im Zimmer auf und nieder ging.

Frau Emmas schöne Arme blieben völlig unverhüllt; Professor Seiffart sah es mit gleicher Mißbilligung, aber erst auf dem Fest, als es zu spät war. Beide Frauen fanden mit ihren eng anliegenden, von goldenen Schnüren gehaltenen Gewändern, dem einfach gescheitelten, in tiefen Knoten fallenden Haar unter dem doppelten goldenen Band lauten und schmeichlerischen Beifall; die sieben anderen Musen mit genähten glatten Kleidern, mit Atlasballschuhen, mit offenem Haar oder Löckchen waren neben ihnen kläglich zu sehen. Um so mehr sprachen sie sich über Frau Lecoqs Schultern aus und beobachteten sie scharf, wenn sie die Arme hob. An jenem Abend wurde zuerst manches halblaute Wort ausgesprochen und es begann das Geflüster. Sie selbst saß ahnungslos mit Herrn Künzli bei Tisch und lachte zu seinen unbarmherzigen Witzen über die Frauen und Töchter der Stadt.

Nach dem Essen sagte sie zu ihm: »Sie müssen auch mit andern tanzen, Bandeli!« So nannten ihre Kinder ihn seit dem ersten Tag.

»Warum?« fragte er, »mich interessieren die andern nicht.«

»Bitte, tun Sie es!«

Er zuckte die Achseln und sagte später zu Frau Seiffart: »Ihre Freundin wünscht, daß ich auch mit andern tanze.«

»Warum?« fragte Antonie zerstreut.

»Ja, warum? Ich will nur mit Ihnen beiden tanzen, weil ich nur Sie beide liebe.«

»Beide?« fragte sie mit halbem Lachen und doch nicht ohne ein bitteres Gefühl. »Übrigens sollten Sie solche Dinge auch nicht im Scherz sagen!«

Da drückte er sie plötzlich an sich und ließ sie tief verwirrt stehen. Er suchte Frau Lecoq und blieb sehr lange in eifrigem Gespräch mit ihr auf der Galerie. Antonie wurde unruhig, und nicht nur ihr fiel dies lange Gespräch auf, bei dem sie bald sehr ernst waren und bald innig lachten.

Irgendwie verbreitete es sich plötzlich, daß Herr Künzli die beiden schönen Musen angezogen hätte.

»Immer noch besser, als wenn er das Gegenteil getan hätte«, sagte der Justizrat Brodhahn, der, sowie er ein paar Gläser getrunken, keinen unerlaubten Witz unterdrücken konnte.

Das Geflüster begann an jenem Fest.

Die Augen aus den Fenstern der Bürgerhäuser wie aus den Barbierläden wurden zahlreicher und erpichter, zu sehen. Niemand wußte, niemand redete noch etwas Bestimmtes; dennoch war eine ungewohnte Spannung in den guten Kreisen der Stadt. Und wie immer, wich das Geflüster den Betroffenen aus und hüpfte um sie herum, und sie ahnten von nichts, – bis die verletzenden Scherze, die Künzli sich auf dem Ballfest über die verschiedenen Damen erlaubt hatte, durch Frau Lecoqs unvorsichtige Munterkeit verbreitet wurden. Eine entrüstete Mutter sagte ihr sehr spitze Worte; die junge Frau antwortete aus eisiger Höhe; ihre sieghafte Anmut gestattete ihr, noch tiefer zu beleidigen; die geröteten Wangen, als sie auf ihren Gatten zuschritt, standen ihr wohl; sein ironisches Gelehrtengesicht unter dem schlichten Haar tat die »Weiberworte« mit einem Scherz ab, er lachte der alten Geheimrätin ins Gesicht und flüsterte mit seiner Frau. Aufreizenderes hätte er nicht tun können.

Da der Winter vorschritt und der Verkehr sich nicht änderte, fand der Verdacht neue Nahrung. Man wußte und sprach jetzt von Blumen, von spätem Licht in Wohnungen, von Begegnungen, von Spuren im Schnee. Denn unweit von beiden Landhäusern war ein Tannenwäldchen, das auch im Winter heimliche Wege bot. Eine Zeitlang war man im Zweifel, welcher Muse die Liebe des Schweizers gelten mochte, dann senkte sich die Schale. Es gab eine sprachbegabte junge Frau in der Stadt, und auf die »Spuren im Schnee« wurde ein Gedicht gemacht.

Dieses Gedicht fand Professor Seiffart eines Nachmittags in seinem Briefkasten. Es war von boshafter Deutlichkeit. Er stieß ein kurzes höhnisches Lachen aus: eine Frau, die mit bloßen Achseln auf ein Fest ging, war schon so gut wie eine Gefallene. Im Grunde lachte er nicht: er war zu sehr geärgert. Die Freundschaft seiner Frau mit der Dame und der nachbarliche Verkehr stellten auch sein Haus bloß.

Er ging zornig auf und ab, zornig auf den Esel Lecoq, auf die Kollegen Grävert in Bonn und Hartmeyer in Zürich, die ihm den Herrn Künzli empfohlen hatten, zornig auf seine Frau und ihre Intimität mit dem Nachbarhause. Antonie war eben fortgegangen, so daß er ihr seine Meinung vorläufig nur im Geiste sagen konnte. Durch eine unwillkürliche Armbewegung, die er dabei machte, warf er einen großen Stoß von Büchern vom Tisch und ward noch böser, da er sich bücken und sie wieder auflesen mußte, wobei ihm überdies der Kneifer von der Nase zur Erde fiel. Der Zufall wollte, daß das letzte der Bücher eine Abhandlung Künzlis aus seinem eigenen Seminar war mit einer ehrerbietigen Widmung an ihn. Er warf das Heft fort und stieß es mit dem Fuße beiseite. Nach einigem Besinnen aber hob er es wieder auf und stellte es an seinen Platz zur »Romanistischen Vierteljahrszeitschrift«, zu der es einmal gehörte.

Draußen klingelte es und das Mädchen brachte eine Karte. Es war die des Dr. Anton Brudermann, Professors der Pastoraltheologie. Seiffart ging dem geistlichen Kollegen entgegen, der ihm herzlich beide Hände schüttelte, dann den breiten Hut von den dichten silbergrauen Locken nahm und ihn aus großen Augen feierlich ansah. Dann griff er in die Brusttasche und legte mit ebenso feierlicher Bewegung den gleichen Brief vor ihn, der ihn selbst so erregt hatte.

Seiffart schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Ich habe das widerliche Schriftstück auch bekommen.«

»Also auch Sie!« sagte Brudermann. Er setzte sich und legte beide Hände auf die Krücke seines Stockes. »Es muß etwas geschehen,« fuhr er fort, »denn wir können dem Ärgernis nicht weiter zusehen, um unserer Frauen und Töchter willen.« Professor Seiffart nickte. »Der arme Lecoq ahnt natürlich nichts?«

Seiffarts Blick fiel auf den Brief.

»Ja, ja,« sagte Dr. Brudermann, »den habe Professor Lecoq wahrscheinlich auch bekommen, aber seiner Meinung nach würde die pflichtvergessene Frau Wege finden ihn aufzufangen; einen geheimen Briefwechsel und allerlei Zeichen und Vorsichten müsse sie ja gewohnt sein.« Hierauf erörterten sie die Frage, wer der Absender der Briefe sein könnte, kamen aber zu keiner ganz glaublichen Vermutung. Das Schlimmste schien beiden, daß der Fall sich in einem Professorenhause und an ihrer Universität ereignet hatte, und daß es ein Hörer der Universität war, mit dem die Gattin eines akademischen Lehrers sich vergangen hatte. »Wissen Sie, daß der junge Mann in Leyden in unerlaubten Beziehungen mit einer Heidin gelebt hat,« sagte Brudermann, »einem halbnackten Geschöpf, – ich habe die Bilder gesehen! – bis er sich einmal öffentlich mit ihr zeigte und das Consilium abeundi erhielt.«

Seiffart dachte der Kostüme. »Ich bin mit der ganzen Sippe fertig, – mit allen!« sagte er heftig, »und das Consilium abeundi werde ich dem jungen Mann ganz persönlich erteilen, – ich fühle mich ihm gewachsen.«

»Ja, es ist besser, wenn er in aller Stille abgeht,« sagte Professor Brudermann, »um unserer Alma mater willen.«

»Und Lecoq hat ja einen Ruf nach München erhalten; den muß er annehmen!«

»Den muß er annehmen«, wiederholte Brudermann erleichtert.

»Er ist ja so herabgewürdigt, so lächerlich gemacht vor der ganzen Stadt, daß er gar nicht bleiben kann,« sagte Seiffart, »aber es ist seine eigene Schuld!«

Sie wurden sich über alle Schritte einig, auch jene, die Professor Seiffart aus »Nachbars- und Christenpflicht« auf sich nehmen sollte; dann stand der Besucher auf, legte erst den Stock neben den Hut, schüttelte mit beiden behandschuhten Händen herzlich und feierlich beide Hände seines Kollegen, dann drückte er den Hut auf die ein wenig fettglänzenden silbergrauen Haare, nahm den Stock zur Hand und schritt, von dem andern bis zur Haustüre begleitet, wieder hinaus.

Seiffart war allein. Er hatte einst einen Studenten aus dem Dekanat gewiesen, weil er ohne anzuklopfen eingetreten war. Er wiederholte jetzt seine Worte und Handbewegungen von damals; er wünschte, Künzli stünde bereits vor ihm. Da ging die Haustüre.

Es war seine Frau, die zurückkam und den Schnee von ihren Schuhen schüttelte. Sie sah sehr frisch und hübsch aus; aber sie sah den Zorn hinter den goldgefaßten Gläsern ihres Mannes, sah ihn an den Bewegungen seiner Lippen, mit denen der Bart sich senkte und hob. Da er sich nur für Künzli vorbereitet hatte, brach der Ärger gegen sie in natürlicherer Heftigkeit aus.

»Du wirst die Güte haben, den Umgang mit Emma Lecoq von heute ab aufzugeben, wirst keinen Schritt mehr in das Haus setzen, noch sie hierher! Auch der Herr Künzli kommt mir nicht wieder über die Schwelle ...!«

Sie starrte ihn an.

»Die beiden haben ein Verhältnis, jawohl, ein Verhältnis,« schrie er, »ein Liebesverhältnis haben sie miteinander!«

Noch immer blickte sie aus weitaufgerissenen Augen auf ihn; dann wurde sie blutrot, gleich darauf tödlich blaß und brach in fassungsloses Weinen aus, während er ihr in steigender Wut ihre Freundschaft mit Frau Lecoq, ihre Ungeschicklichkeit, mit der sie auch ihn bloßstelle, ihr Kostüm vom Fest, ihren eigenen Verkehr mit Künzli und viel anderes, was er sonst gegen sie auf dem Herzen hatte, mit harten Worten vorwarf.

Plötzlich lief sie ins Vorzimmer, riß ihre Jacke und Pelzkappe vom Haken, zog beides eilig an und rannte aus der Türe, die Treppe hinab in den beschneiten Garten.

Er hatte sie erst nur zornig zurückgerufen, dann war er ihr nachgestürzt; bei der kleinen Pforte, die zum Nachbargarten führte, erreichte er sie und hielt sie fest. »Wohin denn?« rief er.

»Zu ihr!« keuchte sie. Er stellte sich ihr in den Weg und zwang sie, umzukehren. Aber wieder in ihrer Wohnung, weinte sie so völlig hemmungslos, so erschreckend, daß Befehl und Zureden gleich vergeblich blieb und er zuletzt schweigend und ratlos vor ihr stand.

Dann aber kam es aus ihrem Munde: »Ich bin es ja! Emma Lecoq ist ganz unschuldig! Ich bin seine Geliebte!«

Er faßte sie am Arm, er schrie ihr etwas zu, er wollte schlagen, aber er vermochte es nicht; er wurde selbst kreidebleich.

»Sie hat ja doch etwas vom Leben,« schluchzte die Frau, »sie hat ja Kinder, und ihr Mann ist so gut! Sie hat auch mich retten wollen und immer gesagt, Künzli sollte fortgehen und mich lassen!« In unaufhaltsamem hysterischem Geständnis brach die ganze Empörung der Sklavin aus ihrer Seele: »Ja, er habe ein Recht, böse zu sein, aber sie auch, sie sei schon lange unglücklich, sie wolle zu ihren Eltern zurück; morgen schon wolle sie aus dem Hause ...!«

Die Karte Professor Brudermanns lag noch auf dem Tisch. Er sah die Karte, hörte noch einmal das Gespräch, seine eigenen letzten Worte, er sah den morgigen Tag voraus, – und nun mußte er sie beruhigen, mußte sie bitten zu bleiben.

»Ja, wie wirst du mich behandeln?! wie deinen Schuhlappen!« rief sie, »wie hast du mich bisher behandelt?! Nein, nein, morgen gehe ich! – du kannst den Leuten sagen, was du willst!«

Unter vielem Zureden und Bitten und Verhandlungen, mit denen die Nacht verging, erreichte er, daß sie vorläufig zu schweigen und bei ihm zu bleiben versprach; aber auch er mußte eine Reihe von Bedingungen annehmen, selbst den Verkehr mit Emma Lecoq ihr freigeben.

Am andern Tag blieb sie zu Bett, und er verließ das Haus nicht, kam aber nicht in ihr Zimmer. Gegen Abend erhielt er ein Schreiben Professor Brudermanns: er habe erfahren, daß Lecoq ganz entschlossen sei, zu Ostern nach München zu gehen; bis dahin sei er für › quieta non movere!

Seiffart atmete auf. Im Nebenzimmer hörte er Emma Lecoq, die am Bett seiner Frau saß, mit ihr sprechen. Aber sie ging sehr bald wieder fort. Sie mußte noch heute mit Künzli reden; die Leute mochten denken und sagen, was sie wollten.

Am nächsten Vormittag ging Seiffart nach der Universität hinab, – mit dem ernsten Gesicht, dem goldenen Kneifer, dem rötlichen Bart, im Pelz und hohen Hut, ein Bild unnahbarer Würde. Ein offener Wagen kam langsam die Bergstraße heraufgefahren, dem Bahnhof zu; elegante Reisekoffer lagen auf dem Kutschbock; in dem Wagen saß, gleichfalls im Pelz, eine Zigarre rauchend, Herr Künzli.

Da sie einander entgegenkamen, mußten sie sich eine gute Weile sehen. Künzli, der bequem zurückgelehnt in der frischen Winterluft saß, wollte grüßen, ließ aber die Hand wieder sinken; seine klaren Augen und die zum Genuß geformten Lippen lächelten ein wenig. Ein kurzbeiniger graugelber Bullenbeißer, der am Stachelhalsband zu seinen Füßen lag, fletschte knurrend gegen Seiffart die Zähne.

Der Professor blieb stehen. »Unglaublich! Unerhört!« sagte er und blickte dem Wagen nach. Aber der fuhr langsam und geräuschlos im Schnee weiter, und Künzli sah sich nicht um.

Lecoq kam unmittelbar nach ihm in die Fakultätssitzung. Als er eintrat, entstand eine kaum merkliche Bewegung, die ihm selbst völlig entging. Als er bald wieder aufbrach, – er entschuldigte sich heiter mit irgendeinem Vorhaben, – folgte ihm das Achselzucken einiger Kollegen; viele schwiegen; andere flüsterten. Ein Mediziner in Seiffarts Nähe machte leise einen bösen Witz. Matthias Seiffart sprach kein Wort. Aber er war beruhigt. Er fühlte, daß er besser dran war als Lecoq.

*


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