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Saint-Roust und die Damen von Guines

Victor von Saint-Roust war der Sohn eines Edelmannes in der Picardie, der so arm war, daß beide, Vater und Sohn, zum Frühstück meist nur Brot und Zwiebel zu essen hatten. Dennoch unterwies der Vater ihn in allem, was nach seinem Erachten ein Edelmann zu wissen nötig hatte, und schickte ihn, als er siebzehn Jahre alt war, zur Armee mit einem Schreiben an den Marschall von Guines, der vor fast vergessenen Jahren sein Kamerad im Regiment Picardie gewesen war. Der Knabe sah den Marschall mit seinem gewaltigen Körper, der langen Perücke und der Hakennase in dem großen Gesicht während einer Minute. Der Marschall, der das Schreiben des Herrn von Saint-Roust in der Hand hielt, warf einen Blick auf den schmächtigen dunkelhaarigen Knaben, sagte, daß er ihn als Fähnrich in sein eigenes Regiment nehmen wolle, und hieß einen Kapitän, der in seiner Nähe stand, ihn richtig ausstatten und unterweisen. Dann sah Herr von Guines ihn nicht wieder, bis der Fähnrich schwer verwundet hinter dem Wall von Corbie lag, als einer der zehn, die zuerst in die Verschanzung gedrungen waren, und der Marschall, vorüberreitend, nach dem Namen des Gefallenen fragte und ihn womöglich heil zu pflegen befahl.

Ein Jahr später, in einer Nacht, da der Leutnant von Saint-Roust vor dem Quartier des Marschalls die Wache hatte, wurde er ins Innere des Zeltes gerufen, wo Herr von Guines bei einer Kerze vor den Karten saß. Er hieß Saint-Roust zu seinem Obersten reiten und ihm sagen, er möge einen verläßlichen Mann schicken, der einen Brief durch die feindlichen Linien nach Breda bringen sollte. Saint-Roust wagte zu fragen, ob er dies nicht selbst ausführen dürfte?

Der Marschall sah ihn an und sagte: »Ich weiß nicht, ob die Sache noch möglich ist, jedenfalls ist sie schwieriger als alles, was der Leutnant von Saint-Roust je versucht hat.«

Dieser erwiderte, das Mögliche werde auch getan werden, und fügte hinzu, daß er für den Mann, dem er alles verdanke, nicht genug wagen könne.

Der Ritt, von dem er nach seiner Art nicht viel erzählte, gelang: er wurde zum Kapitän ernannt, und der Marschall, der den Wert eines ergebenen Werkzeugs zu schätzen wußte, verwendete ihn zu wichtigen Diensten. Nun kam Saint-Roust auch in das Haus des Marschalls in Paris und damit in die Gesellschaft, und er lernte manches, was er früher nicht geahnt hatte.

Wenn der Vicomte von Guines einen Sekundanten brauchte oder eine schlimme Spielschuld hatte, wenn das Fräulein von Guines auf eine besondere Jagd reiten wollte, oder die ältere Tochter des Marschalls, die Marquise von Tresmes, überhaupt einen Wunsch hatte, so war es Saint-Roust, der sich schlug, der vermittelte, der den Auftrag besorgte. Daß er dies tun durfte und daß alle ihm vertrauten, schien ihm Lohns genug zu sein, und das gleiche schienen auch alle im Hause Guines zu denken. Seine Kameraden aber wunderten sich darüber, denn sie glaubten allen Grund zu haben, einen glühenden und rastlosen Ehrgeiz in ihm zu vermuten.

Eines Tages stand Frau von Tresmes mit ihrer Schwester und andern vornehmen jungen Leuten im großen Saal des Hotel von Guines; die Damen hatten den Wunsch geäußert, einen italienischen Lautenspieler, der damals in Paris beliebt und berühmt war, noch am selben Abend in ihrem Hause spielen zu hören; den Herren schien dies nicht mehr ausführbar, aber Frau von Tresmes sagte lächelnd: »Mein Neger wird es schon besorgen.« Irgend jemand hatte Saint-Roust wegen seiner dunkeln Farbe so genannt. In diesem Augenblick trat er selbst ein, während die andern noch lachten, und fragte, was es gäbe; man teilte ihm den Wunsch der Marquise mit, und sie schüttelten sich vor Lachen, als er sich sofort erbötig machte, den Italiener zu finden und herbeizuschaffen, und es seinem Feuereifer auch wirklich gelang. Von da an hieß er »der Neger der Frau von Tresmes« oder einfach »der Neger«, ohne daß er selbst von diesem Beinamen etwas erfuhr; denn niemand wagte, es ihm ins Gesicht zu sagen.

Das Regiment lag damals auch im Sommer in der Nähe von Paris im Quartier. An einem heißen Abend saß Saint-Roust mit dem Vicomte von Torac, einem rotwangigen braungelockten jungen Gascogner, beim Spiel. Sie hatten die Jacken abgelegt und saßen mit offenen Hemden da; die leeren Flaschen hatten sich um sie gehäuft; der Weindunst lag in dem weißgetünchten Zimmer und um ihre Gehirne. Saint-Roust gewann.

»Hast du soviel Glück bei Frau von Tresmes wie im Spiel?« fragte Torac. Saint-Roust starrte ihn an. »Glaubst du, man kennt dein Geheimnis nicht?« fuhr der andere lachend fort. Aber er lachte nicht mehr, als Saint-Roust seinen Degen zog und unter drohenden Worten ihn seine Verleumdung auf der Stelle widerrufen hieß.

»Narrheiten!« rief Torac; aber vor dem finstern Gesicht des kleinen Saint-Roust und vor dem leicht zitternden funkelnden Eisen wich er, da sein eigener Degen der unsicheren Hand nicht aus der Scheide folgen wollte, an die Wand zurück.

»Widerrufe!« sagte Saint-Roust nochmals und setzte ihm die kalte Spitze gerade unter dem Kehlkopf auf den Hals.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, und er mußte schwören, daß er nie wieder ähnliches sagen oder denken werde. Darüber waren beide ziemlich nüchtern geworden; der Kühlung halber gingen sie noch zum Brunnen und wuschen sich die Gesichter. »Du bist ein Teufel!« rief Torac zuletzt. »Um so schlimmer für dich!« erwiderte Saint-Roust, und sie nahmen die Karten wieder auf.

Ob sich Torac durch den erzwungenen Schwur gebunden fühlte oder nicht, nie mehr drang ein ähnliches Gerücht bis zu Saint-Roust. Aber niemand zweifelte daran, daß er für das Haus Guines seine Seele verkauft hätte.

Etwa vier Monate später, das Regiment lag noch immer bei Charenton, ging Saint-Roust, vom Dienst kommend, über den breiten Platz zwischen den Baracken auf die Kantine zu. Von der andern Seite sah er einen Offizier mit vier Mann über den Platz marschieren; sie wechselten wiederholt die Richtung, so daß ihre Bewegung ihm auffiel und er stehen blieb, um sie zu beobachten. Nun kamen sie gerade auf ihn zu, machten vor ihm Front, und der Offizier, der sie führte, forderte ihn auf, ihm zu folgen, da er ihn verhaften müsse. Saint-Roust trat einen Schritt zurück und fragte: »Auf wessen Befehl?«

»Des Herrn Marschalls von Guines«, war die Antwort.

Mit dem blankesten Erstaunen im Gesicht fragte Saint-Roust: »Ist das kein Irrtum?«

»Gewiß nicht!«

»Dann ist es ein Mißverständnis!«

Der andere zuckte die Achseln. Saint-Roust besann sich einen Augenblick, dann gab er seinen Degen ab. Er wurde nach der Festung von Vincennes gebracht, und lag dort elf Monate mit all der verzweifelten Wut eines Menschen, der sich unerhörtes Unrecht geschehen fühlt und sich weder rechtfertigen noch wehren kann. Papier zum Schreiben erhielt er nicht, und vergeblich zermarterte er sich immer von neuem das Hirn, um einen Grund zu finden.

Endlich im nächsten Herbst wurde er aus der Zelle und vor einen Beamten geführt, der ihm sagte, daß er frei wäre, sich aber nie wieder in Paris zeigen möge.

Saint-Roust fragte, von wem der Befehl käme. »Vom Herrn Marschall von Guines«, sagte der Beamte mürrisch.

Darauf erwiderte Saint-Roust, »entweder sei er noch Offizier des Regiments, und dann habe er sich dort zu melden; oder er sei er nicht mehr, dann habe auch der Marschall von Guines kein Recht, ihm seinen Aufenthalt vorzuschreiben«. Darauf sagte der Beamte nur, »er sei gewarnt«, und hieß die Wache ihn hinausgeleiten.

Auf der Straße fühlte er, nach den düsteren Türmen zurückblickend, den Jubel der Freiheit. Alsbald aber kam der traurige Druck wieder, der auf seiner Seele lastete. Er überlegte und begab sich nicht ins Quartier, sondern zu einem vermögenden Tuchhändler der Vorstadt Saint-Antoine, den er einmal vor Soldaten, die ihn ausrauben wollten, geschützt hatte. Der nahm ihn auf und lieh ihm Geld auf sein Wort.

Sobald er ein Pferd und neue Kleider hatte, ritt er nach dem Hause der Marquise und kam, da der Schweizer ihn kannte, von seinem Schicksal aber nichts wußte, unangefochten in die Gärten. Er wartete fast eine Stunde, dann hatte er Glück genug, denn Frau von Tresmes kam allein durch die Allee. Sie fuhr erschrocken zurück, als er vor ihr stand und sich auf ein Knie niederließ. »Saint-Roust!« rief sie aus, »sind Sie verrückt?«

»Ich bin es noch nicht, gnädige Frau,« sagte er, »obwohl man es werden könnte.« Er beschwor sie, ihm zu sagen, worin er gegen ihr Haus gefehlt habe, für das allein er seit Jahren lebe.

»Sie wissen es ganz gut!« antwortete sie zurücktretend.

»Ich weiß nichts, nichts!« beteuerte er und sah sie mit Blicken an, in denen die Treue eines Hundes lag, die aber rasch den Ausdruck eines so heißen Verlangens annahmen, daß sie die ihren betroffen niederschlug. Sie überlegte einen Augenblick, dann sagte sie: »Kommen Sie mit mir, Saint-Roust, ich will nicht ohne Zeugen mit Ihnen sprechen.«

»Sie wissen es ganz gut!« antwortete sie zurücktretend. Sie führte ihn in ein Zimmer, in dem er ihre Schwester und einen Mann sah, den er flüchtig kannte, einen Herrn von Rantzau, von dem er wußte, daß er um das Fräulein von Guines warb. Diese, eine große dunkelhaarige Schönheit, sah unwillig auf den Eintretenden. Herr von Rantzau, ein riesenhafter blonder Mensch, saß in einiger Entfernung in einem Armstuhl und erwiderte kaum seinen Gruß.

Er wollte sprechen, aber Fräulein von Guines schnitt ihm mit einer hochfahrenden Bewegung das Wort ab und sagte: »Ich weiß nicht, warum meine Schwester in ihrer übermäßigen Güte Sie anhören will. Ich hätte es nicht getan. Sie haben das Vertrauen und die Freundschaft, die unser Haus Ihnen schenkte, mißbraucht, um sich einer Gunst zu rühmen, an die auch nur zu denken von Ihrer Seite lächerlich wäre ...«

»Welcher Gunst?« unterbrach Saint-Roust, der sehr bleich geworden war.

»Genug! Sie verstehen mich sehr gut. Zuviel Gnade, daß wir Sie, um früherer Dienste willen, so leicht ziehen lassen ... Aber sorgen Sie dafür, daß wir nichts mehr von Ihnen hören.«

»Was Sie mir vorwerfen, habe ich nie getan!« Er warf einen Blick auf Frau von Tresmes, »Niemals!« Er wollte vieles sagen, aber die Gegenwart des Mannes, der gelangweilt dasaß, hielt ihn zurück, und er schwieg.

»Wir wissen, daß Sie es getan haben!« sagte Fräulein von Guines.

Er verlangte Beweise. »Im Gegenteil, ich habe ... begann er, aber er verstummte wieder; er sah nur Frau von Tresmes an.

Diese aber, die erregt vor sich hingesehen, hob plötzlich mit einer Bewegung frauenhaften Stolzes das Haupt und sagte: »Sie lügen!«

Wieder wurde Saint-Roust bleich. Er redete noch, aber er fühlte, daß es vergeblich war. Herr von Rantzau, der bisher geschwiegen, und mit seinen Handschuhen gespielt hatte, sagte jetzt ein Wort zu Fräulein von Guines. Diese stand auf: »Genug, mein Herr,« sagte sie, »wir können diese Unterredung nicht fortsetzen. Gehen Sie und verlassen Sie dieses Haus!«

Saint-Roust sah nochmals nach Frau von Tresmes. Seine Augen glühten. Sie wendete sich ab und schritt zur Türe.

Da sprach er kein Wort und ging.

Wie er die Straße hinabritt, sah er den Marquis von Tresmes in seinem Wagen nach Hause kommen. Saint-Roust wußte, daß die Ehe der Marquise keine glückliche war. Er bog in eine schmale Seitengasse ein, die zum Seineufer hinabführte. Der Marquis sah ihm verwundert nach. Im Hause sagte er zu seiner Frau:

»Ihr Neger ist wieder dagewesen?«

»Man hat ihn vor die Türe gesetzt«, antwortete Fräulein von Guines.

»Die Luft von Paris kann ihm unmöglich gut tun«, sagte Herr von Tresmes und schob seinen Unterkiefer vor, so daß man seine breiten Zähne sah. Herr von Rantzau lachte kurz auf. Frau von Tresmes schwieg.

Indessen jagte Saint-Roust sein Pferd dem Ufer entlang, daß die Schaumflocken sich an Stangen und Brust des Tieres klebten. Seine erste Wut galt seltsamerweise dem Mann, der so hochmütig dagesessen und ihn am Reden gehindert hatte. Er nahm sich vor, ihn zu erstechen, und fühlte sich durch diesen Vorsatz sogleich etwas beruhigt und erleichtert.

Am Abend ward in seinem Quartier ein Billett abgegeben, das keine Unterschrift trug. Es stand darauf:

»Ich glaube nicht mehr, daß Sie logen. Aber in jedem Fall haben Sie eine Lektion verdient. Sorgen Sie, daß man Sie nicht in Paris finde.«

Erst sah er eine neue Beleidigung darin, dann eine Warnung, zuletzt beides. Am Tage darauf ritt er aus Paris. Während der nächsten Wochen, die er auf dem verfallenen Gut seines verstorbenen Vaters verbrachte, ging er finster grübelnd, oder in halblauten Gesprächen mit Personen, die er nur im Geiste sah. »Monseigneur,« begann er, »Sie sind ein großer Mann, ein Held, der Ruhm Frankreichs, und ich bin ein armer Teufel .. oder »Gnädige Frau, Sie sind eine Göttin des Hofes, und ich bin niemand, nichts, aber ... und alles, was er damals im Hotel de Guines nicht gesprochen, drängte sich über seine Lippen, bis er aufschauend die Vogelscheuchen auf den armseligen Äckern vor sich sah, oder kreischende Krähen, die einer fernen Kirchturmspitze zuflogen, ihn aus seinen Träumen weckten. Ein Franziskaner, der vorüberging, brachte ihn auf den flüchtigen Gedanken, selbst Mönch zu werden, denn er fühlte wohl, daß sein Weg entzweigeschnitten war, aber er fühlte auch, daß er es mit dem furchtbaren Haß, der von Tag zu Tag in ihm wuchs, in einer Zelle nie aushalten würde. Und so sattelte er eines Tages wieder sein Pferd und ritt zur Armee des Marschalls von Turenne, bei dem er Dienste nahm, weil man im Hotel de Guines mit Eifersucht und Abneigung von ihm gesprochen hatte.

Wenn auch unsinnige Gerüchte über die Ursache verbreitet waren, so wußte man doch, was ihm widerfahren war und warum er Herrn von Guines verlassen hatte. Die Gedanken, die ihn selber anfielen, hatten sich verändert; er rechtete nicht mehr mit den Urhebern seines Unglücks; er sah den Marschall von Guines in Ungnade oder an Wunden sterbend und schrie ihm sein Unrecht in die Ohren; er sah den Vicomte, der sein letztes Gut verspielt hatte, einen Bettler, dem er Kupfermünzen zuwarf; dem Marquis von Tresmes rannte er den Degen durch den Leib, und Herrn von Rantzau gab er Fußtritte oder ließ ihn durch seine Leute zum Fenster hinauswerfen. Um die beiden Schwestern gingen seine Gedanken wie glühende Schlangen, und er träumte in der Nacht in schauerlicher Verwirklichung, was er am Tage wie schwache Schemen vor sich gesehen hatte. Wenn er dann keuchend erwachte, und sich in dem dunkeln Zelt oder im Quartier, in dem er schlief, umsah und sich allein fand, und allmählich sich besinnend, die Ereignisse zusammenstückte und die Vergangenheit immer wieder erneut durchlebte, dann bäumte er sich wie in einem Krampf der Wut auf seiner Lagerstätte und fühlte, daß sein Haß wie ein unaufhörlicher, fast greifbarer Strom von ihm ausging.

Nach außen und des Tags hielt er sich in strenger Zucht wie seine Leute. Da ihm am Leben wenig, am Dienst und an der Ehre viel gelegen war, zeichnete er sich auch hier aus. Dennoch mußte er lange auf Beförderung warten. Denn Herr von Turenne, der selbst von ernstem und schwerblütigem Wesen war, liebte die leichten und freudigen Menschen, und so kam es, daß Saint-Roust anfangs wenig Gunst bei ihm fand. Aber einmal geschah es, daß der Marschall ein Gelände rekognoszieren wollte, und da ihm jemand gesagt hatte, daß Saint-Roust die Gegend von früheren Feldzügen besonders genau kannte, diesen zur Begleitung befahl. Sie waren ganz bei der Sache, und Saint-Roust, an nichts als an die bevorstehende Affäre denkend, führte den Marschall von Hügel zu Hügel immer weiter vorwärts, ihn auf Stellungen und Gelegenheiten aufmerksam machend, während dieser ihn nach seiner Gewohnheit schweigend anhörte und nur hie und da nickte oder eine Frage stellte. Auch als sie mit der Besichtigung zu Ende waren und umkehrten, sagte Herr von Turenne kaum ein Wort; sie schlugen eine Straße ein, die auf kürzerem Weg zum Lager zurückführte, die andern Herren des Gefolges waren ein wenig zurückgeblieben; nur Saint-Roust ritt noch immer neben dem Marschall, der ihn nach seinen früheren Feldzügen zu fragen begann. Dadurch kamen sie auf den Marschall von Guines zu sprechen; Saint-Roust hob in seinen Berichten das besondere Geschick hervor, das Herr von Guines in der Verwendung der Artillerie und bei Belagerungen besaß; und Herr von Turenne gab dies im allgemeinen zu. In seiner schweren Weise, mit tiefer Stimme und wie mit Mißtrauen sprechend, fragte er nun Näheres über das Haus Guines, und Saint-Roust hörte sich sagen, daß der Vicomte zwar ein Spieler, aber auch ein tollkühner Reiter und ein glänzender Offizier sei, daß Frau von Tresmes eine schöne Frau von lieblichem und feinem Wesen und Fräulein von Guines eine strahlende und geistvolle Schönheit sei.

Sie ritten langsam auf der dämmernden Straße, die müden Pferde senkten schnaubend die Köpfe und ließen mit trägen Hufen den Staub der Straße aufwirbeln, der Reiter und Tiere bedeckte, die Sonne war hinter einem dunkeln Waldrücken niedergegangen, und der Schimmer der Erinnerung war mit ihr versunken. Saint-Roust sprach kein Wort mehr; der Marschall schwieg; aus der Ferne kamen Trompetentöne von einer Vedette, die sie kommen gesehen, und ihre Rückkehr anzeigte.

Am Abend, als er allein war, ward Saint-Roust sich bewußt, daß er von diesen Personen, die er haßte, fast nur Gutes hatte sagen müssen, aber ihr Unrecht gegen ihn erschien ihm dadurch nur um so fürchterlicher.

Das Treffen von Signy l'Abbaye, das in den nächsten Tagen geschlagen wurde, war eines von jenen, in denen Herr von Turenne durch seine meisterliche Ausnützung des Geländes siegte. Wenige Wochen später erhielt der Herr von Saint-Roust ein Kavallerieregiment. Er fand auch einen Mann, der ihm das nötige Geld vorstreckte.

In jenem Gefecht, das besonders blutig gewesen war, weil die Flamländer um einer Rache willen geschworen hatten, Pardon weder zu nehmen noch zu geben, war einem vornehmen Herrn des Hofes, dem Grafen von Beauvilliers, der kurz vorher gleich vielen andern ins Lager gekommen war, um eine Aktion mitzumachen, durch eine Stückkugel das Pferd zerrissen und er selbst schwer am Knie verwundet worden. Hätte nicht Saint-Roust, der sich gerade in seiner Nähe befand, mit wenigen Leuten bei ihm ausgehalten, so wäre er verloren gewesen. Der Vater des Verwundeten, der Herzog von Saint-Aignan, der der erste Kammerherr des Königs war und schon einen Sohn in Afrika verloren hatte, war an das Krankenlager des Grafen nach Rethel geeilt. Von dort hatte er einem andern Herrn, der sich zur Armee begab, einen Brief für Saint-Roust mitgegeben, in dem er ihm neben andern Dankesbezeigungen versicherte, daß, wenn Herr von Saint-Roust jemals einen Dienst von ihm verlangen wollte, den zu erweisen in seiner Macht stünde, er sich besonders glücklich schätzen würde.

Sobald das Heer die Winterquartiere bezog, ritt Saint-Roust zum erstenmal wieder nach Paris und dort sogleich nach dem Schloß des Herzogs. In dem weiten Hof standen viele Karossen und Sänften; Saint-Roust mußte sich mit seinem Diener erst durch eine ganze Schar lungernder Lakaien drängen, ehe er ans Haustor gelangte, und es kostete ihn einige Mühe, bei dem Herzog gemeldet zu werden. Dieser eilte ihm sogleich entgegen und empfing ihn mit allen Zeichen der Freude und Ehre; er bestand, – wie Saint-Roust es nicht anders erwartet hatte, – darauf, daß dieser bei ihm wohne, geleitete ihn selbst nach einem schön ausgestatteten Zimmer, wo er sich zunächst umkleiden könnte, und bat dann, er möge ihn solange entschuldigen, da sein Haus gerade voll von Besuchern sei. Saint-Roust hielt ihn nur einen Augenblick zurück, um ihn an seinen Brief und sein Versprechen zu erinnern und ihn zu fragen, ob er noch immer der gleichen Gesinnung für ihn sei. Und als der Herzog auf diese Erinnerung lächelnd »Gewiß, gewiß!« antwortete, bat Saint-Roust ihn sofort, daß er Herrn von Rantzau in seinem Namen zum Duell fordern möge.

Überrascht und, wie es schien, ein wenig betroffen, sah der Herzog ihn an; dann lächelte er wieder. War es, daß der begehrte Dienst ihm, der täglich um den König war und fast jeden Abend mit den Ministern am Spieltisch saß, für Saint-Roust zu gering, für ihn selbst vielleicht zu groß erschien, ... Saint-Roust atmete eine halbe Minute schwer, da er auf die Antwort wartete. Er wußte, daß Rantzau das Duell, daß er sonst zweifellos abgelehnt hätte, einem Mann von diesem Range nicht weigern durfte. Der Herzog, der zwei Schritte auf und ab gemacht hatte, blieb jetzt vor ihm stehen. »Sie wollen diesen Mann töten?« fragte er.

»Ja!« antwortete Saint-Roust.

»Gut. Aber Sie werden, wenn ich Ihnen auch zu Diensten stehe, eine Weile damit warten müssen, denn Ihr Gegner befindet sich in der Bastille.«

Und er erklärte dem Überraschten, daß Herr von Rantzau wenige Wochen nach seiner Vermählung mit dem Fräulein von Guines plötzlich verhaftet worden war. Der Grund der Verhaftung war unbekannt, aber er mußte wohl ein sehr bedenklicher oder der Einfluß und die Gunst, deren der Marschall von Guines sich bei Hof erfreute, sehr im Sinken sein, da er die Befreiung seines Tochtermanns nicht erreichen konnte.

»Dann werde ich eben warten«, sagte Saint-Roust, sah vor sich hin, nickte ein paarmal mit dem Kopf, und fragte dann, wo die Gattin des Gefangenen, das frühere Fräulein von Guines, sich befände; und erhielt die Antwort, daß sie von aller Welt verlassen auf einem Schloß in der Provinz wohne, das man ihr angewiesen und wo höchstens ihre Schwester, die Marquise von Tresmes, sie manchesmal zu besuchen käme. Damit entschuldigte Herr von Saint-Aignan sich nochmals, da er zu seinen Gästen zurückkehren müsse, bat Saint-Roust, ihm, sobald er ausgeruht sei, in die Empfangsräume zu folgen, und in der Türe sich noch einmal umdrehend, sagte er mit leichtem Lächeln: »Frau von Tresmes, der Sie vielleicht nicht gerne begegnen würden, wird bis dahin das Haus schon verlassen haben: jetzt dürfte sie noch unten im Gespräch mit Frau von Saint-Aignan sein.«

Mit keiner Bewegung verriet Saint-Roust, was in ihm vorging, weder jetzt, noch als er eine Stunde später, nachdem er sich mit Hilfe seines Dieners sorgsam gekleidet, die breiten Treppen zum Erdgeschoß hinabstieg und von Saal zu Saal schritt, zwischen kostbaren Tischen und Schränken von seltsamer Arbeit, während von den blaßbunten Wandteppichen dort die Verführung der Leda, hier die Paladine Karls des Großen mächtig und leblos auf ihn niederschauten. Stimmengeräusch, das er von fern vernommen hatte, wurde lauter, – da und dort standen oder gingen geschmückte Damen und Herren, bis er in ein Gedränge eintrat. Man ging eben zur Mahlzeit; mächtige Suppenschüsseln wurden von den Speiseträgern abgedeckt; es duftete nach gebratenen Vögeln, nach gewürzten Reis- und Fleischspeisen. Diener trugen Kannen mit Wein und Hypokras. Drei Tafeln waren aufgestellt, eine für die Gäste, eine zweite und dritte für die dienenden Edelleute und das Gefolge. Da der Herzog Saint-Roust als den Retter seines Sohnes vorstellte, sagte die Herzogin ihm dankbare und alle andern schmeichelhaften Worte, und er sah sich in ungewohnter Weise gefeiert. Nach der Mahlzeit stand ein hagerer schwarzgekleideter Mann mit schäbiger Perücke auf und erbat sich die Erlaubnis, die Ode, die er seinerzeit auf die Rettung des Herrn Grafen von Beauvilliers verfaßt und die in allen Salons soviel Beifall gefunden, bei dieser Gelegenheit wieder vortragen zu dürfen. Mit einem Lächeln wurde die Erlaubnis gewährt, und zu seiner höchsten Verlegenheit hörte Saint-Roust immer wieder seinen eigenen Namen und sich selbst als todesverachtenden unvergleichlichen Helden preisen. Höflicher Beifall folgte. Dann stand man rasch auf; der hagere Mann stellte sich ihm vor, hörte seine abwehrenden Dankesworte mit herablassender Miene an und begann ihm sogleich die Schönheiten der Ode zu erklären, bis der Herzog ihn freundlich unterbrach, worauf er mit tiefster Verbeugung zurücktrat. Herr von Saint-Aignan aber lud Saint-Roust ein, in seinem Wagen mit ihm ins Theater Bourgogne zu fahren, wo ein neues Stück des Herrn von Racine aufgeführt wurde, das ganz Paris zu sehen ging.

Das Spiel hatte begonnen, als sie ihre Plätze einnahmen, – süße und leidenschaftliche Verse gekränkter Liebe rissen Saint-Roust' ungewohntes Gemüt völlig hin. Als im Zwischenakt der Vorhang gesenkt wurde, blieb er ganz in sich versunken auf seinem Platze sitzen. Die meisten waren aufgestanden; rings um ihn sprach und stritt man über den Wert des Stücks und der Darsteller; irgendein Wort, das aus dem Lärm an sein Ohr schlug, ließ ihn aufsehen; zugleich teilte sich eine Gruppe von Herren, die bisher dicht vor ihm gestanden und ihm jede Aussicht verschlossen hatten; sein Blick traf die Logengalerie an der Wand: dort saß ihm gerade gegenüber, den riesigen Körper im Stuhle zurückgelehnt, das Gesicht, aus dem die tiefliegenden Augen zu beiden Seiten der Hakennase unter der mächtigen dunkeln Perücke hervorblitzten, vorgeneigt, die Hände über dem Krückstock gekreuzt, der Marschall von Guines. Über ihn beugte sich lächelnd das blonde Gesicht seines Sohnes; neben ihm saß, breit, blaß und unangenehm, der Marquis von Tresmes. Im nächsten Augenblick waren alle drei aufgestanden, und da hinter ihnen ein Lüster mit vielen brennenden Kerzen hing, fiel ihr Schatten lang in den Saal und gerade über Saint-Roust, der plötzlich im Dunkeln saß.

Der hatte unwillkürlich den Degen gelockert; aber er wußte auch schon, daß dies Verrücktheit war. Er blieb auf seinem Platz. Allmählich setzte sich alles wieder und im Saal ward Ruhe; auf der Bühne drohten, klagten und starben die Komödianten, aber Saint-Roust sah und hörte sie nicht mehr. Erst ein nicht endendes Beifallrufen und Stöcke auf den Boden schlagen, erweckte ihn. Im Gewühl der aus dem Theater strömenden Menge sah er niemanden, den er kannte.

Bestürmt von vielen Gedanken, verbrachte er die Nacht. Da der Herzog ihm am andern Tag anbot, ihn bei Hofe vorzustellen, dankte er mit den Worten: »Die Absätze meiner Schuhe sind noch nicht hoch genug.« Herr von Saint-Aignan lächelte, aber er drängte nicht. Er mochte sich fragen, ob sein Gast in Versailles Figur machen würde. Saint-Roust bat ihn, seine Gunst, deren er noch einmal bedürfen könnte, ihm erhalten zu wollen. Paris sei nicht der geeignete Ort für ihn; und es sei ihm klar geworden, daß der Platz eines Offiziers auch im Winter bei seinem Regiment sei. Damit beurlaubte er sich, ritt zurück nach Lothringen, wo die Armee im Quartier lag, und drillte seine Leute.

Drei Jahre später hatte er das Patent als Brigadier und zählte zu den Offizieren, denen Herr von Turenne die schwierigsten Aufgaben übertrug. Nach der Einnahme von Arnheim hatte der Marschall ihn dem König vorgestellt, und dieser hatte sehr freundliche Worte an ihn gerichtet. Der Platz war von zwei französischen Armeen belagert und durch gleichzeitigen Angriff genommen worden. Zu Mittag hatte Saint-Roust die Zitadelle erstürmt und die Verbindung mit der andern Armee hergestellt; ihm übergab der Kommandant, ein Graf Salm, seinen Degen. Fast wären ihm, da die Zitadelle an der Nordseite der Stadt lag, die dort stürmenden Truppen zuvorgekommen, er sah sie im Sonnenschein auf den Wällen kämpfen, sah das Waffenblitzen in Dampf und Staub, und das Ringen an den Geschützen; dann hatte er den Befehlshaber, der sie – wie er seine Leute – zum äußersten anfeuerte, plötzlich sinken sehen, worauf der Angriff ins Stocken geriet, bis Saint-Roust die Verteidiger im Rücken faßte.

Eine Stunde später ritt er durch die Straßen des Städtchens. Menschenleer, verschlossen, da und dort vom Feuer zerstört, standen die Häuser. Bei einigen waren die Tore erbrochen, hallende Schritte und Rufe, dumpfer Fall von Möbeln und Gegenständen verriet, wer darin hauste. Auf einem kleinen Platz taumelte eine junge Frau, von plündernden Soldaten häßlich bedrängt, aus einer Haustüre gerade vor ihn, so daß er sein Pferd zurückreißen mußte. Sie hatte sich bisher schweigend gewehrt, jetzt schrie sie zu ihm um Hilfe. Aber die Raserei der Männer war entflammt, sie hörten gar nicht auf ihn, und erst als er einen verwundet hatte, ließen die andern sie unter Flüchen und Drohungen fahren. Im nächsten Augenblick war ihm der Weg gesperrt; der kleine Platz war voll von Soldaten, die betrunken aus einer Kneipe und ihren Kellern hervorkamen, und sich mit wildem Geschrei und wutverzerrten Gesichtern gegen ihn und seine wenigen Begleiter stellten. Zu seinem Glück war eine Abteilung seiner eigenen Leute, die hinter ihm zurückgeblieben war, herangekommen, und auf seinen lauten Ruf »Zu mir, Saint-Roust!« machten sie sich, im Keil aufreitend, längs den Häusern zu ihm Bahn. Während nun verhandelt und hin und her geschrien wurde, kam von der andern Seite Fußvolk anmarschiert, das die enge Gasse von einer Häuserreihe zur andern anfüllte und sich jetzt vor dem Platz staute; hinter den Reihen tauchten die Federhüte der Offiziere und die Köpfe ihrer Pferde auf. Es zeigte sich, daß es die gleiche Truppe war, zu der die Leute vor ihm gehörten, und an den Fahnen und Feldzeichen erkannte Saint-Roust, daß er sein eigenes früheres Regiment, bei dem er solange gestanden, das Regiment Guines, vor sich hatte. Kommandorufe erschollen; den Offizieren wurde eine Bahn geöffnet: bleich, von zwei andern gestützt und mühsam auf dem Pferde erhalten, an Hand und Haupt und Brust mit blutigen Tüchern verbunden, kam der Oberst in den freien Raum geritten. Auch Saint-Roust wurde bleich, als er den Vicomte von Guines erkannte. Im selben Augenblick wußte er auch mit unzweifelhafter Gewißheit, obwohl er keinerlei Beweis hatte, daß der Vicomte der Mann war, den er auf den Wällen fallen gesehen und dem er die Ehre des Tages aus der Hand hatte winden können.

Der aber wollte, sowie er die ersten Worte gehört, nur das eine wissen, wer seinen Mann verwundet hatte. Und so erschöpft er vom Blutverlust war, so sehr ihn Schmerz und Fieber im Sattel schüttelten, so unbändig waren der Haß und Hochmut, mit dem er seine Fragen stellte.

Saint-Roust, von den heftigsten Empfindungen bewegt, antwortete nicht minder hochmütig. Der Vicomte aber, als ob er ihn gar nicht gehört hätte, ihn überhaupt nicht bemerkte, fuhr fort, nur mit seinen Offizieren zu sprechen. Saint-Roust, der vor den eigenen Leuten seinen Rang zu wahren hatte, saß, jetzt vor Wut bleich, und mit zuckenden Lippen im Sattel. Noch überlegte er die verhängnisvollsten Befehle ... da dröhnte außerhalb der Stadt ein Kanonenschuß; ein zweiter und dritter folgte und mehr, dumpf hallend, in regelmäßigen Abständen. Gleichzeitig kam ein Ordonnanzoffizier auf schweiß- und staubbedecktem Pferd die Straße herabgesprengt, der Saint-Roust suchte und ihm ein Schreiben übergab. Saint-Roust erbrach und las es; die Farbe wechselte auf seinem Gesicht, – nun ritt er vor und erhob die Hand, und sein Pferd, das unruhig geworden war, mit einiger Mühe festhaltend, rief er mit lauter Stimme, und ohne daß irgend jemand ihn unterbrach: »Meine Herren, Seine Majestät der König ist soeben vor Arnheim eingetroffen; alle höheren Offiziere sind ins Hauptquartier befohlen.« Damit stieß er den Degen, den er noch immer blank hatte, in die Scheide, nahm den Federhut ab und schwang ihn: »Es lebe der König!«

Brausend tönte der Ruf von allen Seiten. Als wiederum Stille eintrat, lauschten alle, von der Nachricht erregt und abgelenkt, auf Saint-Roust, der, während sein Pferd ihn ein paar Schritte weiter den Reihen entlang trug, auf das Papier in seiner andern Hand weisend, fortfuhr: »Der Herr Marschall hat mich zum Kommandanten und Quartiermeister in Arnheim ernannt. Hiermit übernehme ich das Kommando und befehle: die Regimenter Saint-Roust und Artois besetzen die Festung; das Regiment Guines bezieht seine alten Quartiere vor der Stadt.«

In dem betretenen Schweigen, dem Augenblick des Zögerns, der diesen Worten folgte, sah Saint-Roust, der seine Augen nicht von dem Antlitz seines Gegners löste, wie Herr von Guines, mit aufeinandergepreßten Lippen eine unbestimmte Bewegung machte: im nächsten Augenblick klirrte sein Degen auf dem Pflaster, während die Hand, die ihn gehalten hatte, schlaff herabfiel. »Sorgen Sie für Ihren Obersten!« rief Saint-Roust, da er ihn zurücksinken sah, den Guinesschen Offizieren zu, und: »Sorgen Sie, daß meine Befehle ausgeführt werden!« Niemand antwortete. Er befahl seinen Reitern, Kehrt zu machen, und ritt, ohne sich umzusehen, mit ihnen davon, ins Lager, um dem König vorgestellt zu werden.

Erst viele Stunden später erinnerte er sich des Mädchens, das den Anlaß zu dem ganzen Vorfall gegeben hatte. Seit frühester Jugend gewohnt, Schreckliches verüben zu sehen, war er sich bewußt, daß es nicht allein ihr Hilferuf gewesen, daß irgend etwas in ihrer Erscheinung und Stimme ihn wie mit einer Erinnerung ergriffen hatte. Dennoch fühlte er jetzt nicht mehr als ein flüchtiges Bedauern, und er hätte sie vergessen, wenn sie nicht zwei Tage später von selbst zu ihm gekommen wäre. Weder in der halbzerstörten Stadt und ebensowenig auf dem von brennendem und plünderndem Kriegsvolk überfluteten und durchstreiften Land hatte sie eine Zuflucht. So kam es, daß er sie bei sich behielt. Sie wünschte sich nichts besseres, und in den Quartieren, auf dem väterlichen Gut, wo er das verfallene kleine Schloß mit den spitzen runden Ecktürmen wieder hatte herstellen und verschönen lassen, diente sie ihm mit bescheidener Zärtlichkeit. Er aber fragte sich oft, worin die Ähnlichkeit mit Frau von Tresmes liegen mochte, da sie braunes Haar hatte und von dunkler Hautfarbe war, und wurde doch den täuschenden Reiz nicht los, der ihn anzog.

Er fühlte sich nun genug, um an den Hof zu gehen, und verbrachte alljährlich einen Teil des Winters in Paris. Er erschien beim Morgenempfang in Versailles so oft, als er es seiner Ehrerbietung schuldig zu sein glaubte, aber er versuchte nicht zu glänzen.

Eines Vormittags, der König war eben, groß und lächelnd, von Gardeoffizieren, Kammerherren und Marschällen gefolgt, durch die Galerie geschritten, für 3 Uhr war Spiel und Musik angesagt, und Saint-Roust wollte sich zurückziehen, als Herr von Saint-Aignan ihn aufforderte, ihn bei einem Besuch, den er Herrn Mignard, dem Direktor der königlichen Sammlungen, machen wollte, zu begleiten. Während der Herzog, der für alle schönen Künste entflammt war, in eifrigem Gespräch mit Herrn Mignard stand, ging Saint-Roust, nachdem er eine Weile höflich zugehört, in der Werkstatt des Malers umher und besah sich die Bilder, die in großer Zahl an den Wänden hingen. Plötzlich unterdrückte er mit Mühe einen Ausruf, als er, in eine Abteilung des großen Raumes tretend, auf einer Staffelei das Bild der Marquise von Tresmes erblickte, in Farben, als ob sie ihm lebendig entgegengetreten wäre. Wie atmend hob sie sich von dem blauen Hintergrunde der Luft und Wolken, während der grüne Park mit stillen Marmorfiguren und Brunnen sich in der Ferne verlor. Sie schien etwas voller in Gesicht und Gestalt, aber sonst kaum verändert, in ihrem Gesicht war das traurige Lächeln, das er kannte, der Ausdruck einer schmerzbeladenen Seele und einer großen Güte, der ihn immer ergriffen hatte und jetzt wieder ergriff, ohne daß er sich dessen in klaren Gedanken bewußt geworden wäre. Zu ihren Füßen kauerte, zu ihr hinaufstarrend, ein Neger, der den einen Arm um ihren Hund gelegt hatte; in einem Wölkchen in der Ecke des Bildes zielte der Liebesgott mit Bogen und Pfeil.

Er blickte sich um, ob jemand ihn beobachtete, aber die Herren sprachen noch immer am fernen Fenster; ein jüngerer Mann, ein Maler, war ehrfürchtig hinzugetreten und hielt die Kartons, die sie betrachteten. Bei der Bewegung fiel Saint-Roust' Blick, der bisher auf das Gemälde gebannt gewesen war, auf zahlreiche Skizzen zu dem Porträt, die am Fuße der Staffelei standen; auf der einen hatte sie das Haupt mit dem Arm gestützt und sah sinnend in die Ferne hinaus, auf einer andern hielt sie ein geöffnetes Kästchen mit Perlen und Schmucksachen im Schoß, die sie betrachtete; auf einem dritten Blatt sah sie ihn lachend an; und doch war es selbst im Lachen, als ob in ihren Augen Tränen stünden. Er sagte sich, daß sie kürzlich hier gewesen sein mußte, daß sie in jedem Augenblick eintreten konnte, und der Atem stockte ihm. Unwillkürlich blickte er nach der entfernten weißen Doppeltür; sie blieb verschlossen, und er verlor sich wieder im Ansehen des Bildes.

In sein Sinnen tönten die nahenden Schritte und Worte der andern. Langsam entfernte er sich von der Stelle, an der er nicht getroffen werden wollte. Aber er kam noch öfters zu Herrn Mignard und ließ sich von dem höflich lächelnden Maler umherführen, und erstand zuletzt, wie durch eine zufällige Wahl, eine der Skizzen, die er wohlverwahrt nach seinem Schlosse brachte. Als er das letztemal im Atelier gewesen war, befand sich das Bild nicht mehr auf der Staffelei. Aber er hatte keine Frage gestellt. Er war dann sogleich an den Rhein gereist, und in den folgenden Jahren hatte ihn der dauernde Krieg so völlig hingenommen, daß er an anderes zu denken wenig Zeit fand, bis er beim Weserübergang schwer verwundet wurde. Als sein Zustand sich soweit gebessert hatte, daß es ohne Gefahr geschehen konnte, wurde er nach seinem Gute gebracht.

Dort saß er, mehrere Wochen später, in einem Lehnstuhl gebettet, im dunkelnden Zimmer, da es im Freien zu kühl geworden war, nahe der offenen Türe zu einer Gartenterrasse, auf der das bleiche Herbstlicht lag. Seitdem er wieder klar denken konnte, sann er, wie sein Zustand und die erzwungene Muße es mit sich brachte, über das eigene Leben nach, das so nahe daran gewesen war, seinen Abschluß zu finden. Er sah sich als Knaben vor dem Marschall von Guines stehen, und Begegnungen ohne Ende bis zu jenem letzten Abend im Park von Tresmes. Sein Blick glitt nach dem stets verhüllten Bilde an der Wand ihm gegenüber, und ungeduldig schlug er mit dem Krückstock, der neben seinem Stuhle lehnte, auf die Erde.

Die Frau, die mit ihm lebte, erschien in der Türe und ihre wohlklingende Stimme fragte: »Was willst du?«

Er schüttelte den Kopf: »Den Diener«, sagte er. Sie verschwand. Er wußte, sie saß draußen bei einer Arbeit mit ihrem Kinde, einem Knaben, den sie ihm geboren hatte. Den eintretenden Mann hieß er die Türe schließen und das Tuch von dem Bild entfernen. Dann verlangte er Licht, und beim Schein der Kerzen sah er in das Gesicht, das so schmerzlich zu lachen schien.

Sie und ihre Schwester lebten irgendwo auf dem Lande, einsam und unglücklich. Der Marschall von Guines wurde nicht mehr bei Hofe empfangen. Er war alt, krank und gebrochen. Auch sein Sohn, der Vicomte, war ein siecher Mann, vielleicht schon ein Toter. Herr von Rantzau war nach siebenjähriger Haft entlassen und des Landes verwiesen worden, so daß er ihn nicht hatte fordern und erstechen können, wie er sich vorgenommen. Aber Schritt um Schritt waren seine bösen Wünsche in Erfüllung gegangen. Wie oft, wenn er es bedacht, hatte er eine wilde Rachefreude gefühlt und einen Schrecken zugleich. Auch jetzt lief ein leichter Schauder über ihn.

Er sann darüber, was er erreicht hatte und was ihm noch zu erreichen blieb. Herr von Turenne war seit fünf Jahren tot. Er hatte dann unter den Marschällen von Lorges und Créqui nicht ohne Ruhm gedient; er konnte davon träumen, selbst Marschall von Frankreich zu werden.

Von draußen tönte ein trauriges Lied, das die Mutter seines Kindes sang. Mit der Krücke seines Stockes zog er den Vorhang wieder vor das Bild, dann ließ er den Kopf müde in die Kissen sinken. Als die beiden eine Weile später hereinkamen, fanden sie ihn schlummernd. Das Licht der Kerzen ließ sein scharfes dunkles Gesicht sich noch schärfer von dem schweren Schatten abzeichnen, der auf dem übrigen Teil des Raumes lag, und an der einen Wand erschien riesenhaft sein Profil wieder. Das Kind hob scheu die Hände zu den seinen empor und streichelte sie.

Aber als der Winter vergangen war und die Märzsonne kräftiger schien, schritt er wieder stark durch die Felder, und als der April mit seinen Stürmen und Schauern kam, stieg er zu Pferd und ritt zur Armee. Er war bei der gewohnten rauhen Reiseart geblieben und verschmähte es, sich in der mit sechs mächtigen Pferden bespannten Karosse über die Straßen Frankreichs ziehen zu lassen, wie die andern Generale es taten.

Von Anfang an verlief seine Reise widerwärtig. In der ersten Herberge bekamen seine Diener Streit mit betrunkenen Bauern, und er mußte zwei von ihnen verwundet zurücklassen. In Compiègne erreichte ihn der Befehl, achthundert Reiter nach dem Elsaß zu führen. Die Leute waren neugeworben und zuchtlos, und er hatte endlose Mühe und Ärger mit ihnen. In den Lüften tosten Gewitter; die Regengüsse machten die schlechten Straßen ungangbar; Pferde scheuten und verletzten sich, Leute entliefen, Zehrung und Fourage waren schwer aufzutreiben. Finster und mißmutig gelangte er bis an die Grenze der Freigrafschaft.

In Fresnes erschien der Gouverneur der Stadt in seinem Quartier: aufständisches Landvolk plünderte Schlösser und Klöster; er hatte niemanden; schlotternd vor Angst, denn schon ging das Gerücht, daß die Haufen gegen das Städtchen selbst anrückten, bat er Saint-Roust, mit seinen Leuten einzugreifen. Saint-Roust war es einerseits recht, diese gleich zu verwenden und damit noch besser zurechtzubringen, anderseits mißfiel es ihm, die Bauern hängen zu lassen, die ihm leid taten, da er ihre Not kannte und der aufgeregte Gouverneur ihm nicht der Mann schien, der für die Gegend Sorge zu tragen verstand. So gab er seinen Reitern Befehl, zwar jene, die sie beim Plündern und Brennen trafen, niederzuschießen, die Gefangenen aber womöglich entlaufen zu lassen. Damit aber war der Gouverneur nicht zufrieden, der Gericht halten wollte, und erhob Vorstellungen. Saint-Roust, der in seiner düstersten Laune war, nahm diese übel auf; er wollte sofort abreiten. Der zitternde Mann beschwor ihn fast auf den Knien zu bleiben; eben kamen wieder fürchterliche Nachrichten, und Saint-Roust, der in sich keine Ruhe fand, saß selbst auf und ritt an der Spitze eines Zugs nach dem Tal, aus dem der Notruf gekommen war.

Vor einem zerstörten, noch rauchenden Landhaus lag ein alter Edelmann, dem der Schädel eingeschlagen war, neben ihm eine erschossene Frau, die grauen blutbefleckten Haare hochfrisiert; unter dem gelbseidenen, mit vielen Schleifen gezierten Rock sahen seltsam steif die Beine in blauen Strümpfen hervor.

Drei Männer wurden eingebracht, ein alter Bauer mit großen finstern Zügen; neben ihm standen trotzig, barfuß, niedere finstere Stirnen unter den straffen schwarzen Haarsträhnen, seine beiden Söhne. Die noch blutigen Äxte und Sensen waren ihnen abgenommen worden. Während ein paar Soldaten bereits die Stricke an den Zweigen einer breitästigen dunkeln Linde festmachten, war aus einer nahen Kirche, in der ein vor Schrecken halb verrückter Küster noch immer Sturm läutete, ein Geistlicher geholt worden, der selbst am ganzen Körper zitternd, den drei Männern verworren, zumeist in lateinischen Worten zusprach. Sie hörten gar nicht auf ihn. Da faßte Saint-Roust den Arm des Alten und wies ihm die Leichen der Ermordeten. Der alte Mann wartete gleichmütig, bis er seinen Arm losließ, dann sagte er:

»Wenn Ihr so gekränkt worden wäret wie ich, gnädiger Herr, Ihr würdet Euch auch gerächt haben.«

Bis ins Innerste getroffen, wendete Saint-Roust sich ab. In raschen ruhelosen Schritten ging er immer auf der selben kurzen Strecke hin und zurück. Alles schwieg. Der Sergeant wartete.

Ein roter Schein überzog den Himmel. Hinter dem Hügel mußte ein neuer Brand angesteckt worden sein.

Erregt stellte Saint-Roust ein paar rasche Fragen an den Geistlichen, der die Leute kannte. Dann hieß er den Jüngsten freigeben. Der sprach kein Wort; aber da sie an den Alten Hand legten, rief dieser ihm etwas zu. Saint-Roust wendete sich ab. Der Junge stand ganz starr. Als alles vorüber war, stieß er einen wilden Schrei aus, sprang über die niedere Mauer hinter ihm und warf sich die Böschung hinab. Einige der Soldaten wollten ihm nach, aber Saint-Roust rief sie zurück. Man mußte rasch aufsitzen, um auf einem weiten Umweg um den langgestreckten steilen Hügel herumzukommen.

Sie ritten schweigend durch das düstere Tal, nur das Klirren der Waffen und des Zaumzeugs und das Schlagen der Hufe tönte gedämpft und unablässig auf dem weichen Boden.

Auf der andern Seite des Hügels angekommen, sahen sie, daß das Haus eines Zöllners angezündet und fast niedergebrannt war; der Zöllner selbst hing an einem halb verkohlten Balken vor seiner Türe.

In einiger Entfernung stand, in mächtigem Schatten vom Abendhimmel sich abhebend, ein Schloß mit breiten Freitreppen aus grauem Stein. Es schien unbewohnt. Kein Mensch war in der Nähe außer dem toten Zöllner; Plünderer wie Einwohner waren geflohen.

Die Reiter trabten über breite Kieswege zwischen stillen Rasenplätzen. Tor und Türen waren festgeschlossen. Aber nach lautem Rufen und Pochen erschien oben auf der Freitreppe eine Gestalt: mit vorsichtigen gebrechlichen Schritten kam ein alter schwarzgekleideter Mann die Treppe herunter, der Saint-Roust, als er vor ihm stand, wunderlich bekannt vorkam.

»Wem gehört das Schloß?« fragte er.

»Dem Herrn Marquis von Tresmes«, antwortete der alte Mann mit einer Stimme, die in der Abendluft seltsam dünn und erloschen klang. Gleichzeitig machte er vor Saint-Roust eine tiefe Verbeugung. Da erkannte er den Haushofmeister der Marquise, der, damals schon bejahrt, jetzt uralt geworden war.

»Wo ist der Herr Marquis?« fragte er wieder.

»In Paris.«

»Und die Frau Marquise von Tresmes?«

»Dort!« sagte der Alte und wies in den Park hinaus.

»Wo? Führen Sie mich zu ihr!«

Er schritt mit dem alten Mann durch die Alleen, der mit bescheiden gezogenem Hute neben ihm herging und darauf achtete, immer um einen halben Schritt hinter ihm zurückzubleiben, bis sie die Parkmauer erreicht hatten. Hier wies er ihm einen runden Rasenfleck, auf dem, erhöht auf einem kleinen Hügel, ein mit zwei Wappen geschmückter Sarkophag und dahinter ein hohes dunkles Steinkreuz stand. Auf dem Marmor las er in goldenen Lettern eine prunkende Inschrift, mit allen Titeln und Namen der Verstorbenen; nur die letzte Zeile lautete: »Betet für ihre arme Seele!«

Schweigend und regungslos blieb Saint-Roust stehen. Der Alte machte, von ihm ungesehen, eine tiefe Verbeugung und verschwand in der Dämmerung. Als Saint-Roust allein war, kniete er nieder und betete lange. Dann blieb er in Sinnen versunken am Ort. Die Dämmerung wurde immer tiefer. Nur manchmal drang ein Ruf, ein Wiehern von der andern Seite des Schlosses herüber, wo die Reiter hielten oder auf dem Kies auf und nieder ritten.

Auf einmal machte ein Geräusch ihn auffahren. Er hörte etwas surren, fühlte einen Schlag auf die Brust, sah noch über dem Mauerrand ein düsteres Gesicht, eine niedere Stirn, um die lange schwarze Haarsträhnen fielen, ... dann breitete er die Arme aus und fiel vornüber tot zu Boden.

*


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