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Das Gesicht des Herrn von Brion

Vom Tarn zur Aude über die schwarzen Berge führten zwei Straßen in das heiße Tal des Fresquel hinab. An der einen lag ein Dorf; weiße Steingehöfte zwischen Kastanien und Buchen, Granaten und Ölbäumen. Spät im August 1632 schollen Hufschläge und Waffenklirren vom Berge her; dann ritten sechzehn Herren in Koller und Spitzenkragen, mit Federhüten und Bandolieren vor, hielten am größten Hofe, sprangen ab und fragten, ob die Unterkunft bestellt sei. Schon kam ein anderer Herr ihresgleichen lachend und grüßend aus dem Hause, der breite Wirt folgte, Knechte faßten die schöngeschirrten und schweißbedeckten Rosse an den Zäumen und zogen sie den Ställen zu, und mit tiefsten Verbeugungen führte der Wirt den vornehmsten der Herren, der noch jung war, aber mit müden Augen, und, wie alle, Locken und Spitzbart trug, in sein bestes Zimmer; fröhlich plaudernd folgten die anderen: eine lange Tafel war gedeckt, Wein und Essen aufgetragen; eine schöne alte Frau trat knixend ein und wünschte Willkommen; junge Gesichter spähten neugierig durch Gänge und Türen.

Draußen dunkelte es rasch; die Herren tafelten noch, als der jüngste und schönste unter ihnen, – jung waren die meisten, – eintrat: »Mädchen, Frauen sind hier,« berichtete er, »schlank und hochgewachsen, mit herrlichem Gang, eine schöner als die andere; die Grazien müssen den Ort gegründet haben! – Eure Königliche Hoheit ...!« begann er, wollte offenbar Besonderes sagen, aber der mit den müden Augen wehrte ab. »Morgen, übermorgen wird vielleicht mit all unseren Sünden abgerechnet,« sagte er, »wir wollen heute keine neuen auf uns laden. – Gute Nacht, meine Herren! Wir wollen alle zu Bett und morgen mit dem frühsten weiter!« Damit ging er, und die anderen folgten. Männer mit Fackeln leuchteten ihnen über den Hof voran, die steinernen Treppen hinauf in die weiten Zimmer mit den mächtigen zweischläfrigen Himmelbetten, während andere sich im Dorf verteilten.

Drei Stunden später traten zwei der Männer, die noch über ihren Papieren gesessen, in die Steinloggia vor ihrer Zimmertüre; der eine alt und weißbärtig, der andere jung, aber blaß und ernst. Der heiße Atem der südlichen Nacht wogte ihnen entgegen. In der Ferne jenseits des Tales bewegten sich Lichter die Berge entlang.

»Das sind die Unseren!« sagte der Jüngere. Der andere nickte.

Gedämpfte Musik von Geigen drang an ihr Ohr, die plötzlich lauter wurde, sich in Gesang und Stampfen mischte; dann schlug eine Türe zu, und der Schall war wieder gedämpft. Durch den Garten unter den Bäumen bewegten sich eine helle und eine dunkle Gestalt.

»Entschuldigen Sie mich, Monsieur«, sagte der Jüngere plötzlich und schritt der Treppe zu.

»Gehen Sie, Graf«, erwiderte der Ältere lächelnd.

Aber der andere blieb ernst. Er schritt über den Hof ins Vorderhaus, tappte sich durch die Gänge, der Musik nach, öffnete eine Türe, sah die schwitzenden Musikanten, sah die Tische mit den Weinkrügen, sah in der Mitte wohl zehn der Herren, die heimlich ihre Zimmer wieder verlassen, mit den Mädchen tanzen und scherzen. Durch die Fenster sah er von draußen finstere Gesichter hereinstarren. Bei seinem Eintreten entstand eine Pause.

»Wo ist Herr von Conigy?« fragte er.

»Oh, Conigy? – Conigy! Herr von Conigy!« riefen die anderen laut, »Herr von Conigy!! Herr von Brion verlangt nach Ihnen!«

Es dauerte eine Weile, bis der Gerufene, der jüngste der Herren, erschien. Zerstreut lachend strich er sich die blonden Locken aus der Stirn.

»Sind die Pferde besorgt? Ist das meine verbunden?« fragte Brion.

»Ich weiß es nicht, ich denke«, erwiderte der andere.

»Sie wissen es nicht ...? Sind Sie unter mir Stallmeister oder nicht?«

»Ich habe Ihnen den Dienst aufgesagt!« erwiderte der Junge trotzig.

»Ihre Zeit ist noch nicht um!« sagte der andere, immer gleich ernst.

»Schön. Aber jetzt habe ich anderes zu tun. Sie vergeben!« erwiderte Conigy lachend, drehte sich auf den Fersen um und ging.

Die anderen schwiegen. Brion stand still und sagte kein Wort. Einer, der reichstgekleidete unter den Tänzern, trat begütigend auf ihn zu. Brion fragte nach den Pferdeknechten, hieß sie wecken, eine Laterne bringen und ging mit ihnen nach den Ställen. Die Musik fiel wieder ein. Als er über den Hof schritt, sah er im Garten zwei Schatten aufeinander zueilen.

 

Als am frühen Morgen ein Trommler durch die steilen steinigen Straßen zum Aufsitzen blies und der Herzog mit den älteren Herren die Treppe herunterkam, klang noch immer die Musik, standen oder saßen die bleichen Männer und Frauen mit wüsten Haaren noch im Tanzsaal. Mit Entschuldigungen eilten sie nach ihren Pferden; der Herzog war sichtlich unzufrieden. Der Wirt, mit dem der Weißbärtige abrechnete, verbeugte sich unzählige Male.

In dem Augenblick, da sie abreiten wollten, warf sich eine grauhaarige Frau ihnen in den Weg. »Gnädiger Herr! meine Tochter!« jammerte sie, »ihr ist heute nacht Unheil geschehen!«

»Eine so alte Glucke sollte ihre Küchlein wohl hüten können!« antwortete der Herzog lachend.

»Vornehmere Enkel könntest du dir nicht wünschen!« rief ein anderer und warf ihr ein Geldstück zu.

Finstere Gesichter sahen den Abreitenden nach. Plötzlich flog ein Stein und ein zweiter. Zwei der Herren wendeten ihre Pferde, und alles floh.

Übernächtigt, übellaunig ritten sie ins Tal. Am Fluß, wo die andere Straße mündete, stießen sie auf ihre Schar. In der Ferne stiegen Staubwolken auf. Jenseits des Flusses waren die Wiesen von Reitern voll. »Montmorency!« schrien die von drüben; »Orléans!« schrien die Angekommenen zurück.

Ein wunderschöner Reiter trieb sein Pferd durch den Fluß und sprang ab. Der Herzog von Orléans tat das gleiche, und beide umarmten einander. Andere traten zu ihnen, wechselten Briefe, breiteten Karten aus und hielten Kriegsrat.

»Bei Castelnaudary steht Schomberg mit wenig Leuten; dort greifen wir ihn morgen an und schlagen ihn,« sagte der Herr von Montmorency, »und jetzt reiten wir, daß wir zum Essen kommen.«

Am Abend in seinem Quartier im Schloß von Beaucaire schrieb der Graf von Brion eine Herausforderung an Herrn von Conigy; dann hieß er einen Diener nachsehen, ob die Herren von Jouy und von La Mothe-Goulas noch wach wären; sie sollten seine Forderung überbringen. Da sie schliefen, legte er den Brief auf den Tisch, warf sich auf sein Bett und sank selbst übermüdet in Schlaf.

Ein Pochen an seiner Tür weckte ihn: durch die Fenster schien der helle Morgen. Dennoch glaubte er noch im Traum zu liegen. Zwischen dem Tisch und ihm stand ein langer, blasser Mönch und sah ihn mit ernsten, durchdringenden Augen an. Jetzt öffnete er den Mund zu einem kalten traurigen Gruß: » Memento mori!« sagte er. Bestürzt richtete Brion sich halb im Bette auf, aber der Mönch hob abwehrend die Hand und sprach mild und traurig: »Ich weiß, daß ihr heute in ein schweres Gefecht reitet: drum komme ich, euch zu mahnen, das ihr in dieser Stunde eurer Sünden gedenket, nicht neue auf euch ladet. Der Tod wartet überall, hinter jedem Stein; aber es ist nur der zeitliche Tod, nicht der zweite, ewige. In den Kämpfen ihrer Herren zu fechten und zu töten ist der Edelleute Pflicht; aber Unbesonnene begehen tödliche Sünde, um nichtiger Ursache willen in Zweikämpfen den eigenen Bruder mordend, wie Kain ...« Er verstummte, faltete die Hände und schien zu beten. »Wohl dem, der einen gnädigen Richter findet!« sagte er noch, machte das Zeichen des Kreuzes über den Liegenden und schritt langsam aus der Tür.

Betroffen, ohne sich zu rühren, sah Brion ihm nach. Auf dem Tisch lag weiß der Brief an Conigy. Leichte Flammen schienen um ihn zu lodern, wurden größer, stiegen steil aus dem Tisch und dem Fußboden empor, loderten durchsichtig und hoch, und in ihrer Mitte lag etwas Schweres, was er nicht erkennen konnte; jetzt sah er, daß es ein Mensch war, der hingestreckt lag, aber nicht auf dem Tisch, sondern tiefer, wenngleich über dem Fußboden. Unter dem Küraß sah die bunte Seide des Waffenrocks hervor; blonde Haare fielen von der Schläfe; das Gesicht vermochte er nicht deutlich zu sehen. Dennoch erkannte er Conigy; die eine Hand hing herab; unter dem Küraß über den Waffenrock und die goldenen Fransen der blauseidenen Schärpe tropfte dunkles Blut, rann immer mehr und stärker und sammelte sich, während die Flammen lautlos um den Toten züngelten.

In dem Augenblick ward das Pochen an seiner Tür, das er plötzlich die ganze Zeit gehört zu haben meinte, stärker; die Tür öffnete sich, und die Herren von Jouy und La Mothe-Goulas traten fröhlich ein.

Brion, der noch immer, beide Hände hinter sich aufgestützt, halb erhoben im Bett lag, sah sie verstört an. Sie baten ihn, sie wissen zu lassen, was er von ihnen wünsche, da sie wie stets völlig zu seinen Diensten stünden; aber er schüttelte nur den Kopf und fragte, ob sie einen Mönch gesehen hätten. Sie verneinten es. Er fragte später die anderen im Hause: bei keinem war ein Mönch gewesen. So schwieg er und entschuldigte sich, da er ihrer nicht mehr bedürfte, und sie gingen verwundert. Den Brief, den er geschrieben, verbrannte er an der Kerze, die neben seinem Bette stand, dann fragte er, wo er einen Geistlichen finden mochte. Man sagte ihm, daß eine Wegstunde weit in der Richtung ihres Zuges ein kleines Kloster läge. Als sie vorüberkamen, stieg er ab, begehrte zu beichten und empfing das Abendmahl. Da er fragte, ob ein Mönch des Klosters am Morgen im Schloß von Beaucaire gewesen, schüttelte man den Kopf.

Wie im Traum ritt er weiter, dem kleinen Heere nach. Da schlug ein Lachen an sein Ohr, und er sah Conigy, der einen Scherz erzählte. Er konnte nicht anders und ritt auf ihn zu. Der junge Mensch schloß die Lippen, richtete sich im Sattel auf und sah ihm entgegen. Beide grüßten steif. Aber als Brion nur fragte: »Haben Sie gebeichtet, Conigy?«, da mußte der andere wieder lachen. »Nicht nur um das Heil unserer Pferde, auch um das unserer Seelen sind Sie besorgt, Graf?« fragte er.

Brion erwiderte nichts mehr und ritt weiter. Wie im Traum sah er den Hügel mit den weißen Mauern und Häusern von Castelnaudary aufsteigen, sah in den Äckern und Weinbergen Helme und Spieße leuchten und das Wasser des Flusses, der den Weg sperrte, in der heißen Sonne glitzern. Schon setzten die ersten vorne über die lange und enge Steinbrücke; er hörte die ersten Schüsse fallen, sah Herrn von Montmorency mit drei oder vier anderen über das Brücklein reiten, über einen Graben setzen und vom Pferd sinken, sah den Grafen von Moret, der durch einen Hohlweg emporzudringen versucht hatte, mit zerschmetterter Schulter sterbend zurückgebracht werden, sah die ganze Vorhut in Unordnung über die Brücke zurückweichen. Vom Castel herab donnerten die Kanonen, daß blaue Rauchwolken über den Mauern standen. Er sah die fröhlichen Herren, die in der vergangenen Nacht getanzt, ihre Rosse wenden und fliehen, und da zum Rückzug geblasen wurde, und die dichte schreckerregte Masse im wirbelnden Staub auf ihn zuströmte, bog er nach den Wiesen aus. Da scheute sein Pferd und sprang seitwärts: vor ihm lag Conigy auf der Erde; der eine Arm hing herab, die blonden Locken fielen wirr über das blasse Gesicht, unter dem Küraß über den seidenen Waffenrock und die goldenen Fransen der blauen Schärpe lief dunkles Blut, das sich auf der Erde sammelte ...

Erst viele Tage später erzählte der Graf von Brion den Herren von Jouy-Sardini und von La Mothe-Goulas, was er erlebt hatte, und der von Goulas hat es im vierundzwanzigsten Kapitel seiner Memoiren aufgezeichnet.

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