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Der Flibustier

Die grelle Hitze des Tages hatte endlich nachgelassen, das Wasser der Bucht war leise bewegt, das Vorgebirge warf einen breiten Schatten. Die furchtbare Schwüle wich vom Lande.

Das weiße Haus war den ganzen Tag in tiefster Stille gelegen. Keine Türe war gegangen, kein Schritt hatte den Kies bewegt, regungslos hingen die Vorhänge der Fenster. Auch jetzt rührte sich nichts und kein Inwohner erschien auf dem flachen Dach oder im Garten.

Nur der Springbrunnen hatte den ganzen Tag geplätschert. Der Mann, der neben ihm lag, hatte sich nicht gerührt. Er lag mit dem einen Fuß auf dem Steinrand des Beckens. Am Halse und unterm Ohr war ein roter Fleck. Er war tot.

Über die weiße Straße von den kahlen Felsbergen her kam etwas gelaufen. Es war ein großer grauer Hund. Mit einem Sprunge setzte er durch die Büsche, wo die roten Kakifrüchte hingen und die Zimmetäpfel, bis er zu dem kleinen Wasserlauf kam und lange schlürfte; dann roch die breite Nase den Toten und er brach in ein langgezogenes klagendes Heulen aus.

Wieder und wieder tönte das Geheul weit über die Bucht hin und hallte von der Bergwand zurück.

Leise öffnete sich die Türe eines kleinen Pavillons unter den Palmen, eine dunkle Hand schob den Vorhang zur Seite und ein riesiger Neger trat heraus. Er trug eine kurze schmutzigweiße Hose, Füße und Oberkörper waren nackt, um den Kopf hatte er ein grünes goldbefranstes Tuch geschlungen und in der rechten Hand hielt er ein breites Messer. Er schritt langsam auf den Hund zu, der wild zu knurren begann, dann tief aufheulte und vor dem sicher heranschreitenden Menschen zurückwich; der Neger beugte den Leib ein wenig vor und, beide Hände ausstreckend, wiegte er sich in den Hüften; die Finger der linken Hand, die er lockend bewegte, waren weit gespreizt, er schritt wie schlaftrunken: da sprang der Hund ihn an; der Dunkle machte nur eine Bewegung, das breite Messer fuhr dem Hund durch die Kehle, der hinstürzte, während ein Blutstrom von seinem Halse in den Sand lief; der Neger wischte das Messer ab und trat in den Pavillon zurück.

Er hatte sich bereits wieder auf die Erde gestreckt und wollte die Türe, die offengeblieben war, mit einer Bewegung seines nackten Fußes schließen, als der andere Mann, der in dem dämmerigen Raum neben ihm auf einer Matte Siesta hielt, ein langer schlanker Inder, seine Schulter leicht berührte. »Der Sahib«, sagte er. Beide sprangen auf.

In die Türe des weißen Hauses war ein junger Mann getreten, ein Weißer, so braungebrannt sein Gesicht war. In einem geblümten seidenen Schlafrock und Pantoffeln lehnte er lässig am Türpfosten und sah nach dem rasch erbleichenden Himmel. Aus dem vernachlässigten unrasierten Gesicht, unter dem wirren blonden Haar, brannten kühne scharfe Augen; die Lippen über dem langen Kinn waren hochmütig eingezogen; aber als er sie jetzt lachend öffnete, hatten sie etwas Kindliches.

»Wir wollen essen«, rief er heiter herüber.

Mit weißen Augen und Zähnen lachend rief der Neger ein paar spanische Worte zurück und verschwand mit dem andern ums Haus. Der junge Mann im Schlafrock sah wieder nach dem Himmel und auf das düsterfarbene Meer hinaus. Im Garten dunkelte es bereits unter den Bäumen, und schwere Blumendüfte kamen im Nachthauch. Ein Huhn gluckste und schrie heftig. Er machte ein paar Schritte und konnte zwei Schatten um das sprühende Feuer beschäftigt sehen.

Er trat in das Gartenzimmer zurück, aus dem er gekommen war. Es war ein tiefer Raum mit alten dunklen Schränken und vielen Bildern. Fein geschliffene Gläser und wappengeschmücktes Silbergeschirr griff er aus Kästen und Laden und setzte es wahllos auf den Tisch. Aus dem verschlossenen Antlitz flogen Blicke nach den gemalten Menschen in alter spanischer Tracht, und anderen in langen Perücken und gebänderten Kleidern, in Zöpfen und gepudertem Haar. Erregt und nachdenklich schritt er zwischen ihnen auf und ab, dann zündete er zwei Kerzen in hohen silbernen Leuchtern an. Vor den Fenstern lag jetzt schwer und dicht die Finsternis.

Draußen tönten Schritte, die Tür sprang auf, die beiden Farbigen trugen die Speisen herein und setzten sich mit ihm an den Tisch. Der Neger, der ein rotweiß gestreiftes Hemde angetan hatte, öffnete eine verstäubte Flasche, und der junge Mann schenkte die Gläser voll, aber der Inder schob sein Glas von sich.

»Nun nicht mehr!« sagte er ernst.

Der Europäer nickte, aber er selbst trank tief. Alle drei aßen in Schweigen. Auch als sie das Mahl geendet hatten, schwiegen sie noch, bis der Neger seinen völlig rein gegessenen Teller aufnahm, das schwere Silber in der Hand wog und lachend und mit befriedigten Gebärden darauf wies.

»Nein, Kesja,« sagte der Weiße, »kein Stück hier! kein Stück, hörst du!« und da der Neger ihn grinsend ansah, wiederholte er nochmals: »Nicht ein Stück!« und schlug mit der Hand auf die Brust, wobei unter der Seide des Schlafrocks der Kopf einer Waffe sich deutlich zeichnete. Zugleich veränderten sich seine Züge, ein Ausdruck erschreckender Wildheit und Drohung trat in sie, und eine kleine, aber tiefe rote Narbe auf seiner linken Wange wurde scharf sichtbar.

Mit beteuernden Handbewegungen und einem einzigen tiefen lachenden Ton schob der Neger den Silberteller weit von sich.

Der Inder hatte teilnahmlos geschwiegen. Auch der junge Mann stützte den Kopf in die Hände und schwieg wieder; dann strich er mit der einen Hand über die Stirn und sagte: »Morgen ist alles vorüber!«

»Morgen!« wiederholte der Inder.

»Amigos!« sagte der Weiße, »es ist gut so, nicht wahr?«

»Es ist gut so«, wiederholte der Inder.

Sie sahen einander an, und über das Gesicht des jungen Mannes flog wieder sein kindliches Lachen. »Wir werden weit voneinander gehen!« sagte er.

»Ich fahre gegen Ost, bis ich nach Mekka gelange, dann erst zur Heimat«, sagte der Inder feierlich.

»Und du, Kesja?«

»Kesja weiß«, antwortete der Neger, die porzellanenen Augen weit öffnend; auch sein Gesicht bekam einen feierlichen Ausdruck.

Der Europäer betrachtete beide neugierig; ein wenig erstaunt sah er, daß der Inder aufstand, die eine Hand auf die Brust legte und, ihn voll ansehend, sagte: »Wir werden dich nicht vergessen, Sahib!«

Da hob auch der Neger beide Hände mit gespreizten Fingern beteuernd empor.

Der junge Mann lachte kurz und eigentümlich, die Lippen waren mit häßlichem Ausdruck eingezogen: »Vergessen sollt ihr mich, müßt ihr!« Sogleich aber kam das Kinderlachen wieder, daß Grübchen in seinen Wangen sichtbar wurden, und nach kurzem Zögern reichte er den beiden Farbigen die Hand, die jeder an die eigene Brust preßte.

»Dann wollen wir schlafen gehen?« sagte er bereits gähnend.

»Warum fahren wir nicht schon heute Nacht, wenn der Mond aufgeht, Sahib?« fragte der Inder. »Wenn sie zurückkämen?«

»Sie kommen nicht zurück. Niemand kommt hierher.« Er gähnte wieder.

»Wir werden, einer um den andern, wachen«, sagte der Inder.

Der Europäer nickte, dann nahm er das eine Licht und schritt damit aus der Türe.

Als er mit der brennenden Kerze im Schlafzimmer vor dem mächtigen Bette mit den gewundenen Säulen und seidenen Vorhängen stand, da war die Kinderfreude wieder in seinem Angesicht. Er öffnete eine kleine Türe und trat in ein Badezimmer; das Becken war aus dunklem Porphyr, das Wasser, das stetig durchfloß, war lau von der Wärme des Tages. Beglückt und eifrig sah er dem Spiel der kleinen Bläschen an dem dunklen Rande zu, wo das frische Wasser in das Becken floß, bis er hinter sich einen leisen Schritt vernahm. Er sah sich um und erblickte den Neger. Mit demütigen Gebärden und lächelnden Lippen bot er seine Dienste an, und kniete nieder, ihm die Schuhe von den Füßen zu streifen. Dann ging er auf sein Geheiß warmes Wasser von der Feuerstelle holen. Als er zurückkam, saß sein Gebieter vor dem silberumrandeten Spiegel, der zwischen kleinen Ebenholzsäulen hing, und betrachtete sein Gesicht im Glase. Seine Hand glitt über die unrasierte Wange, der Finger ruhte in der tiefen roten Narbe unter dem Auge. Auf dem Toilettentisch lagen Kämme und andere zierliche Geräte wirr durcheinander, als hätte jemand, in einer Verrichtung gestört, sie eilig hingeworfen. Der Neger griff nach einem Rasiermesser mit ziseliertem, mattem Silbergriff, zog die Klinge ab, und mit freundlichem Lächeln und fortwährenden leisen Gurgeltönen der Befriedigung vollendete er seine Arbeit.

Dann verließ der Sahib den Raum und tauchte entkleidet in das Bad, in das er vorher aus bereitstehender Flasche eine duftende Essenz gegossen. Als er ins Schlafgemach zurücktrat, sah er den Neger auf dem Boden hocken. Der sprang auf und rieb ihn mit seinen Tüchern trocken, dann zog er die Schleiergewebe an den Fenstern noch dichter, daß die Nachtinsekten und Stechfliegen nicht hereinschwirren könnten. Befriedigt lachend und die Hände mit eigentümlicher Gebärde übereinanderstreifend ging er hinaus.

Allein gelassen schlug der junge Mann die dunkelrosarote goldgestickte seidene Decke über dem Bett zurück und streckte sich mit wohligem Stöhnen in den weißen Kissen und Tüchern aus. Behaglich schloß er die Augen, und öffnete sie wieder; ein bitterer Zug trat in sein Gesicht, der fast zu einem bangen wurde, als er um sich sah und die Pracht des Raumes mit angestrengten Blicken musterte. Große Spiegel hingen an den Wänden über kleinen Tischchen mit zart geschwungenen, zierlich vergoldeten Füßen; zwischen den Pfeilern standen hohe Schränke mit vergoldeten Schlössern und Zierraten. Frauen und Mädchenköpfe sahen ihn aus kleinen runden mattglänzenden Bildchen an. Der leichte Vorhang am Fenster rauschte im Nachthauch, und aus der Ferne klang der Schrei eines späten Vogels.

Seine Blicke hafteten gebannt auf den kleinen Gesichtchen. An der Wand über dem Bette sah er ein kostbares Kruzifix; er starrte es an und leise kam ein altes französisches Kindergebet von seinen Lippen. Dann schloß er die Augen. Die wonnige Behaglichkeit kam wieder und lullte ihn ein, und er begann die Schwere des Weines im Kopf zu fühlen. Er erhob sich, warf einen Blick nach den Waffen neben seinem Bette und verlöschte das Licht. Wieder kam der leise Luftstrom vom Meer her und bewegte den Vorhang, und ein leichtes Schlagen, ein Gurren der Wellen in der Bucht drang herein.

Er hörte noch das Kreischen des Vogels, vieler Vögel, die kreischten und mit den Flügeln schlugen ... nein, das war bereits ein Traum gewesen. Er fuhr auf. Eine Stimme sprach in seinem Ohr von Tagen und nannte eine Zahl, die er nicht verstehen konnte; es war ihm klar, daß er bereits wieder träumte, und sich der Bilder und Stimmen, die mit dem schweren und unwiderstehlichen Schlaf auf seine Sinne einstürmten, nicht erwehren konnte. Unaufhörlicher Rauch rollte an ihm vorüber, der zuletzt zu düstern Wolken wurde, wie Falten eines ungeheuren Tuchs, das über die Welt gespannt war; dann kam irgend etwas Grünrotes, immer ziehend, und er glitt rasch mit und suchte sich vergeblich zu halten, und jetzt tönte eine laute schmetternde Musik und er erwachte. Erwachte verwirrt, ohne zu wissen, wo er war; die Kissen waren ihm fremd, und die glatte Seide der Decke, über die seine Hand schlürfend streifte, erschreckte ihn. Er hob den Kopf und sah um sich. Nichts regte sich bis auf das leise Schlagen der Wellen am Ufer und staunend sah er alle Gegenstände im Zimmer, selbst die kleinen Bilder mit den Mädchenköpfen an der Wand in eigenem Licht strahlen. Endlich begriff er, daß der Mond aufgegangen war und voll ins Zimmer schien.

Er vermochte nicht sogleich wieder einzuschlafen. Die wirklichen Bilder des letzten Tages waren vor seinen Augen: die Ankunft auf der Insel, das Gefecht; der Tote fiel ihm ein, der im Garten auf der andern Seite des Hauses am Springbrunnen lag; man hätte ihn auch begraben können, aber es war zu heiß gewesen. Er sah das Schiff, das ihn gebracht hatte, sich entfernen mit den Gefährten, die er nicht wiederzusehen entschlossen war, erinnerte sich, wie er am Morgen tiefaufatmend am Ufer gestanden und den rasch sich verkleinernden Segeln nachgeblickt hatte. »Adieu, Le Hardy!« hatte er laut über die Wellen gerufen. Vor ihm lag die Heimkehr! Erstaunt suchte er sich mit der ganzen Wunderlichkeit des Gedankens zu befreunden, ihn zu einer wahrhaftigen Möglichkeit auszumalen. Er sah die kleine, alte, französische Stadt, die engen, dunkeln, krummen, nächtlichen Gassen, in die hie und da ein Lichtschein aus den Fenstern fiel, die Türme über dem Tor, die alte Uhr im Schwibbogen, durch den man auf den Marktplatz kam, sah den Schneider in dem kleinen Laden, die Ulmen am Wasser, die Mädchen im Gehölz, die korbartigen Glasluster in dem alten Tanzsaal; die Ereignisse stiegen auf, die Gesichter der Menschen, zu denen er zurück wollte. Er sah die Geistlichen von der Lateinschule; das war der Abbé Paintendre, der um die Ecke des Bettes blickte und ihm deutlich Vorwürfe über seine Kleckserei machte; nein, es war der Bischof, sein Verwandter, der mit dem Vater über ihn sprach, dem Vater, der tot und begraben lag, so viel zu früh begraben ... Er fürchtete, die Kindertränen würden wieder über seine Wangen laufen. Aber wie konnte der Vater sprechen, wenn er tot war, und warum sprach er so leise, so leise, daß der Sohn trotz aller Anstrengung kein Wort verstehen konnte? Der Weg war jetzt so sonnenhell, daß seine Augen fast geblendet waren, und an den Ulmen stand der junge Bellangreville, mit dem er das Duell gehabt, um das er fortgemußt; und das ganze unerhörte Unrecht, das ungesühnte Unrecht, das man ihm damals angetan, kam ihm so empörend und erbitternd wieder ins Bewußtsein, daß er sich leiblich aufbäumte, wie er es oft getan, und emporfuhr. Er war wach, aber er hatte schon geschlafen. Irgendein Tier raschelte jenseits der Wand hinter der Türe, denn die Steinmauern waren zu dick, als daß sie einen Ton durchgelassen hätten, vermutlich lief eine Ratte über die Veranda; und ein großer Schmetterling war im Zimmer; er war noch wach, oder war es im Schlaf gewesen, daß Bellangreville ... nein, ein Matrose, ein unangenehmer gelber Matrose; wo hatte er den Menschen nur gesehen, mit dem unbeweglichen feuchten Gesicht und den glotzenden Augen, und dem breiten Fuß, den der Kerl ihm immer wieder in die Seite stieß; mit einem Messer hätte er nach dem Fuß gehauen, wenn er sich hätte rühren können.

So heftig wurde seine ohnmächtige Wut, daß er erwachte und sich nach dem Quäler umsah, der nicht da war. Aber er entschlief sogleich wieder und streifte mit dem Boot, in dem er fuhr, an langen, fahlgrünen Binsen hin, aus denen häßliche Fische mit breiten Strohhüten auf den Köpfen sahen ... mit einem Ruck saß das Boot fest und er erwachte. Während er dalag und mit geschlossenen Augen sann, fühlte er, wie die Lage seines Körpers sich allmählich und befremdlich verschob: er stützte sich mit beiden Händen auf die Bretter im Hinterteil des Bootes, dessen Vorderteil steil in die Höhe ragte; unter ihm war es wie ein Spiegel, aus dem wieder das gelbe unangenehme Gesicht sah; er drückte es mit beiden Fäusten nieder, und fuhr jäh zurück: das Gesicht war, verzerrt und gelb, mit wirren verklebten Haaren, sein eigenes: ein eisiger Schrecken durchrieselte ihn; er war erwacht und suchte sich zu fassen, aber sogleich schlossen seine Augen sich wieder: es waren kurze Wellen des Schlafes, die über ihn hingingen, mit kurzen, jagenden Träumen, Träumen, die nur minutenlang dauerten und doch so greifbar lebhaft waren, lebhafter beinahe als die Wirklichkeit. Irgendwo in seinem innersten Leben war eine ungeheure Bewegung, waren alle Pforten aufgerissen und aus allen Kammern seiner Seele strömten die Bilder hervor.

Da war der spanische Schiffskapitän mit den unzähligen Zigarillos, der ihn so gerne gehabt und dem er die übermütige Antwort gegeben hatte: da stand er vor ihm in seiner schlaffen Höflichkeit; merkwürdig war, daß aus dem Lukengang so viele Leute herauskamen und in Viererreihen vorübermarschierten; wenn sie nur nicht so hätten drängen wollen, und einer hatte eine riesige Trompete angesetzt und blies ihm in die Ohren. »Es ist doch nicht das jüngste Gericht!« sagte er ärgerlich und erwachte.

Schweißgebadet hielt er die Hände an die Ohren und drückte die Stirn in die Kissen, wütend, daß er nicht schlafen konnte. Da fand er den Grund: er hatte auf dem Ruhebette im Gartenzimmer lange Mittagsrast gehalten und den Tag in den Zimmern verlungert. Die Farbigen wachten unten, nachdem sie den Tag geruht: ihn quälten Schlaf und Wein mit Träumen. Er richtete sich im Bette auf und betrachtete das helle Zimmer, all das Ungewohnte, Fremdgewordene, seitdem er den Schritt über die Grenze getan hatte, und aus dem Leben, das die Menschen in ihren Wohnstätten führen, geschieden war. Nicht freiwillig. Er rang die Hände zum Kruzifix empor. Nicht freiwillig!

Er saß, weiß, im Mondlicht, mit glühenden Augen. In seinem Geist sah er jenen Tag, das blutüberronnene Verdeck, die erstarrten maskenartigen Gesichter, und über Bord, ein paar Fuß tiefer, das glitzernde Wasser, das sich so schnell und spritzend über denen schloß, die hineinspringen mußten. Nicht freiwillig! Es war doch nicht nur die Angst gewesen, die feige Angst um das junge Leben, der Schauder vor dem Ersäufen, vor den Haifischen, vor den Messern; es war auch Lust und Wut gewesen gegen die Menschen und ihre Gesetze, ihre tückische Ungerechtigkeit: wenn er ihn jetzt noch vor sich hätte, da vor seiner Pistole, »Monseigneur«, bei dem er so oft gespeist hatte, als der Vater noch lebte, und der so kalt und amtsmäßig das Urteil gegen ihn sprach, oder die zwei jungen Leute, seine Trink- und Lottergenossen, denen er Geld geliehen und Dienste erwiesen; er sah ihre lächelnden Gesichter, wie sie gegen ihn aussagten, die zierlich geglätteten Nägel des einen, die er beständig ansah, während er sprach, das hübsche lächelnde Gesicht unter dem gepuderten Haar ... vielleicht waren sie tot, wenn er jetzt heimkam, vielleicht waren sie tot: er wollte beten, daß sie tot sein sollten, denn der Haß in ihm war nicht gelöscht durch alles, was er erlebt und getan hatte: nein, der Haß in ihm starb nicht!

Wenn er diese Gedanken doch los werden könnte, die jetzt so überflüssig waren! Irgendein Geräusch klang von unten herauf, als würde eine Türe leise geschlossen, das waren die Farbigen, die ihre fast lautlose Wache hielten. Er lauschte. Die Mädchenköpfe an der Wand lächelten ihm zu. Sie waren jetzt ganz deutlich zu sehen. Die eine hatte die Locken scheinbar kunstlos offen und das Kinn an weiches Pelzwerk geschmiegt; die andere, nur etwas älter, hatte das Haar hochfrisiert, ihre Lippen waren kokett ein wenig aufgeworfen und zarte Schultern sahen aus einem dunklen Spitzensaum hervor. Er war in einem Damenzimmer gewesen, – vielleicht war es das ihre, – hatte die Kleider betrachtet, die seidenen Strümpfe, die kleinen Atlasschuhe auf den Händen gewogen; er hatte keine Zote gesprochen oder gedacht, aber eine seltsame scheue Gier war in ihm wach geworden. Unter den Geflüchteten heute morgen war nur eine ältere Frau gewesen; er hatte absichtlich Zeit zur Flucht gelassen, nur der eine, der unten am Wasserbecken lag, hatte nicht fliehen wollen und mußte erschossen werden. Wo waren die Zarten, Schlanken, deren Bilder er sah, deren Kleider er liebkost hatte? Vielleicht drüben in Europa, bei Verwandten zu Gast; vielleicht begegnete er ihnen einmal ...?

Wieder ging unten eine Türe. Einen Augenblick dachte er daran, aufzustehen und mit denen unten zu wachen, aber er kannte ihre Gespräche. Eine Gefahr gab es nicht. Und was war seinesgleichen Gefahr? Aber er wünschte keine Abenteuer mehr, konnte keines mehr brauchen, wenn er seine Träume weiterspann, wenn der wonnige Traum der Heimkehr zur Wirklichkeit werden sollte, wenn er den zarten kleinen Mädchen, den wohlgekleideten Frauen in den Salons wieder begegnen wollte, wieder in den Gärten zwischen streng geschnittenen Alleen, zwischen gradlinigen Wiesenvierecken und Fontänen lustwandeln wollte. In drei Tagen war er an Bord des Schiffes, das ihn über den Ozean trug ... oh, der Nebel im Kanal, zwischen Frankreich und England, die heimische Küste am frühen kalten Morgen, die Landung, die Bäume, die Seine, Paris, Paris, Paris! die Straßen, die Kais, die Brücken, die Kähne auf dem Fluß; oh, er wollte die Mauern der Häuser küssen, sich niederwerfen und beten ... Jubel und Frommheit waren in ihm und immer kindlicher wurden die gespannten jungen Züge. Er war jetzt ganz ruhig und liebkoste die Seide der Decke, die Spitzen an den Kissenüberzügen. Es war zu heiß und er warf die Decke ab; da fror er plötzlich und zog sie wieder über sich und lächelte. Das gewebte bunte Gevögel der seidenen Vorhänge, die er im Mondlicht an der einen Seite nebelhaft zu erkennen vermochte, begann zu verschwirren; das Wasser draußen war ruhig und lau, und so still fuhr sein Kahn dahin, nur so unbegreiflich schnell, daß ihm schwindelte und er zuletzt das Bewußtsein verlor. Wie lange er so gelegen, wie lange er geschlafen, was er in diesem Schlaf geträumt, das wußte er nicht mehr. Er wußte nur, daß sich irgend etwas um ihn bewegt hatte. Vielleicht war er auch an etwas gestoßen. Aber er lag im weichen Bett und konnte an nichts gestoßen sein. Er war völlig wach.

Alles um ihn war verändert. Ein seltsamer Schein war im Zimmer, aber ein Schein, bei dem nichts zu sehen war: weder die Bilder, noch sonst irgendein Gegenstand, die Vorhänge vor seinem Bett warm ein Schattenstreif. Das Licht schien irgendwie im Fenster zu hängen oder zu schweben, doch nicht als ein einzelner glänzender Körper, sondern ein zerstreutes Licht, ein Licht, das nicht leuchtete. Und jetzt begriff er es auch.

Draußen war Nebel gefallen, ein dicker weißer Nebel, über dem oben der Mond noch scheinen mußte. Als er aufsprang und ans Fenster eilte, konnte er mühsam die Umrisse einiger naher Bäume und Büsche erkennen; vor der Bucht lag eine weißgelbe Wand.

Wenigstens sahen die Wächter, wie wohl er getan, nicht schon heute Nacht davonzurudern. Er kehrte ins Bett zurück und dehnte sich in den Kissen. Der Schlaf lag schwer und sehnsüchtig erwünscht über seinen Lidern, und kam doch nicht. Dafür wußte er nun, was er eben geträumt hatte: er war auf einem grünen Schiffe gewesen, dem ein anderes, das man nicht sah, entgegenkam; das Kommando: »Klar zum Gefecht!« war gegeben, und er hatte jene leichte halb freudige Beklemmung gefühlt, die er immer fühlte, ehe der Angriff begann; an den Brustwehren geduckt, waren sie mit Messern, Enterhaken und Flinten bereit gestanden; aber die Breitseiten schossen nicht; der unsichtbare Feind kam näher, aber kein Laut war hörbar; er selbst war aufgesprungen und hatte die Leute verteilt, aber während sie sich auf ihre Posten begaben, glitten sie fort und verschwanden im Nebel: seine zornigen Befehle waren umsonst; was dann geschehen war, wußte er nicht mehr, nur daß er verlassen und allein auf dem grünen Schiff gewesen; er hatte Gold auf dem Schiffe mit sich geführt, das gehütet werden mußte; aber das war nicht seine Verzweiflung gewesen, nicht die Qual des Traumes, die er erst vergessen hatte, und die jetzt, unbegriffen, wie sie war, immer stärker über ihn kam. Er wollte schlafen. Der gelbliche kalte Glanz vom Fenster her störte ihn, und er zog die Vorhänge zu.

Aber kein Schlaf kam in seine Augen. Warum hatte er das geträumt? Er führte kein Gold mit. Nichts als den genau berechneten Sold eines Schiffsoffiziers für zwei Jahre. Die Beute war leicht abzutun gewesen, die Taten nicht. Das handgreifliche Gold nahmen die Farbigen, dankbar und gierig. Das Wesenlose, ins Nichts Zerflossene kam lebendig, unwiderruflich geschehen über die Wasser. Was bargen sie alles unter der Fläche, die sich über allem glättend schloß? Wie viele Menschen hatte er, äußerlich gelassen, über die Planke ins Leere gehen sehen? An einen Mann erinnerte er sich besonders, der einen starken braunen Bart gehabt und kräftig und gut ausgesehen; er hatte gleichsam eine Liebe für ihn aufquellen gefühlt und ihn doch nicht retten können, da er nicht mittun gewollt und Mitwisser nicht am Leben bleiben durften. Und wieviel andere, wie viele noch! Die im Gesetz begingen ja auch Schurkereien, schlimmere, weil sie das Gesetz im Mund führten, aber sie wälzten die Verantwortung ab, die Hunde! Wie machten sie das und warum wurde er heute Nacht von allen Nächten die Verantwortung nicht los? Wenn der Mann mit dem braunen Bart im Zimmer hinter dem Vorhang stand, den guten Blick in den Augen erloschen? Schaudernd riß er die Vorhänge zur Seite ... vor dem Fenster lag die unheimliche gelbe Wand. Sonst nichts.

Aber von unten kam ein eigentümlicher Laut und ein Verdacht ward in ihm: Kesja trank, und war morgen betrunken und unbrauchbar ... Er sprang aus dem Bett, schritt lautlos die wenigen Stufen hinab, lautlos durch den Gang, bis er durch eine Glastüre die andern sehen konnte. Die Kerze im silbernen Leuchter war tief heruntergebrannt; sie stand auf der Erde und vor ihr hockte auf dem Teppich der Inder, eine Menge weißen Musselinzeuges vor sich und auf den Knien, an dem er zu schneidern schien, denn er hatte eine Nadel in der Hand und hielt das Öhr gegen das Licht, um den Faden hindurchzuziehen. Dann nickte er befriedigt und gelassen und fuhr mit seiner Arbeit fort. An der Gartentür stand der Neger, die schwarzen Finger der einen Hand um einen blitzenden Flintenlauf geklemmt, während die andere wie eine dunkle Schaufel irgendwelche Süßigkeiten in den geöffneten Mund gleiten ließ, die er gleichsam schlürfte, und die großen weißen Augen in gieriger Starrheit die Beute in der zu nahen Hand noch zu sehen trachteten. Sein Schmatzen war durch die Glastüre hörbar und der Speichel lief ihm aus dem Mund.

Ungehört kam er durch die dunkeln Räume in sein Zimmer zurück. Kaum lag er im Bett, so stürmten die Erinnerungen wieder auf ihn ein. Er mußte der Frauen denken, die diesen Menschen in die Hände gefallen waren. Einer blonden, zarter Gekleideten erinnerte er sich, die immer wieder gebeten und wie ein erschrecktes Kind um sich gesehen hatte; einer andern, dunkelhaarigen, deren erstarrtes Schweigen er nicht vergaß. Eine dumpfe Verzweiflung ergriff ihn und ein sehnsüchtiges Verlangen nach dem Tag.

Er hatte die Vorhänge wieder zugezogen und lag wie in einer Gruft. Ein langer dunkler Zug wanderte unerkennbar vorbei, einem fernen Lichtschein zu und schwand. Dann sah er nichts mehr. Ruhig atmend lag er und schlief.

Das Blitzen der den Himmel überflammenden Sonne weckte ihn. Er zog die weißen Vorhänge auseinander, auf denen das bunte seidengewebte Gevögel glänzte, und sah die freundlich lächelnden Mädchengesichter. Er sprang von dem zerwühlten Bette; eine kühle Brise wehte vom Meer landeinwärts; fröstelnd sah er auf die bewegte schimmernde Fläche hinaus.

Es pochte an die Türe, und Kesja trat ein, grinsend, in eine Art Livree gekleidet, mit silbernen Knöpfen an der viel zu engen und zu kurzen Jacke, Kniehosen und nackten Beinen darunter. Er brachte Kleider und Schuhe für den Sahib, der wieder vor dem in den Ebenholzsäulen schwingenden Spiegel saß und sein verstörtes Antlitz betrachtete. Der Neger kämmte ihm das Haar und band es, bedeckte sein Gesicht mit einem Tuch und stäubte Wolken von Puder über ihn. Die kleine rote Narbe ward weiß bestäubt.

Das alte Reisekleid aus braunem Tuch, ein weißes Jabot, graue Lederhosen in den Stulpstiefeln, den leichten Degen an der Seite, den Dreispitz im Arm, begrüßte er im Spiegel das eigene wiederauferstandene Bild. Er sah die Furchen im Gesicht, die Ringe um die Augen von der letzten Nacht: die herrischen Lippen sahen noch hochmütiger aus in der adeligen Tracht.

Kesja hatte Wein und Brot gebracht, und er trank hastig. Er fühlte sich verstört und fremd, und des Negers tiefe glurrende Laute störten ihn. Auf einmal verstummte er ... auch der Sahib sprach nicht ...

»Fischer!« sagte Kesja und machte eine Bewegung des Netzauswerfens.

Der Sahib schüttelte den Kopf. Er blickte durch das Fenster, wo das Boot, zur Hälfte über den sandigen Strand gezogen, lag. Soweit das Auge reichte, war kein Pünktchen auf der ungeheuren Fläche, und von jenseits des kleinen Kaps konnte kein Ton herüberdringen. Sie mußten sich geirrt haben. Er las die Gedanken in dem betroffenen Gesicht des Negers und sagte:

»Le Hardy erwartet uns in fünf Tagen bei Tortola; und die« – er wies ins Haus – »die wagen sich tagelang nicht aus ihren Bergen zurück!«

Er senkte den Kopf.

»Vielleicht schickt Le Hardy eine Botschaft«, sagte der Neger.

Der Seewind kam kräftig herein. Sie standen regungslos lauschend, die Hand am Ohr; vielfach wiederholten die Spiegel ihre unbewegten Gestalten ... da stieß der Neger einen seltsamen Laut aus, und das Gesicht des Europäers wurde weißer als der Puder auf seinem Haar.

Dort wo das tiefe Wasser am Felsen war, schob es sich um das kleine Vorgebirge und lag jetzt, Masten und Tauwerk durchglänzt, und alle Beschläge im Licht strahlend, mit hohen braungestrichenen Schanzen, während aus den beschatteten Luken drohend die gelben Rohre sahen, – ein englisches Kriegsschiff. Wie eine Luftspiegelung lag es im Morgenlicht; und jetzt hörten sie ein Plätschern: ein vollbemanntes Boot kam rasch auf das Haus zu.

Sie hörten auch ihre Zähne klappern.

Noch etwas sahen sie: im Garten lag auf einer Matte, die er über den Kies gebreitet, der Inder, ganz in weißen Musselin gehüllt, den Turban auf dem Haupt, gen Osten gewendet, auf den Knien, warf sich zur Erde und verrichtete seine Gebete. Weder ihre Rufe noch das Schiff in der Bucht konnten ihn stören.

Brüllend stürzte der Neger aus dem Zimmer. Der junge Franzose blieb bleich am Fenster: er sah den Offizier im Boot aufstehen, in jeder Hand eine Pistole, sah die schußbereiten Gewehre der Seesoldaten. Er wußte die starrende Felswand hinter dem Haus, wußte die Waffen, die Beute im Hause, die vernichtenden Beweise wider ihn, und er sah noch einmal wie im Fiebertraum der Nacht die nebelbedeckte Küste Frankreichs, und hell in der Sonne vor sich die Raaen, an deren einer er hängen würde, ehe die Sonne niederging. Er hörte die Schritte der Soldaten auf dem Kies, die kurzen Kommandorufe; dann fiel draußen ein Schuß. Er schlug die Hände vors Angesicht und ließ das Haupt stöhnend auf den Tisch fallen.

*


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