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Das Gericht von Gartach

Der Abbé Birkele ging in der niederen Caféstube des Gasthofs auf und ab; bisweilen blieb er vor dem Feuer stehen oder sah nach den regentrüben Fenstern, die die schweren Mauern durchbrachen. Er wußte jetzt, warum sein Zögling, der Freiherr von Gartach, nicht von Brüssel abreisen wollte, und es knüpften sich Betrachtungen für ihn daran, die ihm nicht behaglich waren.

Er hatte den jungen Mann, der seine Studien im Collegium illustre zu Tübingen mit so glänzendem Erfolge absolviert hatte, ohne Verdruß durch die Hauptstädte und Höfe halb Europas geleitet. Er hatte ihn auch an anderen Orten so manchen Abend allein gelassen, um eigenen Vergnügungen nachzugehen, und ihn beim Nachhausekommen stets schlafend oder über seinen Büchern sitzend gefunden: hier in Brüssel, wo es sich so gut leben ließ, war er jeden Abend ausgegangen. Und nun fand sich, daß Karl Eugen jeden Abend im Hause des alten Gerichtsrats gewesen war, dessen Bekanntschaft sie im Postwagen hinter Vervins gemacht und der eine so zierliche Tochter hatte.

Eben trat er, blaß und schlank, ins Zimmer, aber nicht im Reiseanzug; sie begannen den gleichen Wortwechsel von neuem, und im Ärger, nach Gründen suchend, die Eindruck machen könnten, hielt der Hofmeister ihm vor, daß ein unehrbarer Liebeshandel mit der Tochter eines angesehenen Mannes ihm wenig anständig sei, worauf der junge Baron erregt erwiderte, daß sein Verhalten durchaus ehrbar sei, so ehrbar, wie das zwischen Bräutigam und Braut zu sein hätte, denn als solche wolle er die Demoiselle Decazes angesehen wissen, die zu heiraten er entschlossen sei.

Erst sah Birkele ihn starr an, dann mußte er lächeln, wurde aber sogleich wieder mißmutig, weil er die Ungelegenheiten bedachte, die dieser Abschluß der Reise für ihn selbst zur Folge haben mußte. Er fragte Karl Eugen, ob er bei Trost sei, hielt ihm seinen Stand, den Zorn seiner Eltern vor; am Tische der Stube sitzend sprach er fort und sah mit seinem unruhigen, haarumwallten Kopf bald seinen Zögling an und bald auf seine Hände, deren Fingernägel er mit einem Messer reinigte und zurechtschnitt, bis er bemerkte, daß die Blicke Karl Eugens unverwandt auf dieses Tun gerichtet waren. Mit einer leichten Verlegenheit schob er das Messer in die Tasche. Dann machte er den jungen Mann auf empfehlenswerte Ablenkungen seines Liebesbedürfnisses aufmerksam, indem er sich erbot, ihn in die Gesellschaft reizender und leicht zugänglicher Damen selbst einzuführen, während er ihn vor tugendhaften und berechnenden Demoisellen warnte, die unerfahrene junge Leute in das Netz der Ehe zu locken verstünden.

In Karl Eugens Augen flammte etwas auf, das den Abbé immer verwirrter werden und zuletzt verstummen ließ. Er schrieb, wie er es für seine Pflicht hielt, an die Eltern des jungen Mannes, und ein Befehl, sogleich zurückzukehren, kam nach etwa zehn Tagen als Antwort. Karl Eugen gehorchte auf der Stelle. Er machte dem Abbé keine Vorwürfe, aber ihr Verkehr war eigentlich zu Ende.

Ehrerbietig hielt er dem Toben des Vaters, den sanfteren Vorwürfen der Mutter stand. Er ging auch, wie ihm geheißen ward, nach Stuttgart und arbeitete dort als Referendar bei der Regierung zur außerordentlichen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten, – bis Briefe voll von Liebesbeteuerungen aufgefangen wurden, die zwischen Brüssel und Stuttgart hin und her gingen. Nun schrieb der alte Freiherr einen empörten Brief an den Gerichtsrat in Flandern, der mit vieler Würde erwiderte, daß er zwar den jungen Baron schätzen gelernt, sich aber gewiß niemandem aufdrängen wollte und auch seiner Tochter jeden Gedanken an eine solche Verbindung sowie weitere Briefe untersagt hätte. Der alte Herr schickte den Brief seinem Sohne ein, der in einer bescheidenen Antwort lediglich den Empfang bestätigte. Aber das von ihm geforderte Ehrenwort, die Verlobung zu lösen und auch seinerseits nicht mehr nach Brüssel zu schreiben, weigerte er. Mochte es ein innerer Zufall sein, mochte, wie die Verwandten behaupteten, der beständige Zorn über das Verhalten des Sohnes dazu beigetragen haben: der hitzige und beleibte alte Herr wurde nicht lange danach vom Schlage getroffen. Karl Eugen betrauerte den Vater von Herzen, aber schon nach einem halben Jahre führte er die Demoiselle Decazes als Gattin heim.

Die Verwandten legten ihm kein Hindernis in den Weg; aber wenn sie dies aus bestimmten Hoffnungen getan, so wurden sie enttäuscht, denn Karl Eugen, der so jung er war, auf seinen Antrag bereits zum Regierungsrat und zum Oberamtmann seines Bezirks ernannt worden war, erhielt schon wenige Jahre nachher durch landesfürstliches Privileg für die Kinder, die ihm aus dieser Ehe geboren wurden, alle Familienrechte gewahrt.

Er führte in diesen Jahren ein stilles und seliges Leben, in das nur die Zartheit seiner Frau Kummer brachte. Sie war wie ein Hauch, oder wie ein Flämmchen, denn ihre Leidenschaft kam ihrer Zartheit gleich. Sie fühlte sich oft so matt, daß sie, ohne krank zu sein, ganze Tage im Bett verbringen mußte, und als sie ihm ein Kind geboren hatte, vermochte sie sich nicht mehr zu erholen. Oft trug der schlanke, stille Mann sein zartes Glück, das in seinen Armen immer leichter zu werden schien, auf die Wiese oder eine Gartenbank hinaus, wo sie die Sonne und den blauen Tag und das Spielen des Mägdleins genoß. Sie lachte so gern, aber ihr Lachen ward seltener und schmerzlicher; ihre Liebesworte in zierlichem Halbfranzösisch kamen zuletzt nur mehr geflüstert: er sah sie hinschwinden und sterben.

Als er aus der ersten Erstarrung erwachte, ergoß er eine Zärtlichkeit auf sein Kind, deren überquellenden Ausdruck er selbst zu beherrschen und zurückzudämmen sich mühte. Er überwachte die Nahrung des Kindes, das Baden der kleinen Glieder; er stand des Nachts auf, um nachzusehen, ob es auch warm bedeckt schlief; es kam vor, daß der Freiherr, wenn er nachts in das Zimmer der Kleinen kam, leise, ohne die Wärterin zu wecken, selbst neue Scheite in den Kamin schob, um das Feuer nicht ausgehen zu lassen. Er hielt seine Zärtlichkeit zurück, weil sie manchmal erschrocken war, wenn er sie zu leidenschaftlich geherzt hatte; er beherrschte die Angst, die ihn ergriff, wenn er sie über einen Steg laufen oder aus einem Turmfenster blicken sah, weil er sie nicht furchtsam machen wollte. Kamilla war ein wildes Kind; sie glich der Mutter, in Zartheit und Leidenschaft.

Selbst ein vorsichtiger Reiter, mußte er sehen, wie sie über Gräben und Büsche setzte. Sie war etwa dreizehn Jahre alt, als sie, da er gerade abwesend war, ein neugekauftes kleines Pferdchen bestieg und es aus dem Park hinaustraben ließ. Ein halbwüchsiger Junge am Wegrand stieß, da sie vorüberritt, aus dummem Übermut und halber Bosheit ein blökendes Geschrei aus: das Tier raste davon. Der Junge lachte, aber das Lachen erstickte in einem gurgelnden Ton: eine Hand hielt ihn am Halse und mit tödlichem Schreck sah er das gleichfalls todblasse Gesicht des Freiherrn über sich, der mit der Stiftsdame von Schaub, seiner Verwandten, von einem Gutswege gekommen war. Das Pferd war auf einen spitzlattigen Zaun zugerannt, als es vom Weg in die Wiesen gesprungen war, dann aber hatte es sich, im Kreise laufend, ausgetobt. An Mähne und Sattel hatte Kamilla sich festhalten müssen, die nun, trotz ihrem Schrecken lachend, mit fliegenden Haaren herankam.

»Damals hab' ich meinem Heiland gedankt, der uns bewahrt hat,« erzählte die alte Dame, »wenn dem Kinde etwas geschehen wäre, Karl Eugen hätte den Jungen erwürgt!«

Er selbst sprach wohl mit halbem Lächeln von seinen »Prüfungen«. Es kamen aber solche, die wunderlich verwirrend waren, bei denen er nicht mehr wußte, ob er sie gewähren lassen durfte: wenn ihre Spiele, ihre Freundschaften ihm nicht immer gefielen, während ihre Gedanken, ihr werdender Körper sie ihm fremd machten. Seine Liebe aber wuchs, ob sie sich ihm erschloß oder verbarg, und auch seine Bewunderung für sie.

Er war indessen als Geheimer Rat ins Regierungskollegium nach Stuttgart berufen worden. Wenn er sie, nun eine Dame, schön und schlank durch die Säle schreiten sah, reinen Wesens und mit anmutigem Witz der Rede, dann ward eine heiße Rührung in ihm, und er schrieb einen neuen Brief an seine tote Frau. Er schrieb ihr oft, bisweilen täglich, seit Jahren.

Zugleich aber zitterte er vor dem Augenblick, der kommen mußte, vor der Trennung, noch mehr vor der Wahl: noch hatte er keinen Mann gefunden, der ihm für sein Kind nicht zu roh oder zu verdorben gewesen wäre. Er war glücklich darüber, daß noch keine Neigung sie berührt hatte; während sie mit Eifer tanzte, verwirrte sie die jungen Leute, die ihr amouröse Redensarten zu sagen versuchten, durch ihren Spott. Bis er plötzlich an einer Veränderung ihres Gesichtes im Ballsaal, da sie sich von ihm unbeachtet glaubte, erkannte, daß es geschehen war, und nun nicht begriff, daß er es nicht längst erkannt, nicht kommen sehen hatte.

Bei den Hofbällen und anderen Festlichkeiten zeichnete sich ein junger Offizier vom Gefolge des französischen Gesandten aus. Man konnte ihn nicht eigentlich schön nennen, obschon er wohlgebaut und von männlichem Ausdruck war; es war wohl seine Stimme, die für ihn einnahm, und eine gewisse aufregende Eigenart seines Wesens, das bald traurig, bald übermütig erschien, bald wild und bald von hingebender Zartheit. Wenn irgend jemand nicht zu glänzen suchte, so war er es, und doch hatte er in Versailles geglänzt, wieviel mehr an dem kleinen deutschen Hof.

Niemand hätte sagen können, daß er sich um das Fräulein von Gartach auffallend bemühte; nur Kamilla hatte gesehen, wie er einmal, da sie im dritten Stockwerk eines Hauses am Fenster standen und der Wind ihren Handschuh hinausgetragen hatte, gelassen aus dem Fenster stieg und sich mit einer Hand an einem Regenrohr haltend, auf dem schmalsten Mauervorsprung gehend, ihr den Handschuh wiederbrachte, während sie sich schwindelnd die Augen zuhielt; wie er ein andermal einen etwas angetrunkenen Kavalier, der zudringlich ward, mit einer harten Handbewegung weit von ihr fortschob, ohne daß der andere sich überhaupt zu melden wagte. Sie hatte aber auch, als sie ihm einmal, beinahe ohne es zu wollen, vielleicht, weil sie sich vor ihm fürchtete, eine ihrer schneidenden Antworten gab, solchen Zorn in seinem Gesicht gesehen, daß ihre Furcht vermehrt ward.

So kam es, daß sie sich dem Vater verriet, als sie den Grafen von Leuville am Abend dieses selben Tages, an dem er, ohne ein Wort zu sprechen, mit einer tiefen Verbeugung von ihr gegangen war, im Ballsaal wiedersah. Den ganzen Abend näherte er sich nicht. Der Vater beobachtete sie unablässig, aber sie war bereits wieder völlig ruhig, bis er beide im Schatten einer Säule miteinander sprechen sah: ein hilfloser, gleichsam gebrochener Stolz war in ihrem Angesicht; das des Franzosen konnte er nicht sehen. Auf der Heimfahrt sprachen Vater und Tochter kein Wort: sie war zu erregt, um zu merken, mit welcher Angst die Blicke des Vaters auf ihr ruhten.

Er hinderte sie nicht, ihn zu treffen, aber er zog Erkundigungen ein und suchte selbst mehr mit dem Grafen zu sprechen; doch dessen unendliche Höflichkeit gestattete kein Eindringen in seine Seele. Nach einem solchen inhaltlosen Gespräch sahen Vater und Tochter einander unwillkürlich in die Augen, und Kamilla schlug die ihren nieder. Aber sie wechselten kein Wort darüber, beide verschlossen ihre so verschiedene Aufregung in der eigenen Brust.

An einem dieser Tage war es, daß der Freiherr, durch eine Straße gehend, einen Mann sah, der lachend und schimpfend aus der Tür einer Weinschenke trat: die elsässische Aussprache, die Bäffchen, das wallende Haar, das nur grauer geworden war, ließen ihn nicht zweifeln ... auch der andere hatte ihn ins Auge gefaßt und schien ihn mählich zu erkennen. »Sollte ich«, sagte er mit einer Verbeugung, »mich nicht irren ...? Sehe ich den puer generosus wieder, den ich einst zu unterweisen die Ehre hatte? Sind Dero Hochedeln wirklich ...?«

Gartach bestätigte kühl; er fragte den Mann, dessen Kleidung kümmerlich war, wie es ihm ginge.

»Leider nicht zu gut,« erwiderte der Abbé, »seine Pfründe sei eine Farce, die nicht farciert sei. Doch winke ihm jetzt eine Aussicht bei der französischen Gesandtschaft, deren Kaplan gestorben wäre.«

Gartach sah das weinselige Gesicht und meinte, daß er sich dann wohl eines anderen Lebenswandels werde befleißigen müssen. »Errötend muß ich den Tadel dessen hören, den ich einst leiten durfte«, erwiderte der Abbé lächelnd. Er schien sich dem Freiherrn auf seinem Wege anschließen zu wollen, aber dieser, der Fragen fürchtete, entfernte sich mit kurzem Abschied, indem er dem ehemaligen Lehrer zu seinen neuen Aussichten den besten Erfolg wünschte. Erst als jener nicht mehr sichtbar war, fühlte er die Aufregung, die dieses Wiedersehen durch die Erinnerung an jene Tage in Brüssel in ihm wachgerufen, da er seine verstorbene Frau zuerst gekannt hatte.

Wenige Tage später sah er Birkele in seiner Amtsstube vor sich. Die Aussicht bei der Gesandtschaft war zunichte geworden, und er wies auf seinen abgeschabten Rock, den zerrissenen Ärmel, ja, er öffnete sein Wams, um zu zeigen, daß er bei der Winterkälte kein Hemd auf dem Leibe trug. » Quantum mutatus ab illo ..« sagte er wehmütig. Gartach konnte nicht anders: er ließ ihm eine nicht kleine Summe auszahlen, mit der Mahnung, sie gut zu verwenden.

Nachdenklich saß er des Mittags in seinem Zimmer, als Kamilla eintrat und sich sachte zu seinen Füßen niederließ. Zärtlich küßte sie des Vaters Hände.

»Wie weich ihre Liebe sie macht«, dachte er. Da, indem er seinerseits ihre Hand liebkoste, vermißte er plötzlich einen Ring mit breitem Stein, den sie sonst am Finger trug und der ihrer Mutter gehört hatte. Er fragte sie danach, und mit leuchtendem Gesicht erwiderte sie, der Ring sei ihr gestern in den Fluß gefallen. »Wirklich, wirklich, mein Vater!« rief sie, da sie in seinem Gesicht einen erschrockenen Zweifel las. »Glauben Sie es mir; Sie wissen, wir waren gestern mit dem Gesandten in Cannstadt; als wir über die Brücke fuhren, zeigte ich den Ring einer Person, und da fiel er uns aus den Händen und verschwand im Wasser.«

»Und du bist nicht trauriger, daß der Ring deiner Mutter verloren ist?«

»Ich liebte ihn mehr als alles,« sagte sie, »aber ... fragen Sie mich jetzt nicht, mein Vater, ich bitte Sie darum.« Und mit einem rätselhaft freudigen Gesichtsausdruck eilte sie aus dem Zimmer. Kopfschüttelnd sah der Vater ihr nach.

Noch hatte er nichts anderes über Neuville erfahren, als daß die Familie alt und begütert war; auch in der Nähe, im Elsaß, hatte sie große Besitztümer. Indessen war der Graf bei einer Schlittenfahrt in größerer Gesellschaft nicht von Fräulein von Gartachs Seite gewichen, und daß er am selben Abend mit ihr und ihrem Vater zu Nacht speiste, schien kein bloßer Zufall zu sein. Die Folge war in den nächsten Tagen unendliches Gerede in den Hofkreisen und in der Residenz.

Etwa eine Woche nach diesem Divertissement ward für den Freiherrn ein Brief mit einem darin zusammengefalteten Zettel abgegeben, auf dem mit großen lateinischen Buchstaben geschrieben stand:

»Ew. Exzellenz! Der Graf von Leuville ist verheiratet. Seine Frau lebt krank und verlassen in ... (es folgte der Name eines ihm völlig unbekannten französischen Ortes). Ein Freund.«

Gartach, dem ein schreckliches, unzweifelhaftes Gefühl sagte, daß dieser Zettel die Wahrheit enthielt, sprach noch am selben Tag mit dem ihm befreundeten Minister, um sich auf ebenso sicheren wie unauffälligen Wegen die Gewißheit zu verschaffen. Unter dem Vorwand, daß er ein von ihm gefordertes Gutachten über den Entwurf einer Kriminalreform in Ruhe ausarbeiten wollte, verließ er Stuttgart. Kamilla begriff sogleich, daß er sie entfernen wollte. In ihren Augen sah er Spuren von Tränen, aber vor ihm weinte sie nicht. Sie war gehorsam ohne Zärtlichkeit.

Während die Pferde schwer durch den Schnee zogen und auf Feldern und Hügeln schon eine matte Dämmerung lag, sah er, wie Kamilla, die starr in den Schnee gesehen, von plötzlicher Hoffnung aufleuchtete: sie hatte ihre Hand und den Finger betrachtet, an dem der Ring fehlte.

Als sie, in Gartach angekommen, bei Tische saßen und von dem im Kamin flackernden Feuer Schatten und Lichter bis zur Decke tanzten, bat er sie, ihm nun zu sagen, was es mit dem Verlust ihres Ringes für eine Bewandtnis habe.

»Wie Sie befehlen, mein Vater,« erwiderte sie, »ich will es Ihnen sagen. Ich liebte diesen Ring über alles, das wissen Sie; und ich dachte einmal, wenn ich ihn, das Liebste, was ich besaß, opferte, dann würde mir ... ein Wunsch erfüllt, den ich damals hatte. Aber ich konnte mich nicht entschließen, ihn von mir zu werfen. Am nächsten Tage fuhr ich über die Neckarbrücke vor Cannstadt mit einer bestimmten Person, der ich den Ring zeigte, und da entfiel er unseren Händen und verschwand im Wasser ... Da sah ich, daß mein Wunsch erfüllt werden soll ...«

Sie sah dem Vater bei diesen Worten entschlossen in die Augen.

»Mein süßes Kind,« sagte der Freiherr, »niemand wünscht heißer, daß alle deine Wünsche in Erfüllung gehen mögen, als ich. Alle Wünsche, die zu deinem Heile sind.«

»Dieser Wunsch ist zu meinem Heil.«

»Wir wollen es hoffen.«

»Vater ...« begann Kamilla.

»... Und manchmal ändert man auch seine Einsicht und mit der Einsicht auch seine Wünsche.«

»Ich ändere mich nicht, ich bin treu.« Der Freiherr seufzte und sah nach den zuckenden Flammen im Kamin.

Die Wochen vergingen, ohne daß die erwartete Nachricht aus Frankreich eintraf. Statt dessen kam ein Brief des Abbé Birkele an den Freiherrn, der mit den Worten » Epistola non erubescit« anfing und um ein Darlehn bat. Dieser Brief blieb unbeantwortet.

Vierzehn Tage später erschien Birkele selbst und bat seinen Gönner, ihm während des furchtbaren Winters ein Obdach zu geben. Es war nicht in des Freiherrn Art, sich einen unerwünschten Hausgenossen aufdrängen zu lassen, und er sprach hart von Demeritenhäusern; aber das Unwetter war im Augenblick so arg, daß er es nicht über sich brachte, ihn hinauszustoßen, sondern ihm vorläufig ein Zimmer im Hause des Verwalters anwies. »Warum arbeiten Sie nicht?« fragte er ihn.

»Euer Exzellenz! Wer gibt mir eine Arbeit, die meinem Stande und meinen Kenntnissen entspricht?« Darauf versuchte Gartach, ihn in der Bibliothek zu beschäftigen, aber von der Arbeit entwich der Abbé unter immer neuen Vorwänden und kam, wenn er einmal ging, sobald nicht wieder; zumeist saß er am Küchenfeuer und schwatzte mit Knechten und Mägden. Seine groteske Art und seine witzigen Erzählungen belustigten Kamilla, und so wußte der Freiherr ihm zuletzt für seine Gegenwart Dank, – bis der Verwalter ihm eines Tages empört zur Kenntnis brachte, daß der Abbé sich am Abend zuvor betrunken und dann gegen seine Frau zudringlich gezeigt hätte, wie denn auch die Mägde sich schon lange über ihn beklagten. Tags darauf mußte er ohne Verzug aus dem Hause. Der Kutscher eines Gutswagens, der aus der nächsten Stadt zurückkam, hatte ihn unterwegs in einem Wirtshause gesehen, wo er sich einer Hochzeitsgesellschaft angeschlossen hatte, trank, Kartenkunststücke zum besten gab und unflätige Geschichten erzählte.

Kamilla saß vor ihrem winzigen Schreibtisch, als der Vater ihr das Vorgefallene erzählte; in der Nische standen auf einem Gesimse viele stille Porzellanfigürchen; vor ihr lag ein in Seide gebundenes Büchlein; darin waren die Hoffestlichkeiten und Bälle eingetragen, an denen sie noch hatte teilnehmen wollen. Während sie in Nachdenken versank, griff er nach dem Büchlein. Kamilla ward feuerrot. Ein Brief fiel zur Erde. »Sie haben es auch getan! So, wie Sie meiner Mutter treu blieben, so bleibe ich ihm treu!«

Fast wäre er vor ihr niedergekniet; aber sie hob den Kopf und sah mit festgeschlossenen Lippen in den Wintertag hinaus. Der Vater ging, in schweren Gedanken.

Der Winter dauerte in diesem Jahr ungewöhnlich lange. Eines Abends im März kam ein herzoglicher Kurier mühsam durch den Schnee heraufgeritten, der ein versiegeltes Paket für den Freiherrn abgab. Als man ihm dann in der Halle Wein und Speise bot, erzählte er, daß er an einer Chaise vorbeigekommen, die im Schnee stecken geblieben war. Der Freiherr hatte sich indessen eingeschlossen und zuletzt nach seiner Tochter geschickt. Sie war nicht da. Während er die Diener befragte, trat der Verwalter ein und berichtete, was der Mann unten von der Chaise gesagt, und fragte, ob er Leute zu Hilfe schicken sollte. Der Freiherr schien nicht zu hören. In seinem blauen Frack stand er hochaufgerichtet da, ein zorniges Leuchten in den Augen. Er fragte nur, ob jemand wisse, wo das gnädige Fräulein sei. »Sie sei wohl mit der Kammerjungfer ausgegangen.« – »Ohne Bedienten?« – »Das gnädige Fräulein habe nicht gewollt; das gnädige Fräulein habe ihr Gewehr mitgenommen. Wenn Seine Exzellenz befehlen wollte, würde jemand entgegengehen.« Daraufhin wendete der Freiherr sich an den Verwalter und sagte mit einer seltsam wächsernen Ruhe, er möge den Kutscher und noch einen Knecht mit zwei Pferden hinabschicken, um nach der Chaise zu sehen, die im Schnee stecken sollte.

Eine halbe Stunde später trat Kamilla in die Halle; ihre Wangen waren von der Kälte gerötet: trotzdem schien sie nicht gut auszusehen. Der Freiherr rief sie in sein Kabinett. Umsonst wollte er sie schonen und verlangte, daß sie auf seinen väterlichen Rat, sein Wort, von jenem Manne lasse! Sie leugnete, daß Leuville unwürdig gehandelt hätte. »Sie selbst«, rief sie, »haben mich gelehrt, daß man beide Teile hören müsse.« Und zuletzt, da er gegen seine Gewohnheit heftig ward und sie eine vertrauenslose Törin nannte, stand sie auf, und mit den Worten: »Wie Sie wollen, mein Vater, wie Sie wollen ...!« wendete sie sich zur Türe. Da rief er sie zurück und zeigte ihr die amtliche Abschrift aus dem Kirchenbuch, die Bestätigung des Pfarrers, Briefe der Gräfin von Leuville, ja Briefe, die Leuville selbst geschrieben, aus denen die schreckliche Tatsache unzweifelhaft ward.

Kamilla sprach keinen Laut. Als er wieder aufsah, war sie mit blassem Gesicht vornüber gesunken. Er richtete sie auf und klingelte. Im selben Augenblick ward an die Tür geklopft, und der Bediente meldete, das Stiftsfräulein von Schaub sei angekommen; sie war in dem Fahrzeug gewesen, das im Schnee stecken geblieben war. Der Freiherr führte Kamilla auf ihr Zimmer und ging in die Halle hinab, küßte seiner Verwandten die Hand, half und wartete, bis sie sich aus den Pelzen gewickelt und ein wenig erwärmt hatte; dann geleitete er sie zum Abendbrot, entschuldigte Kamilla mit einem leichten Unwohlsein und setzte sich mit ihr an den Tisch. Sie stöhnte über ihr Erlebnis, erzählte und fragte, und da sie mit dem Alter schwerhörig geworden war, mußte er ihr seine Antworten ins Ohr rufen.

Nach dem Essen rückte sie näher an ihren Vetter, sagte, sie habe ihm Wichtiges zu eröffnen; nicht ohne Grund habe sie die beschwerliche Winterfahrt unternommen: man habe seine Tochter Kamilla mit verschiedenen Kavalieren und allerlei zweideutigen Leuten zusammen gesehen, mit denen sie sich an höchst unpassenden Orten, in geringen Wirtshausstuben stundenlang eingeschlossen ...

Bei den ersten Worten war das Gesicht des Freiherrn eisern geworden; er bat sie vor allem, leiser zu sprechen, dann fragte er, wer dies gesehen hätte und wann?

»Ich flüstere,« schrie die Stiftsdame, »ich flüstere. Wann? wiederholt! und wer? der Christian Vollrath, der Sohn des Schulzen in Meilingen ...«

»Dann sagen Sie Vollrathen, ich würde ihm Stockprügel geben lassen. Kamilla ist mit ihrem Vetter Rudolf von Gartach, der einmal herüberritt ...«

»Mit Rudolfen? Nein! den kennt Vollrath auch!«

Aber die Hand des Freiherrn legte sich hart auf die ihre. »Ich wiederhole Ihnen, daß es Rudolf war; und wer anders sagt, der gehört auch nicht einen Augenblick länger in mein Haus!« Bei dem schmerzhaften Druck seiner Finger auf ihren dünnen Knochen und unter seinem furchtbaren Blick ging ihr ein Verständnis auf; ihre gelben Wangen zitterten und mit einem erschreckten Nicken sagte sie, daß sie seines Blutes sei und er sich auf sie verlassen könnte. Dabei nahm sie ihre Reifröcke auf, der Freiherr klingelte und begleitete sie bis an die Tür ihres Schlafzimmers. Dann suchte er Kamilla auf.

Sie saß mit fieberglänzenden Augen und geöffnetem Haar, im weißen Nachtgewand auf dem Sofa. Der Vater schickte die Jungfer aus dem Zimmer; dann sagte er ihr, was er eben gehört.

Sie rang die Hände zu ihm empor. »Ich werde Ihnen alles sagen,« rief sie, »ich muß es ja! Aber haben Sie Mitleid: nicht jetzt!« Aufschluchzend drückte sie den Kopf an seinen Arm. »Wenn er es mir gesagt hätte! Wenn er es mir gesagt hätte! Aber daß er es mir verhohlen! daß er das alles tun konnte, und daß er mich belogen hat, mein Vater!« Krampfhaft hielt sie seinen Arm fest; ihr ganzer Körper schauerte. Gartach legte sie sanft nieder und sagte, er werde einen Bedienten um den Arzt schicken. »Nein, nein!« rief Kamill», »lassen Sie niemanden zu mir!«

Der Vater rief das Mädchen wieder ins Zimmer; dann ging er hinab und hieß den Bedienten satteln und ein paar Pistolen, der Wölfe wegen, in den Halftertaschen, eiligst nach der Stadt reiten und den Arzt holen. Er selbst prüfte die Festigkeit des Sattelgurtes, die Schärfe der Eisen.

Als er zurückkam, sah er die Jungfer in der Halle stehen: das gnädige Fräulein hätte sie aus dem Zimmer geschickt. Gartach stieg die Treppe hinauf; er lauschte im Gange: Kamilla schrie in ihrem Zimmer; immer ein Schrei kam nach dem andern. Sowie seine Schritte sich der Türe näherten, verstummte sie.

Er blieb stundenlang bei ihr sitzen, seine Hand in der ihren.

Die Base Schaub reiste am nächsten Tag ab, ohne Kamilla gesehen zu haben, aber nicht, ohne daß ihr der Freiherr sehr ernst und eindringlich wiederholte: alles, was seine Tochter getan, sei recht gewesen und mit seinem Wissen und mit seiner Billigung geschehen.

Am Tage darauf rief Kamilla ihn an ihr Bett und sagte ihm: Was die Base Schaub erzählt, sei alles wahr: sie sei Leuvilles Frau ...

»Wie, was? ... seine Frau ...?«

»Nein, ich bin es nicht! kann es ja nicht sein! Aber ich hielt mich doch dafür! durch die Trauung ...«

»Trauung?!«

»Sie kennen den Priester ... kein würdiger Mann, aber doch ein Priester!«

»Birkele!« rief Gartach mit einem Ton, den sie nie an ihm gehört. Sie nickte. Der Vater ergriff eine der Porzellanfiguren und brach sie an der Wand in Stücke. Entsetzt sah sie ihn an, dann erzählte sie, wie sie durch den Abbé mit Leuville verkehrt hatte, wie sie mit ihm und zwei andern Männern im Walde bei Meilingen zusammengetroffen und dort von Birkele getraut worden ...

»Und?« fragte der Freiherr, weiß im Gesicht.

Kamilla sah zur Wand und gab keine Antwort. Der Freiherr ging wortlos aus der Stube.

Einige Tage später fuhr er mit vorausgeschickten Kurieren, die für Vorspann sorgten, auf den durchweichten Straßen nach Stuttgart. Er wollte den Grafen von Leuville fordern. Aber in der Residenz sagte man ihm, daß dieser sie kurz zuvor, eines Duells wegen, in dem sein Gegner auf dem Platz geblieben war, verlassen hatte. Auch von Birkele fand sich keine Spur.

Da er die Nachricht erhielt, daß es seiner Tochter nicht gut ginge und daß sie Blut gehustet hätte, kehrte er nach Hause zurück. Das Schicksal wiederholte sich aus Gartach in einer Weise, daß er an das Erleben eines bösen Traumes dachte. Wie einst, trug er ein geliebtes Geschöpf, das in seinen Armen verging, auf die sommerliche Parkwiese hinaus, und wie einst seine Frau, sah er jetzt sein Kind hinschwinden und sterben.

An dem Abend, an dem sie tot in der Halle lag, ging etwas Seltsames mit ihm vor. Er hatte seinen Sekretär in sein Kabinett gerufen und ihm sein Abschiedsgesuch diktiert, dann war er in die Halle hinab zu der Toten gegangen. Eine Weile später war dem Sekretär bei der Ausfertigung, mit der es dem Freiherrn sehr zu eilen schien, ein Zweifel gekommen und er ging, ihn darüber zu befragen. An der Türe der Halle blieb er stehen, zaudernd einzutreten, da er zu stören fürchtete. Er hörte ein Stöhnen durch die Türe, dann lautes Sprechen; da glaubte er öffnen zu dürfen: in der Nähe des von Blumen und brennenden Kerzen umgebenen Sarges sah er den Freiherrn mit erhobenen Händen laut ins Leere sprechen, als redete er zu jemandem, der nicht da war. Und jetzt drehte Gartach sich um, so daß er dem Sekretär, der in seiner Bestürzung stehen blieb, wo er war, das Gesicht zuwendete: aber er schien ihn gar nicht zu sehen, sondern sprach mit feierlich erhobenem Finger weiter. Erschüttert zog der junge Mensch sich zurück. Bald darauf kam der Freiherr wieder in sein Zimmer, setzte sich, anscheinend völlig ruhig, an den Tisch und schrieb und diktierte.

In den folgenden Tagen ordnete er seine Papiere und bereitete alles zur Abreise; jedoch ein Brief, der aus Frankreich eintraf, änderte seine Absichten. Er hatte einen Freund, der Offizier gewesen und den er in alles eingeweiht hatte, bestimmt, für ihn nach Frankreich zu reisen, um den Grafen herauszufordern; aber dieser hatte, in Paris angekommen, erfahren, daß Herr von Leuville sich bereits vor mehreren Monaten mit den Truppen eingeschifft hatte, die unter dem Befehl des Grafen Rochambeau nach Amerika gegangen waren, um den aufständischen Provinzen gegen die Engländer beizustehen.

Er schrieb dem Freunde zurück, er möchte ihn in Havre erwarten, wohin er ihn folgen würde, um sich gleichfalls nach Amerika einzuschiffen. Aber ehe er dies tun konnte, verfiel er in eine heftige Krankheit, von der er lange nicht genesen zu können schien. Als er zum erstenmal das Bewußtsein wiedererlangte, saß der Freund an seinem Bett, und als er nach vielen Monaten sich für reisefähig hielt und reisen wollte, stellte der ihm vor, daß er in dem ungeheuren Lande in Kriegszeiten einen einzelnen fremden Offizier schwer finden, und dieser dort nicht gehalten sein würde, sich mit ihm zu schlagen; er selbst aber würde vielleicht die unglaublichen Strapazen solch einer Reise nicht ertragen und vor dem Ziele umkommen.

Gartach war erst zweiundvierzig Jahre alt; sein Haar unter der Perücke war völlig gelichtet und ergraut, aber sein Gesicht war nicht alt; nur um den Mund waren zwei harte Linien und in den Augen war ein fremder Ausdruck. Die Nachbarn hielten ihn für einen gebrochenen, aber friedlichen Mann; nur daß er täglich stundenlang im Park mit der Pistole schoß, wunderte sie; sie glaubten, daß er sich diesen Zeitvertreib dem Major von Beringen zuliebe angewöhnt hätte.

Als über ein Jahr vergangen war, schrieb sein Agent aus Paris, daß der Graf von Leuville, mit dem Rang eines Obersten bekleidet, aus Amerika eingetroffen sei. Er werde als Freiheitskämpfer sehr gefeiert und alle Damen zeichneten ihn aus.

Die beiden Männer trafen sogleich ihre Vorbereitungen und begaben sich, von zwei verläßlichen Dienern begleitet, auf die Reise. Der Winter setzte eben mit großer Heftigkeit ein, dennoch fuhren sie, allen Schwierigkeiten und Gefahren trotzend, Tag und Nacht, so schnell es ging, quer durch Frankreich nach Paris. Aber sie fanden den Grafen nicht dort. Er war nach seinen Gütern im Elsaß gereist. Sie wollten sogleich umkehren. Als sie aus Paris fuhren, scheuten ihre Pferde, der Kutscher wurde vom Bock geschleudert und mußte ins Hospital gebracht werden; die vorderen Tiere waren schwer verletzt. Dadurch verloren sie mehrere Tage; aber Gartach blieb ruhig und sorgte mit aller Umsicht für den Ersatz.

Wieder fuhren sie, vier finstere, schweigende Männer, allen Leuten unheimlich und fremd, über die schwierigen winterlichen Straßen der Grenze zu. Vor Troyes brach ihr Wagen; in Bar-le-Duc wollte man sie aus irgendeinem Verdacht nicht weiter lassen; aber Gartach, der einzige unter ihnen, der Französisch sprach, setzte es durch seine unbezwingliche Entschlossenheit und Ruhe durch.

Endlich langten sie in einem Dorf an, das nur eine Wegstunde von dem Schlosse des Grafen von Leuville entfernt war. Von hier schickten sie einen ihrer Diener zu Pferde hinüber, dem Grafen die Forderung zu überbringen. Der Mann hatte den Befehl, keinerlei Auskunft zu geben, nur die Antwort zu fordern. Er kam wieder und brachte ein Schreiben des Inhalts, daß Herr von Leuville zwar ungern, aber wenn Herr von Gartach es durchaus wolle, sich ihm am beliebigen Ort und in beliebiger Begleitung zur Verfügung stelle.

Als Gartach den Brief gelesen hatte, bestellte er Wein und trank ein Glas leer; dann begann er die Antwort zu schreiben. Plötzlich legte er die Feder nieder und sagte: »Nein, es geht nicht.«

»Was geht nicht?« fragte der Major, der rauchend am Fenster stand und in den Nebel hinausgesehen hatte.

»Ich kann mich nicht mit ihm schlagen.«

Der andere legte die Pfeife aus dem Mund und sah ihn starr an; dann fragte er: »Warum nicht!«

»Weil er mich töten könnte.«

Der Major stieß einen Fluch aus. »Was, was!« rief er, »du fürchtest dich?«

»Fürchten!« sagte der Freiherr schrecklich lachend, »ja, daß er seiner Strafe entgegen könnte!« Er stand auf, faßte des andern beide Hände mit den seinen und sagte nachdrücklich: »Dem Mann, der mein Kind betrogen und ermordet hat, dem soll ich mich als Gleicher gegenüberstellen? ihn sich wehren, ihn vielleicht nachher sich rühmen lassen, daß er mich geschont? Nein, Beringen, das Duell ist keine Sühne, und für mich keine Rache! Ja, wenn er ein Feigling wäre ...«

»So ... so ...« sagte der Major.

»Ich will, daß er seine Strafe erhalte. Ich bin nicht sein Gegner, ich bin sein Richter!«

»Was willst du tun?«

»Richten! Beringen! Nur auf die Gerechtigkeit des Urteils kommt es an ... und wenn die Richter sonst die Verantwortung auf den schieben, der sie ernannt hat, ich nehme sie selbst auf mich ... auf mich ganz allein ...!«

Der Major schüttelte den Kopf, aber er lag schon lange im Bann des anderen, und dieser im Bann eines einzigen Gefühls.

Acht Tage später kam der Freiherr des Nachts vor seinem Schlosse an. Beim Schein einer Laterne hoben sie einen gebundenen und geknebelten Mann vom Wagen. Sie trugen ihn sofort in den Saal hinauf, wo der Freiherr zwei Kerzen anzündete und ein Kruzifix auf den Tisch stellte. Dann ließ er dem Gefesselten den Knebel aus dem Mund nehmen, und als dieser heftig gegen die Felonie protestierte, mit der man ihm begegnet sei, gebot er ihm Schweigen. Dann hielt er ihm in schrecklichen Worten seine Tat vor, verlas aus den »Akten« ein Zeugnis seines toten Kindes, und wies ihm zuletzt ihr Herz, das er hatte einbalsamieren lassen; und als jener es in starrem Entsetzen sah und kein Leugnen wagte, sprach Gartach »nach dem Recht Gottes und der Natur« das Urteil, und die Anwesenden, von seiner Verrücktheit oder was es sonst war, angesteckt, stimmten feierlich zu.

Der Franzose, dem die schwarzen Haarsträhnen um das blasse männliche Gesicht fielen, sah jetzt mehr noch mit Wut, als mit Schrecken, wie der Freiherr einen Balken aus dem Fenster legen und festmachen ließ. Er begann zu schreien wie ein wildes Tier, er bat, versprach und drohte. Der Freiherr verwandte kein Auge von ihm, und niemand achtete auf seine Worte. Da sank er zusammen. Man legte ihm eine Schlinge um den Hals, befestigte das Ende des Strickes an dem Balken; dann zerrten sie den vergeblich sich Sträubenden zum Fenster, wälzten ihn über das Gesimse und ließen ihn ins Leere hinausfallen.

Am andern Morgen sahen die erschreckten Schloßbewohner den Toten im Hofe aus dem Fenster hängen.

Als später eine Kommission auf das Schloß kam, empfing sie der Freiherr im blauen Frack mit schneeweißem Jabot und tadellos gepuderter Perücke, mit einer gewissen feierlichen Ruhe. Er erklärte den Herrn alles sehr artig und begriff nicht, daß sie sein Verfahren nicht gutheißen wollten.

Es wurde eine Untersuchung eingeleitet, die Diener wurden sogar gefänglich eingezogen, aber auf Befehl des Herzogs wurde das Verfahren zuletzt wieder eingestellt. Den Rekriminationen des französischen Gesandten setzte man die Entschuldigung entgegen, daß der sonst friedliche und verdienstvolle Mann geistesgestört sei. Und die Ereignisse, die in Frankreich kamen, ließen den Grafen von Neuville und sein Ende bald in Vergessenheit geraten.

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