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Herr Kohlstrey

Als ich noch ein Kind war, hatten wir einen Nachbar, der Herr Kohlstrey hieß. Gelegentlich kam er in einem kleinen Wagen mit einem struppigen kleinen Pferde vorgefahren, um meinen Eltern einen Besuch zu machen. Meine früheste Erinnerung an ihn ist, daß er eines Abends im Spätherbst sehr unerwartet ankam, und daß, als er die Tür aus dem langen Gang zum Wohnzimmer öffnete, solch ein Zugwind entstand, daß das Fenster, an dem meine Cousine Harnet mit einem Buche saß, klirrend zuflog, wobei die Lampe auf ihrem Tischchen umstürzte, und ein Brand mit Mühe verhütet wurde. Meine Eltern waren von seinen Besuchen nie sehr erfreut, und jedesmal, wenn er kam, ereignete sich etwas Unliebsames. Frau Hinrath, unsere Wirtschafterin, fand dies natürlich: die Leute sagten, daß es in Herrn Kohlstreys Haus umgehe.

Wenn Herr Kohlstrey am Vormittag kam und etwa nachmittags oder am andern Morgen ein Mann bei der Schneidemaschine den Finger verlor, ein Keller überschwemmt ward, oder eine Kuh in dieser Woche keine Milch gab, so wurde dies von Frau Hinrath und vielen anderen auf dem Gut dem Besuch Herrn Kohlstreys zugeschrieben.

Er war ein großer blasser Mensch mit schwarzem Haar und Schnurrbart und hatte einen unsicheren Blick. Etwas bestimmtes Böses wußte man nicht von ihm; Frau Hinrath vermutete es dennoch, und um die Verborgenheit des Bösen zu belegen, erzählte sie, wie in ihrer Heimat zu einer kranken Frau jede Nacht eine schwarze Katze ins Fenster gesprungen wäre, die sich der Wehrlosen auf die Brust gesetzt; eines Tages jedoch sei die Tochter dazugekommen und habe die Katze mit Rutenhieben hinausgejagt: tags darauf habe eine Schustersfrau im Ort sich zu Bett legen müssen, und man habe die Spuren der Hiebe an ihrem Körper gefunden. Sie hätte dann auch an dem Ort nicht mehr bleiben können.

Vor meinem Vater durften dergleichen Dinge nicht laut werden, aber mir kamen sie durch Frau Hinrath selbst oder durch das Gesinde zu Ohren, und jedesmal, wenn ich Herrn Kohlstreys breites graues Haus mit dem mächtigen Heuboden unter dem Giebel tief unter den Bäumen liegen sah, erinnerte ich mich, daß es darin umgehe, und wenn bei Nacht aus seinem schweren Schatten ein oder das andere erleuchtete Fenster wie ein glühendes Auge sah, dann ging ich auch am Zaun des Gartens nicht gerne vorüber.

Dort im Hause hatte er sein Korn- und Mehlgeschäft; nicht viele Schritte dahinter am Fluß lag eine alte Mühle, die ihm gleichfalls gehörte; in dieser Mühle war ich einmal gewesen, und die Gänge und Räume über dem Wasser, all das faulende feuchte braune Holzwerk, um das riesiger Huflattich wuchs, erschien mir unheimlich.

Herr Kohlstrey war viel unterwegs, und eines Abends bei schlechtem Wetter hatte er unseren Kutscher, der mit dem leeren Jagdwagen vom Bahnhof fuhr, gebeten, ihn mitzunehmen; unser Schimmel, der noch jung, aber sehr fromm war, ging an diesem Abend dem Kutscher durch, so daß die beiden Männer und das Pferd im Dunkeln in Gefahr kamen; das Tier lahmte eine Zeit. Der Kutscher schob die Schuld auf Herrn Kohlstrey; worin sie bestand, wußte er indes nicht zu sagen, und mein Vater, sowie Herr Leiwes, unser Verwalter, nannten es eine faule Ausrede.

Ich traf Herrn Kohlstrey vor dem Gemeindehause, derart, daß wir eine Strecke den gleichen Weg hatten. Wenn ich ihn bei Tage sah, schwanden die Spukgedanken mir völlig aus dem Gedächtnis; auch war ich damals schon beinahe fünfzehn Jahre alt und nicht mehr so leicht erschreckbar. Er bedauerte den Unfall, und da ich wissen wollte, wie es eigentlich gewesen war, sah er sich ein wenig um und sagte dann: »Der kleine gelbe Hund hat das Pferd erschreckt.«

»Welcher gelbe Hund?« fragte ich.

»Der mir immer nachläuft.«

Ich hatte nie einen gelben Hund mit ihm gesehen, und ich hatte plötzlich das Gefühl, daß unser Kutscher recht haben könnte.

»Gestatten Sie mir zu fragen, Herr Strantz,« sagte Kohlstrey indessen, der immer salbungsvoll höflich war, »wie sich Fräulein Harriet befindet?«

Irgendwie war ich unangenehm berührt. »Ich denke, sie befindet sich gut«, antwortete ich.

Als ich ein kleiner Junge war und Harriet bei uns wohnte, schlich ich mich oft des Vormittags in ihr Zimmer, um zuzusehen, wenn sie ihr langes blondes, bis zu den Knien reichendes Haar kämmte; sie war um acht Jahre älter als ich, und niemand hätte vermutet, was den scheinbar nur aufs Spiel bedachten Knaben in ihr Zimmer lockte. Dann war Harriet zu einer Tante gezogen, mit der sie reiste; war Gesellschafterin bei einer fremden Dame gewesen und endlich zu uns zurückgekommen; sie war ernster geworden, aber nicht zu sehr.

Als ich nach Hause kam, sah ich auch sie vor dem Pferdestall stehen. »Herr Kohlstrey hat sich nach deinem Befinden erkundigt, Harriet«, sagte ich.

Harriet zuckte die Achseln und sah mit aufmerksamem Gesicht durch die Stalltüre, was der Verwalter mit dem Schimmel vornahm; denn Herr Leiwes, der drei Jahre bei den Ulanen gedient hatte, behandelte das Tier selbst. Ich trat sofort in den Pferdestall, um zu helfen. Herr Leiwes war mein Freund. Anfangs hatten wir seinen Namen komisch gefunden, aber Frau Hinrath erklärte, daß er im Deutsch ihrer Heimat etwas Liebes bedeute, und das sei der Träger auch. Er war groß und stattlich, von ungeheuren Kräften: als ich auf einem der schweren Eichenstühle in der großen Stube saß, hob er den Stuhl und mich mit einer Hand auf den Tisch. Wenn er mit seinem schmalen sonngebräunten Gesicht lachte und alle seine gesunden weißen Zähne zeigte, mußte man ihm gut sein.

Als wir drei, – denn auch Harriet war mählich immer nähergetreten, – und außer uns nur noch George, der Kutscher, so freundschaftlich um das Pferd standen, machte ich eine folgenreiche Entdeckung. Herr Leiwes hatte den Verband erneuert, George war mit dem Eimer nach dem Brunnen gegangen, und ich kramte unter dem Sattelzeug; sei es, daß die beiden meiner vergaßen oder mich abgewendet glaubten, jedenfalls sah ich, daß sie, scheinbar mit dem Pferde beschäftigt, einen langen Blick tauschten, der auch meinem Verständnis deutlich war. In diesem Augenblick erschien mein Vater im Hof und rief mich in heftigem Ton zur Arbeit.

Zerstreut und grübelnd saß ich am Fenster über meinen Büchern.

Drei Wochen später sah ich, am gleichen Fenster sitzend, Herrn Kohlstrey auf unserm Hof; es siel mir auf, daß er schwarz gekleidet war; der längst geheilte Schimmel stand angeschirrt da, und Harriet ließ ihn Zucker, den sie sich von Frau Hinrath aus dem Küchenfenster hatte reichen lassen, von ihrer flachen Hand fressen. Als ich den Hof hinunterkam, war auch Herr Kohlstrey hinzugetreten und wollte den Schimmel streicheln, aber das Tier hob den Kopf und wich, den Wagen mitschiebend, ein paar Schritte zurück.

»Er scheint Sie nicht zu lieben«, sagte meine Cousine kalt.

Herr Kohlstrey machte merkwürdige Augen, dann fragte er, ob Fräulein Harriet etwa im Begriffe sei auszufahren.

Sie hatte gar nicht daran gedacht; ich weiß nicht, warum mir der Einfall kam, und ich rief: »Harriet, komm! Leiwes nimmt uns ein Stück mit!« und wir sprangen auf und fuhren ins Feld hinaus. Er hatte auf dem Pachthof zu tun; es war Vormittag, die Sonne schien nicht zu heiß, und wir waren sehr vergnügt. Auf dem Rückweg fuhren wir dem Fluß entlang, der hie und da durch die Weiden an seinen Ufern aufblitzte, die Straße war nur durch schmale Felder von ihm getrennt; wir kamen an Herrn Kohlstreys düsterem Hause vorüber und mußten lachen. Ein Hase sprang über unseren Weg. »Das bedeutet Unglück«, sagte Harriet. Leiwes lachte: »Das bedeutet, daß heuer viel Hasen sind; ich freue mich schon aufs Abschießen im Herbst.« Herr Kohlstrey fuhr an uns vorüber. Er grüßte und dienerte sehr und schien halten zu wollen; aber wir hielten nicht.

Unser Haus war alt, mit mächtigen Mauern und großen Stuben. Ehe man in das Speisezimmer kam, mußte man durch einen fast leeren Raum, in dem nur ein viereckiger Tisch und einige Stühle standen. Das große Fenster war weit offen, und auf dem Tisch stand, als ich eintrat, ein riesiger Blumenstrauß. Die alte Türe zum Speisezimmer schloß nicht sehr dicht; ich hörte meinen Vater auf und ab gehen und sagen: »Verschweigen dürfen wir ihr's nicht. Der Mann ist vermögend, nicht alt, und es liegt nichts gegen ihn vor.«

Bei Tisch herrschte eine merkwürdige Stimmung, und nach dem Essen wurde ich hinausgeschickt. Ich hörte Harriet noch laut lachen; später aber kam sie kreideweiß aus dem Zimmer und eilte auf ihre Stube. Als ich nach einer Weile auf dem Gang vorüberging, hörte ich sie so weinen, daß ich zuletzt eintrat und sie mit Fragen bestürmte, bis sie mir sagte: meine Eltern hätten ihr zu verstehen gegeben, daß Herrn Kohlstreys Antrag sehr vorteilhaft sei und daß sie als armes Mädchen nicht hoffen dürfe, daß bald wieder ein so vermögender Mann um sie anhalten würde. Daraus sehe sie, daß sie ihnen zur Last sei und aus dem Hause müsse; sie wisse nicht, wohin sie gehen sollte; das bitterste aber sei die Erkenntnis, daß man sie nicht wirklich lieb gehabt und nur ungern behaust hätte ...

»Sage doch ehrlich, daß du Leiwes lieb hast und ihn heiraten willst!« sagte ich.

Da sah sie mich erschrocken an, hieß mich schweigen, lächelte und schluchzte und nannte mich ihren lieben Freund. Ich aber holte meine Mutter, der ich von Leiwes nichts, wohl aber alles andere sagte, und die das törichte Mädchen beruhigte und ihr versicherte, sie hätten nur ihre Pflicht tun wollen, auch sie wäre nicht für Herrn Kohlstrey, und Harriet könnte ruhig bei uns bleiben, bis sie eine standesgemäße Ehe schließen würde. Denn meine Mutter hielt sehr auf Familie, fast noch mehr als mein Vater.

Den Blumenstrauß warf ich aus dem Fenster.

Wer vermochte in Herrn Kohlstreys seltsamer Seele zu lesen? Nicht drei Wochen waren vergangen und wir erfuhren, daß er um Marie Kallenz geworben hatte und nicht vergeblich. Sie war die Tochter des Oberlehrers, zart und dunkel, und Harriets Freundin. So unmutig war diese bei der Nachricht, daß sie ausrief: sie könne sich keinen andern Grund denken, weshalb die Marie ihn genommen hätte, als daß sie das Monogramm auf ihrer Wäsche nicht zu ändern brauche. Marie selbst aber gestand ihr, daß sie ihm auf das Drängen ihrer Eltern und seines Geldes wegen das Jawort gegeben.

Schon nach zwei Monaten fand die Hochzeit statt. Herr Kohlstrey besorgte die Ausstattung seiner Braut, prunkend und doch knickrig dabei. Stets wurden ihr Kleinigkeiten versagt, die sie begehrte. »Er schenkt ihr ein Seidenkleid«, sagte Harriet, »und spart am Volant.« Denn seltsamerweise kamen die beiden Mädchen, von denen die eine so rasch die andere abgelöst hatte, gerade jetzt viel zusammen. Bald huschte Marie in der Dämmerung zu uns herüber; bald kam Harriet zu ihr ins Schulhaus.

Am Polterabend betrat ich Herrn Kohlstreys Haus zum erstenmal. Die Haustüre und der Giebel waren mit grünen Gewinden geschmückt und vom Dach wehte eine bunte Fahne, dennoch lag es düster und unfroh unter den Bäumen. Herrn Kohlstreys Gesinde, ein merkwürdig verwahrlost aussehendes Volk, hatte sich einen Anstrich von Festputz zu geben versucht; der kleine Kutscher mit seinem gelben Gesicht und den Glotzaugen, der blatternarbige Müllerknecht trugen Schleifen und kleine Sträußchen im Knopfloch, – eine schlürfende Magd, die boshafte Köchin hatten Häubchen auf die schlechtgemachten Haare gesetzt. Als wir eintraten, saß Herrn Kohlstreys alte Mutter mit ihrem kleinen Totengesicht da und hatte ihre magere Hand auf den mit weißem Tuch überzogenen Tisch gelegt, auf dem die Hochzeitsgeschenke zur Schau gestellt waren, die sie unaufhörlich betrachtete und zu bewachen schien. In einer Stube zu ebener Erde, die völlig leergeräumt worden, waren an drei Wänden Tische aufgestellt, darauf standen Blumensträuße in Papiermanschetten, genau dem gleich, den ich aus dem Fenster geworfen hatte. Ich sah Harriet an und sie mich, und wir beide Herrn Leiwes, der merkwürdig ernst war. Ich wußte, daß er nur gekommen war, weil Harriet durchaus hatte kommen wollen, die ihre Neugierde mit einem Versprechen verbrämte, das sie Marien gegeben hätte. Meine Eltern hatten nur ihre Geschenke geschickt. Wir erhielten einen Ehrenplatz in der Nähe des Brautpaars, und mir fielen die unsicheren Blicke auf, die Herr Kohlstrey gelegentlich auf Harriet warf, und die gierigen, mit denen er die Lehrerstochter betrachtete, die blaß dasaß und hie und da zu lächeln versuchte. Neben ihr saß steif in Vatermördern Oberlehrer Kallenz und seine Frau, die noch jetzt so zart war wie ihre Tochter, und ebenso blaß, und das gelblichweiße Haar gerade in die Höhe frisiert trug, so daß ihr Kopf wie eine überlange Birne aussah. Rings um die Tafel saß ein gemischtes Volk von Gästen, zu dicke oder zu dünne Männer mit schlotternden oder klaffenden Fräcken, vorne weit offenen Kragen, gefetteten Haaren, Fuchs- und Eselsgesichter, wie mich deuchte, und zwischen ihnen eng geschnürte, fettbusige oder dürre Frauen. Von Anfang an war unter diesen Gespenstern eine flaue, ungute Stimmung, bis der Wein sie erregte und das Reden ringsum betäubend klang. Der Sekretär der Darlehnskasse, deren Vorstand Herr Kohlstrey war, ein Mann mit leibhaftigem Bocksgesicht, lang, blaß, blond, mit aufstehenden Haaren und vorgekrümmtem Bart, hielt ungebeten eine Rede auf jenen, die bei den Gästen ein Grinsen hervorrief. Nun stand alles auf und stieß an; ich sah, wie Harriet dem Bräutigam, der gerade auf sie zukam, auswich, und als er ihr von seinem Platz aus zutrank, es geflissentlich übersah. Warum war sie gekommen?

Auf einmal stand ein Mann unter uns, der mit aufgeklebtem schwarzem Schnurrbart und schwarzer Perücke ein lächerliches und befremdliches Widerbild Herrn Kohlstreys war. Er grinste nur und verbeugte sich und sprach kein Wort. Und hinter ihm lugte ein gräuliches dunkles Gesicht durch die Türöffnung. Eine erschrockene Stille trat ein, dann tönte eine schrille Glocke, – es war die Klingel zum Kontor, – und in lächerlichen Versen begann der, wie ich begriff, vor dem Zeichen Eingetretene uns zu sagen, daß er ein Hagestolz auf dem Scheidewege sei. Über eine Leiter stieg aus einer Heubodenluke ein Amor mit flachsgelben Locken und schlecht sitzenden Flügeln herab, der ihn lockte, während der zottige gehörnte Ehestandsteufel ihn warnte. Unter anderem wies er auf seine Hörner und machte den Witz, sich dabei an den wirklichen Kohlstrey zu wenden, der noch etwas blasser wurde, während unter den Gästen eine unangenehme Heiterkeit entstand. Amor siegte und führte mit dem falschen Kohlstrey und dem Teufel einen blödsinnigen Tanz auf; und kaum waren die Masken über die Stühle springend verschwunden, so schlug es an die Türen und krachte im Gange, als ob wirklich Poltergeister im Haus ihr Wesen trieben, aber es waren nur die Töpfe, die an der Kammertür der Braut zerschlagen wurden. Da viele Gäste aufstanden, um nachzusehen, was draußen im Gange geschah, gab Herr Leiwes Harriet und mir einen Wink, und wir brachen auf.

Herr Leiwes ließ den Schimmel sacht gehen, und wir sahen, wie im Vollmond alle Wiesen und Felder von Hasen wimmelten, die in dem ungewissen Licht dasaßen oder Männchen machten oder eine kleine Strecke hüpften und sich durch unser Vorüberfahren nur wenig einschüchtern ließen. In solcher Menge bewegten sie sich schattenhaft umher, wie ich es nie vorher noch nachher gesehen: wie kleine Kobolde saßen und hüpften sie um Herrn Kohlstreys Haus.

Ich hatte indessen mehr Wein getrunken, als ich gewohnt war, und schlief im Fahren ein; da ich durch ein rascheres Schüttern des Wagens erwachte, sah ich, daß der Schimmel lief, und daß Harriet an Leiwes Schulter lehnte, der den einen Arm um sie geschlungen hatte. Ich fragte, wo wir wären, und Harriet fuhr empor. Obwohl ich seit jener Zeit stillschweigend ihr Vertrauter war, ließen sie sich vor mir nicht gehen; auch jetzt empfanden sie, daß ihre zärtliche Haltung dem Knaben nicht behaglich war, und rückten voneinander fort. Ich aber mit meinem Geheimnis empfand eine ungeheure Wichtigkeit.

Am andern Tage bei der Trauung war ich mit meinen Eltern in der Kirche und sah die Braut mit rotgeweinten Augen an Herrn Kohlstreys Arm gehen, dem sie kaum bis zur Schulter reichte. Harriet war erregter als sie gedacht; zu meinem Erstaunen sah ich sie weinen, während sie bis dahin nur gespottet hatte. Vom Festmahl und Tanz blieben wir auf den Wunsch meiner Eltern fern. Als wir am Hause vorüberfuhren, sahen wir bereits die Musikanten sitzen, sahen Bettler mit alten Hunden, neugieriges Landvolk und einen Teil des Gesindes mit den immer gleich sauertöpfischen Mienen, der Ankunft des Paares harren.

Da sagte ich zu Harriet: »Ich wünsche dir Glück!« Sie streckte mir die Zunge heraus. Meine Mutter sah mich an; sie lebte im Glauben, daß solche Dinge geheim bleiben könnten. Mein Vater war in seiner Ecke des Wagens eingeschlafen. Wir erfuhren später, daß es bei der Hochzeit zu einem unangenehmen Auftritt zwischen Kohlstrey und einem Gast gekommen war, der irgendeine alte Geldgeschichte gegen ihn vorbrachte, daß die Braut schrecklich geweint und von ihrem Vater angefahren und von ihrer Mutter mit Mühe beruhigt worden war, und daß ein Angestellter Kohlstreys gegen diesen frech geworden, so daß er ihn an seinem Hochzeitstage entlassen und hinausgeworfen hatte.

Während sie solcherart im Mühlenhause Hochzeit feierten, waren meine Eltern mit Harriet zu einem Besuche gefahren und ich war mir selber überlassen geblieben. Als ich gegen Sonnenuntergang am Wasser umherstreifte, sah ich Leiwes mißgestimmt unter einem Haselbusch sitzen. Er hatte am Morgen die Einberufungsorder zu den Manövern erhalten, aber was ihn kränkte, – er sprach zu mir wie zu einem Erwachsenen, – war, daß er keine Aussichten vor sich sah; er erklärte mir, daß ein landwirtschaftlicher Beamter, der kein Vermögen hätte, nichts erreichen und nie ein armes Mädchen heiraten könnte. Und wie sein hübsches verdrossenes Gesicht niedergeschlagen in die Landschaft hinaussah, tröstete ich ihn mit der Versicherung, daß, sobald ich Besitzer des Gutes wäre, ich es mit ihm und Harriet teilen würde. Im Herzen hatte ich die Hoffnung, daß meine Eltern Harriet ausstatten und sie ihm zur Frau geben würden. Immerhin bot er mir das Du an und wir tranken heimlich Brüderschaft; ich sagte es Harriet, als sie nach Hause kam, und erhielt auch von ihr einen Kuß.

Leiwes war, bewundert in seiner Uniform, bereits abgereist, als Harriet mich mitnahm, um der Neuvermählten einen Besuch zu machen. Über eine enge Treppe und durch einen schmalen Gang kamen wir in eine Stube, in der Marie sehr blaß und abgespannt mit einer Arbeit beschäftigt war; am Fenster saß in einem alten Ledersessel mit ihrem Totengesicht und den gelben Händen ihre Schwiegermutter, die kaum sprach, aber auf alles acht hatte, was vorging. Da ich begriff, daß die beiden Frauen allein reden wollten, verschwand ich aus dem Zimmer. Vorwitzig öffnete ich Türen auf dem Gang: in einem Zimmer sah ich einen riesigen Haufen Korn liegen, dahinter raschelte es. Ich öffnete eine andere Tür und sah zwei große Betten mit weißen Vorhängen und hörte eine Uhr laut ticken; ich schloß die Türe wieder. Am Ende des Ganges führte eine Treppe in den Garten hinab zur Mühle, wo am Wasser der Huflattich wuchs. Eine Ratte lief durch den Garten und verschwand in einem Kellerloch. Große häßliche Schnecken saßen auf den breiten Blättern. Plötzlich hörte ich einen Hund jappen. Ich kam näher und sah den blatternarbigen Müllerjungen, der einen gelben Hund in den Fluß warf. Quiekend und winselnd kroch das Tier ans Land; aber jedesmal fing der Junge es am Zaun ab und warf es wieder hinein. »Was tust du da?« fragte ich. »Der Herr hat's befohlen«, erwiderte er lachend; und wieder flog das geängstigte kleine Geschöpf ins Wasser. Ich verstand die Sache nicht, und es war mir nach vielen zwecklosen Kämpfen so eingeschärft worden, mich um andrer Leute Dinge nicht zu kümmern, daß ich fortging, aber nicht ohne ihm zu sagen: »Man sollte dich ins Wasser werfen!« worauf er mir eine Fratze schnitt.

Als ich ins Haus zurückkam, erschien eben Herr Kohlstrey aus dem Kontor. Er reichte meiner Cousine seine haarige Hand, so daß sie nicht vermeiden konnte, sie flüchtig zu berühren; da sie eben aufstehen wollte, hielt er sie zurück, sprach in einem merkwürdigen Ton, der salbungsvoll oder ironisch war, von seiner »glücklichen Gattin« und prunkte damit, was er ihr noch kaufen und welche Reisen er noch in diesem Herbst mit ihr unternehmen würde.

Harriet war ungewöhnlich schweigsam, als sie mit mir nach Hause ging; sie sah vor sich hin und sprach kaum ein Wort.

Zu den Reisen kam es zunächst nicht, denn drei Wochen später lief Frau Kohlstrey in der Nacht, kaum bekleidet, aus seinem Hause, und so wie sie war, eine Viertelstunde weit durch die Felder, bis zu dem ihrer Eltern, die sie am folgenden Tag zu ihm zurückbrachten.

Die letzten Gründe dieses peinlichen Vorfalls wurden mir von denen, die sie kannten, nicht mitgeteilt. In unserem Hause wurde viel darüber gesprochen, aber nicht vor mir. Der Pfarrer kam, der Oberlehrer selbst, der sich den Schweiß von der Stirn wischte; mehrmals hörte ich auch Harriet laut reden, aber was sie sagte, schien nicht die Billigung meiner Eltern zu finden.

Dagegen hörte ich Frau Hinraths Erklärung: der jungen Frau sei es in Kohlstreys Haus zu graulich geworden: es »klopfe« dort jede Nacht, und ein übles kleines gelbes Geschöpf gehe darin um, das manchmal als ein gelber Hund erscheine; sie gäbe etwas darum zu wissen, was die Marie Kallenz in jener Nacht gesehen. Das Wort »gelber Hund« machte mich stutzig, obwohl ich mir keinen Vers darauf machen konnte. Doch regte mich das alles genug auf, daß ich schlimme Träume hatte, in denen ich die Mühle und das Wasser und den blatternarbigen Knecht sah; dann hörte ich einen Hund jappen, und ein gelbes kleines Wesen kam auf mein Bett zu, das auf einem Teller drei Brote trug; ich nahm die Brote, da er sie mir hinhielt, worauf der Kleine höhnisch auflachte, – dies alles so wesenhaft, daß ich es heute noch deutlich sehe und höre, – in mir aber war Todesangst, so daß ich Leiwes, den ich in der Ferne reiten sah, laut um Hilfe rief. In der Tat fühlte ich eine weiche Hand, die beruhigend über mein Gesicht fuhr, und hörte erwachend unten einen kleinen Hund jappen, was den ganzen Traum erklären mag; die Hand aber war Harriets: ich hatte so geschrien, daß sie einen Schlafrock übergeworfen hatte und hereingekommen war, und so sah ich sie noch einmal wie einst als kleiner Junge in ihrem langen blonden Haar, das sich gelöst hatte, und auch dies war ein Eindruck, den ich in meiner erwachenden Jugend nicht wieder vergaß. Mein Vater jedoch, der durch diesen Vorfall von dem Gerede erfuhr, wurde sehr ärgerlich; »Weibergeschwätz! Halluzinationen!« sagte er.

Frau Kohlstrey zeigte sich in diesen Tagen, in denen alles von ihr sprach, nicht am Fenster und nicht auf der Straße. Dagegen sah ich zu meiner Überraschung eines Abends Harriet und Herrn Kohlstrey an der Bachbrücke miteinander stehen. Ich war auf einer Streifung im Gebüsch; sie konnten mich nicht sehen und ich nicht alles hören. Sie schien für seine Frau etwas zu fordern, was er abschlug; und erregt sagte sie: sie werde sie noch aus seinen Klauen erlösen, sie wisse genug von ihm! Mit einer häßlichen Verbeugung erwiderte er: »Wenn das so ist, mein Fräulein, so weiß ich auch einiges von Ihnen: und unter anderem ist es nicht gut, wenn man meine Blumen aus dem Fenster wirft. Ich bitte ergebenst, sich in meine Ehesachen nicht zu mischen; es wird in Ihrem Interesse und in dem anderer Leute sein.«

Ich erinnere mich auch, daß Harriet an diesem Tage, als sie nach dem Abendbrot mit einer Arbeit an demselben Fenstertischchen saß, an dem vor Jahren bei Kohlstreys Eintritt die fallende Lampe sie bedroht hatte, plötzlich ausrief: »Es ist doch zum Verzweifeln in der Welt: das verdammte Geld ist alles; das Geld ist das Schicksal!«

Ich blickte von meinem Buche auf und mein Vater von seiner Zeitung. »Es ist so, mein Kind«, sagte er.

»Leider!« sagte meine Mutter, die den Silberschrank absperrte.

Leiwes war von seiner Übung zurückgekommen.

Es war an einem wundervoll klaren Herbsttag, als ich von meiner Lateinstunde, die ich im Pfarrhof nahm, nach Hause kam: ich schlenderte die Treppen empor und fand leere Zimmer, mein Vater war nicht da; meine Mutter hatte sich eingeschlossen; Harriet war nicht zu finden. Ich stand in der großen Stube und sah nach den gelben Baumwipfeln vor den Fenstern; da ging die Tür auf, und meine Mutter kam mit ihrem majestätischen Gang und dem verschlossenen Gesicht, das ich kannte, durch das Zimmer; auf meine Frage, was geschehen sei, erhielt ich nur ein schneidendes »Gar nichts von Bedeutung!« zur Antwort.

Auf der Treppe aber traf ich Herrn Leiwes, blaß, im Reitanzug, der die Zähne immer wieder in die Unterlippe schlug. »Nichts«, sagte auch er auf meine Fragen. »Aber nichts!« wiederholte er ärgerlich. Endlich erfuhr ich es: mein Vater hatte ihm gekündigt, »wegen der Harriet«, sagte er leise; dann trat er wieder ans Fenster auf dem steinernen Treppenabsatz und sah, die Hände in den Hosentaschen, schweigend hinaus.

Auf welchem Wege meine Eltern zu ihrer Kenntnis gelangt, war nicht schwer zu erraten; sie verhehlten es auch gar nicht.

»Ein Mensch, der nicht einmal das Einjährigenrecht erworben hat und der hinter meinem Rücken in meinem Hause Heimlichkeiten anfängt!« wiederholte mein Vater, als die Sache am Abend nochmals zur Sprache kam. Dabei ging er zornig in der Stube auf und ab, doppelt böse, weil er Leiwes ungern verlor. Harriet verteidigte ihren Freund, aber sie hatte genug für sich selbst zu reden, und als sie erklärte, sie werde auch nicht länger bleiben, sprach meine Mutter kein Wort. Ich wurde sogleich schweigen geheißen. Mein Vater war jähzornig und vertrug Widerstand und Ungehorsam nicht; meine Mutter schien milder und war vielleicht noch strenger.

Harriet blieb im Hause, bis sie anderes gefunden hätte; Leiwes' Dienstverhältnis bei meinem Vater währte bis Neujahr. So peinlich die Lage für alle war, hielten sich doch alle gut, bis koboldartig die schändlichsten Gerüchte über die beiden sich verbreiteten: im Heu, in den Scheunen sollten sie sich gefunden haben. Klebrig und ekelhaft wie Schnecken kroch es aus dem Mühlenhause herauf. Nun ging meine Mutter wie ein Gericht durchs Haus, und mein Vater war heftiger mit den Leuten als je. Herr Leiwes war nicht gut anzusehen. Er hatte auch mit meinem Vater einen Auftritt in der Kanzlei. »Sie geben mir also Ihr Ehrenwort?« hörte ich meinen Vater sagen, und Leiwes mit durchdringender Stimme antworten: »Jawohl, Herr Strantz!«

Harriet kam nicht mehr zur Marie hinab, aber die Lehrerstochter kam eines Abends, scheu, ganz in ihren Mantel gewickelt, zu ihr und bat sie mit aufgehobenen Händen um Verzeihung, »ihr Mann habe ihr das Geheimnis abgezwungen«, aber Harriet wies sie unerbittlich fort.

Bei einer Feilbietung im Ort standen Leiwes und Herr Kohlstrey in der Menge; was vorgegangen, vermag ich nicht genau zu sagen, denn ich weiß den Hergang nur durch George, unsern Kutscher, der nichts klar erzählen konnte; es scheint, daß Leiwes, als er den andern sah, eine drohende Bewegung machte, worauf dieser sich rasch entfernte, und daß darüber geredet wurde.

Ende Oktober, an einem kalten, bedeckten Tag, kehrte eine der Mägde, die ins Dorf gegangen war, mit der Erzählung zurück, daß Herr Kohlstrey in dieser Nacht nicht nach Hause gekommen, obwohl er seiner Frau befohlen hatte, mit dem Abendessen auf ihn zu warten, – sie hatte auch nichts anzurühren gewagt–; auch am Morgen sei er nicht heimgekehrt und niemand hätte ihn gesehen oder wüßte, wo er geblieben sei. Die Sache erregte Neugier und viele Vermutungen; der Tag bekam etwas Fahles und Ungewisses. Gegen Mittag kam der Tierarzt und erzählte, daß man Kohlstreys Leiche in einem Bach gefunden hätte. »Erschossen!« sagte der Tierarzt.

Harriet, die herausgekommen war, um zu hören, wurde totenbleich. Auch das Gesicht meines Vaters wurde sehr ernst. Herr Leiwes war am Abend vorher Hasen schießen gegangen. Er hatte wiederholt gesagt, er werde dem Mehlhändler heimzahlen.

Ein kleiner Hund hätte den Leuten durch sein Geheul die Stelle verraten, sagte der Tierarzt.

»War der Hund gelb?« rief ich unwillkürlich.

»Frage doch nicht so dumm!« fuhr mein Vater mich an und schickte mich aus der Stube, um mit dem Mann allein zu sprechen. Leiwes war auf dem Feld.

Die Neugier trieb mich hinab. Der Oberlehrer mit seiner zitternden Frau kam eben aus der Schule. Vor Kohlstreys Haus stand ein Gendarm, die Leute abzuhalten; ein anderer war in der Stube; in derselben Stube, in der er die Hochzeit gefeiert, hatten sie den Müller aufgebahrt. Der Mund in dem blassen Gesicht stand starr offen; er sah wächsern und gedunsen aus. In der Stube nebenan saß seine Frau, das Gesicht auf den Tisch gelegt: sie schien zu weinen; ihre Eltern redeten ihr zu. Auf einmal kam etwas die Treppe heruntergestampft: es schlug wie Klappern, die Türe ging auf und die alte, halb blöde Mutter Kohlstreys mit ihrem Totengesicht trat ein, auf ihren Stock gestützt, sah ihn mit ihren erloschenen Augen an und griff mit den Fingern in sein Gesicht: sie stieß einen heulenden Schreckenslaut aus und fiel um. Da lief ich aus dem Hause.

In unserem Hofe traf ich Leiwes. Sein Gesicht war finster verzogen und ohne alle Farbe. Er wurde eben zu meinem Vater gerufen; was sie sprachen, weiß ich nicht; aber ich weiß, daß er jede Schuld leugnete. Er wurde auch in gerichtliche Untersuchung gezogen, aber er kam frei: er wies nach, daß er nur eine Schrotflinte mitgehabt, und Kohlstrey war von einer Kugel getroffen worden.

Der Fall ist nie aufgeklärt worden. Nur Frau Hinrath zweifelte nicht, wer den Müller geholt hatte.

Harriet verleugnete Leiwes keinen Augenblick; aber er war in Untersuchung gewesen und wurde auch vom Verdacht nie ganz frei: in der Familie gab es weder Hoffnung noch Gnade für ihn. Er ging nach Amerika und hatte dort, wie es scheint, kein Glück. Harriet ist über dem Warten ein unvermähltes altes Fräulein geblieben.

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