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Die Nebenfigur

»Sagen Sie, kleiner Krousa, was ist mit Ihnen?«

Diese Frage, die der lange junge Mann, der ihm gegenüber saß, an ihn richtete, gab ihm zu denken, obwohl er »Nichts! was sollte denn mit mir sein?« antwortete. Es war ihm peinlich, daß man die Unruhe merkte, die ihn seit zwei Tagen sich wie entwurzelt fühlen ließ.

Vor zwei Tagen hatte er seinen gewöhnlichen Spaziergang durch die Stadt gemacht, war aus dem Kaffeehause, in dem er jetzt saß, durch den warmen Herbstabend und das strömende Leben der Straßen ins Theater gegangen und hatte dann mit Bekannten zu Nacht gespeist. An einem Tische hatte er Melanie mit ihrem Mann und einem andern Herrn, einem Offizier, gesehen, hatte erst von ferne gegrüßt und sich später an ihren Tisch gesetzt. Durch die Vorstellung erfuhr er, daß der Offizier der Hauptmann Krämer war, der berühmte Reisen durch Arabien und Turkestan gemacht hatte, und der sich sehr erfreut zeigte, den Sohn des großen Geographen kennen zu lernen. Und wenn Krousa sich im Leben durch den Ruhm seines Vaters bedrückt fühlte, so freute er sich doch, ihn vor den Verwandten rühmen zu hören. Aus Höflichkeit für ihn wiederholte der Hauptmann den Anfang einer Geschichte, die er eben erzählte, unaufdringlich, wie zufällig, und doch so, daß die Wüste und die Zelte, das nächtliche Geheul der Schakale, die fremdartigen Männer, die verborgene Hoheit wie die launigen Spitzbübereien des Orients vor den Hörenden wie Bilder vorüberglitten. Melanie, die gleichfalls aus dem Theater kam, war sehr angeregt und ihre Augen strahlten, ihr Mann war vergnügt, und die Begegnung wäre für alle eine angenehme gewesen, wenn ihn nicht zuletzt eine Beobachtung, eine winzige Zufälligkeit in völlige Verwirrung gebracht hätte. Als man aufstand, hatte der Hauptmann den orangefarbenen, mit weißer Seide gefütterten Theatermantel Melanies vom Haken genommen und ihn dann wieder für einen Augenblick hingelegt, weil sie sich erst vor dem Spiegel mit schönen Bewegungen ihrer weiß behandschuhten Arme den Schal um Kopf und Hals legte und dann, vom Spiegel zurücktretend, eine Unterjacke aus zartem weißen Gewebe anzog. Inzwischen hatte der Hauptmann den Säbel umgeschnallt, den eigenen Mantel angezogen und dessen Falten gerichtet, während Arthur, den Augenblick ersehend, den Mantel Melanies aufgenommen und ihr um die Schultern gelegt hatte; durch die weiten Ärmel greifend hatte sie seine Hand gestreift und einen Augenblick innig festgehalten.

Er hatte sogleich gewußt, daß die Liebkosung nicht ihm gegolten, daß sie nicht ahnte, daß er den Platz des Hauptmanns eingenommen, und mit schmerzlichem Zartgefühl war er noch rasch genug hinter den Offizier zurückgetreten, so daß sie ihren Irrtum gar nicht gewahr werden konnte. Er ging an Tischen und Menschen vorbei, folgte den andern auf die Straße hinaus unter dem Druck schwerer und bitterer Empfindungen und eines unklaren Wissens um ein Schicksal, das ein fremdes war, das ihn nichts und doch so viel anging.

In der schlaflosen Nacht, die für ihn folgte, empfand er es sonderbar, daß seine eigene Neigung zu ihr quälend aufflammte. In den nächsten Tagen auf dem Amt erledigte er seine Akten wie sonst und schien noch vertiefter in seine Arbeit. Aber zu Hause ließ ihn die Aufregung nicht am Schreibtisch bleiben; er ging in seinen Zimmern auf und ab und floh zuletzt ins Freie.

Die klingelnde Pferdebahn trug ihn an dem dreistöckigen alten Hause vorüber, das die Erinnerungen seiner Kindheit beherrschte, und diese Erinnerungen stiegen sogleich wie eine Traumwelt empor. Er sah nicht nur die Fenster mit den weißen Polstern und Spitzenvorhängen, er sah die Zimmer und Stuben dahinter, die er so gut kannte. Er ging als Kind über den gepflasterten Hof, wo er den Kutscher den Wagen putzen oder die Pferde aus dem Stall führen und anschirren sah. Nie war er die Treppe ohne Angst und Herzklopfen hinaufgegangen; er hörte die Vettern höhnisch: »Der Herr Baron kommt! ah, der Herr Baron!« rufen; er sah das große Kinderzimmer mit den reichen Spielsachen, die ihn ewig lockten; heute waren die Vettern gleichgültige junge Leute, und doch empfand er noch immer leise die Furcht vor ihrer derben Überlegenheit von damals; die scheinbar freundliche Stimme der Tante, die stets gegen ihn entschied, klang ihm im Ohr; die geringschätzige Gutmütigkeit des Onkels ärgerte ihn wieder, – aber Melanie war immer gut gegen ihn gewesen.

Sobald der Wagen anhielt, stieg er ab und ging die Straße zurück, bis er vor dem Tor stand; im zweiten Stockwerk hatten sie bereits Licht angezündet. Er schritt über die Breite des Fahrdamms zurück; da fuhr ein offener einspänniger Wagen vor, und er sah die Tante aussteigen, stattlich, mit ihrem roten, gesunden Gesicht unter den grauen Haaren. Mit dem geheimen Wissen, daß nun alles zusammenzubrechen drohte, was sie, immer den Vorteil berechnend, mit ihrem starken groben Willen Schicksale vor sich hinschiebend, aufgebaut hatte, mit diesem Wissen hätte er ihr jetzt die Treppe hinauffolgen und sich in den stillen beleuchteten Zimmern, von all dem satten Reichtum umgeben, an dem Unheil werden können, das über dieser bürgerlichen Herrlichkeit schwebte, wenn es ihn nicht selber so tief berührt hätte.

Er fühlte keine Lust zu einem Besuch und kehrte um. Die Dämmerung nahm zu, die Laternen waren angezündet worden, die Menschen gingen dichter und eiliger der inneren Stadt zu; die überfüllten Pferdebahnwagen fuhren klingelnd an ihm vorbei durch die Straße. Die Stätten seiner Jugend lagen in diesem Stadtteil zusammengedrängt und immer tiefer sank er in den Traum zurück.

Da war das kleine Kaffeehaus, in dem er gesessen und hinübergesehen, wenn er keinen Vorwand zu einem Besuche hatte. Wie oft hatte er, heranwachsend, da die Leiden schärfer wurden, sich geschworen, nicht wieder hinaufzugehen oder doch längere Zeit fortzubleiben, aber die süße Qual zog unwiderstehlich: er hatte es nie zu halten vermocht. Nur wenige Minuten entfernt, in einer der stillen Straßen am Militärgeographischen Institut, hatten seine Eltern gewohnt. Ganz deutlich sah er die runden farbigen Fensterscheiben über dem Tor, die bescheidene Steintreppe, den gelben kleinen Gang vor sich, sah die Mutter, zart und unscheinbar, in der Türe stehen und auf ihn warten, als er von den ersten Schulwegen nach Hause kam. »Die Person!«, so hatte die Tante von ihr gesprochen, und er hatte mit der geschärften Ahnung des verschüchterten Kindes erraten, daß sie von seiner Mutter sprach, und haßte sie darum noch mehr. Aber wenn er sich genau prüfte, war die Mutter auch für ihn nie eine gleichwertige Erscheinung gewesen. Um so besser las er heute in der Seele der Tante, die es ihrem Bruder, seinem Vater, nie verzieh, daß er diese Ehe geschlossen, daß seine frühere »Hausdame« den Titel trug, den der Vater in späten Jahren erhalten. Er verstand heute, daß dieser Titel für Melanies Eltern ein steter Grund des Verdrusses gegen ihn gewesen, wenn sie auch sicherlich nur um dieses Titels willen ihm den Verkehr im Hause überhaupt gestattet hatten. Er tauchte nicht gerne in diese Erinnerungen, weil er so viel Peinliches und Unzulängliches sah, das er in sich wiederfand; aber jetzt klangen die längst verhallten Stimmen in seinem Ohr.

Fast ohne es zu wollen, war er in das kleine Kaffeehaus eingetreten und hatte sich am Fenster in dem grünen Sofa vor dem weißen Marmortisch niedergelassen. Auch das »Guten Abend, Herr Baron!« des alten Kellners klang wie aus vergangenen Jahren herüber. Gegenüber waren jetzt viele Fenster erleuchtet; es mußten also wohl Gäste erwartet werden. So hatte er hier gesessen an dem Abend, an dem Melanie verlobt werden war; er hatte es nicht ertragen zu sehen, wie sie am Arm ihres verbindlich lächelnden Verlobten umherging und gleichgültig kühl die Glückwünsche entgegennahm. Auch dies tauchte jetzt aus der Vergangenheit auf. Auch das Trio; der schweigsame junge Zeichner; wer war denn nicht in das schöne Mädchen verliebt gewesen? Acht Tage vor ihrer Hochzeit hatte der letzte Musikabend stattgefunden; merkwürdig, hatte sie seit ihrer Verheiratung je wieder Geige gespielt? nie, sonst hätte er darum gewußt. War das Trio an jenem Abend das letztemal gewesen? Er sah das kleine Zimmer, die Hängelampe und die Kerzen; Melanie stand, die Geige unter dem schönen Kinn, vor dem Pult; Häßler saß am Klavier, Retzki mit dem Violoncell weiter rückwärts in der Nähe des Ofens; auf dem Sofa saß die Tante, und er selbst in einem Stuhl, so daß er Melanie sehen konnte; ihr Verlobter hatte telephoniert, er werde erst spät kommen können, man möge ohne ihn anfangen. War es die Sonate, die unendliche Erwartungen vorjubelnde und mit jäher Enttäuschung schluchzend abbrechende Musik, die alle erregte? Hatte nur er gesehen, wie Melanie sich nachher im dunkeln Zimmer nebenan weinend über das Bette warf? Mit Haßler mußte etwas vorgegangen sein; so bleich hatte er den Menschen noch nie gesehen.

War es vorher oder nachher gewesen, daß er ihn in einem Gespräch mit der Tante getroffen, die das freundlichste Gesicht machte? Vermutlich hatte sie mit ihrer falschen Herzlichkeit wieder etwas zurechtgeschoben, was nicht recht war; als Arthur eintrat, hatte Haßler ihr die Hand geküßt.

Es mußte aber vorher gewesen sein, denn am nächsten Tag ... er schloß die Augen, das war die höchste und die vernichtendste aller Erinnerungen, die ihn immer noch aus den Fugen warf ... am nächsten Tag war Melanie bei ihm gewesen. Er war allein, hatte die Klingel gehört und die Türe geöffnet und mit maßlosem Erstaunen in der tief verschleierten Dame Melanie erkannt, – hatte die furchtbar Aufgeregte mit Bestürzung zugleich und mit seliger Freude in sein Zimmer zum Sofa geführt, und sie hatte ihm erklärt, daß sie ihren Verlobten nicht heiraten könne, nicht könne! Und er hatte dem schönen und so geliebten Mädchen, das in Tränen vor ihm saß, nur Mitleid und unzureichende Trostworte und Ratschläge gewußt und nicht die entschlossene Tat, die ihm doch schon eine Stunde nachher als das einzig Nötige und Mögliche erschien; bis diese Qual in eine andere umschlug, in die bittere Frage, ob, wenn er sich damals erklärt hätte, sie nicht scheu und enttäuscht zurückgewichen wäre, denn sie suchte einen Helfer, nicht einen Liebhaber. Aber sie war doch jedenfalls zu ihm gekommen und nicht zu Hans Haßler.

Weiter unten, auf der anderen Seite der Straße – von hier konnte er nicht so weit sehen, aber auf dem Heimweg mußte er dort vorüber, – lag die Dreifaltigkeitskirche, in der acht Tage später die Trauung stattfand. Vor der Kirche hatten die vielen dunkelglänzenden Wagen gehalten, die Kutscher mit weißen Blumen im Knopfloch zügelten die schön geschirrten Pferde; die Leute standen in Reihen und folgten der langsamen Auffahrt und der kurzen raschen Fahrt zum Hause zurück. Auch vor dem Tor gegenüber standen sie dichtgedrängt, die aussteigenden Paare, die hellen Kleider zu sehen; dort oben, wo jetzt die Lichter brannten, standen damals alle Fenster offen, dort war die blumengeschmückte Festtafel bereitet ... das Festessen, das bei hellem Tageslicht begonnen, um Mitternacht noch nicht zu Ende war; und er hatte mitgetafelt und mitgefeiert bis zu Ende, tiefe Verachtung im Herzen für das Brautpaar, für die Festgeber und für sich selber.

Draußen war es völlig dunkel geworden. Oben waren die Vorhänge zugezogen; hier und da bewegte sich ein Schatten an ihnen vorüber; dahinter mochte das Wichtigste, oder was wahrscheinlicher war, das Alltäglichste vorgehen ... jetzt noch, nur jetzt noch; denn er hatte durch den Spalt eines andern Vorhanges blicken und das brütende Schicksal erkennen können, das unausweichlich seinen Gang nahm, ob die da oben tafelten oder bei Klavierspiel tanzten, was die schneller vorüberschießenden Schatten andeuteten. Darüber fiel ihm ein, daß Haßler Melanie mit der Geige im Arm gezeichnet hatte; das Blatt mußte vorhanden sein; wer mochte es haben? Haßler war vor zwei Jahren wieder aufgetaucht; wenn er ihn traf, wollte er ihn fragen.

Nein, das Leben war nicht schön. Damit stand er auf und ging durch die großen lärmenden Straßen und dann durch stillere und immer stillere nach Hause. Und mit dem nächsten Morgen brach wieder ein öder Tag an.

Er besuchte seine Cousine nicht oft. Zwar ihre Kinder sahen ihn gerne, aber als er das nächstemal hinkam und mit ihnen scherzte, verließen sie ihn und eilten freudig auf einen neu eintretenden Gast zu: Hauptmann Krämer stand in der Türe. »Mein Neffe, Baron Krousa«, sagte die Tante, und irgend etwas im Ton der Vorstellung machte ihn innerlich lachen, obwohl das Fortlaufen der Kinder eine neue Eifersucht in ihm erweckt hatte. Der Hauptmann streckte ihm über die Locken des kleinen Mädchens die Hand hin, und jetzt trat Melanie, schön und unbefangen ein. Und so sah er sie an diesem Nachmittag und an vielen, die folgten, als wohlgekleidete, angenehm sich bewegende Hausfrau unter ihren Gästen, hörte den wohlklingenden, wie porzellanenen Ton ihrer Stimme, den harmlosen Humor ihres Gesprächs. Er folgte ihr auf Bälle und Feste nach, wie einst, sah sie tanzen und tanzte selber oder saß an ihrem Tische und litt.

Einmal saß er allein in einem leeren kleinen Salon in einem der großen Ballhäuser, in dem ein Tanzfest stattfand, und blickte dem Rauch seiner Zigarre nach. Da hörte er Stimmen und sah die zwei Menschen, mit denen er sich in seinen Gedanken beschäftigte, eintreten, an ihm vorüber und durch den kleinen Raum zur anderen Türe wieder hinausgehen, so in ihr Gespräch vertieft, daß sie ihn nicht bemerkten. Was sie sprachen, hörte er nicht, weil die Musik vom Tanzsaal herüberscholl, oder weil die beiden so für einander redeten, daß sie nicht weiter gehört werden konnten, als sie es beabsichtigten. Aber er sah, wie gut sie als Paar zueinander paßten. Nach einer Weile stand er auf und kehrte in den Saal zurück. Dort sah er ihren Mann, steif und wohlgekleidet, mit starrem, hochmütigem, vom Bart umrandeten Gesicht; eben trat Melanie auf ihn zu und sagte ihm etwas, offenbar, daß sie nach Hause wollte, denn beide verließen gleich darauf den Saal, und er sah sie nicht mehr.

Einige Tage darauf erhielt er eine Einladung zu einem Vortrag, den der Hauptmann in der Geographischen Gesellschaft hielt. Der kleine Saal der Akademie war dicht gefüllt, und Arthur Krousa, der im Seitengang an der Wand stand, sah unter den zahlreichen Damen seine Cousine in einer der vordersten Reihen sitzen: er konnte ihr Gesicht nur von der Seite sehen, denn nicht ein einziges Mal wich ihr Blick von dem Vortragenden. Im Gedränge nachher vermochte er nicht sie zu sprechen, und als er ihr über die breite Treppe und durch die hallende, trüb erleuchtete Aula nachging, eilte sie so, daß er sie nicht erreichen konnte. Es regnete; dennoch sah er sie draußen auf dem alten Platz vor der Jesuitenkirche über das kotige Pflaster eilen, ohne daß sie auch nur den Schirm geöffnet hätte, sah sie in einen Wagen steigen und fortfahren.

In diesem Winter zeigte sich Melanie auch gegen ihn viel freundlicher als seit Jahren; sie gab ihm kleine Aufträge und ließ sich von ihm auf ihren Gängen begleiten. Eines Tages holte er sie einer Verabredung gemäß in den Geschäftsräumen ihres Mannes ab, und er sah dort zum erstenmal, wie dieser vor großen Kunden höflich dienerte und unter den scheinbar ergebenen unpersönlichen Redensarten und Verbeugungen seinen grenzenlosen Geldstolz barg. Aber was ihn betroffen machte, das war der Blick, mit dem Melanie ihrem Gatten folgte. In diesem Blick lag der gleiche Abscheu, wie einst in dem Ton, in dem sie in seinem Zimmer von ihrem Verlobten gesprochen hatte. Das hatte er nie zuvor wahrgenommen; sie schien sich, wie andere, in ihre Ehe gefügt zu haben, in ihren Kindern und in ihrem Reichtum das Glück zu finden.

Fiel niemandem etwas auf außer ihm? Waren alle blind, ihr Mann, ihre Mutter, die Menge? Merkte keiner, daß ein Ton in Melanies Stimme war, den er nie gehört hatte, daß oft ein Leuchten in ihren Augen war und oft eine verborgene Angst? Oder täuschte er sich? Denn nichts brach herein, kein Unheil geschah, kein schlimmes Gerücht kroch hinter dem üppigen glänzenden Leben seiner Verwandten her.

»Unglückseliger,« sagte er zu Hause zu sich selber, »bist du ihr Spion, was geht es dich an?«, und mußte über die pathetischen Worte lachen, die so gar nicht zu seiner korrekten, kleinen, ein wenig beleibten Figur in der weißen Weste und dem schwarzen Jackett paßten, wie er sich im Spiegel gegenüber sah. Im Geist sah er neben seinem Spiegelbilde den hochgewachsenen Offizier mit dem rötlichen Schnurrbart, der von fernen Sonnen gebräunten Haut, den unter den stark vorspringenden dunkeln Brauen tief eingesetzten entschlossenen Augen. Und er verzog bitter die Lippen.

Über alledem war der Winter vergangen; im Frühling verreiste Melanie mit ihrem Mann und ging nachher mit den Kindern aufs Land. Lange einsame Sommermonate kamen, mit heißen Tagen und dunstigen Abenden, öden Stunden in der staubigen Amtsstube, eine graue Häusermauer gegenüber und ein Stück weißlichblauen wolkenlosen Himmels über dem Hofe, unerquicklichen Abenden in den menschengefüllten Alleen und den musiktingelnden Gasthäusern des Praters, einer kurzen Urlaubsreise in die Berge und lästiger Rückkehr in den Staub der Stadt. Eines Tages las er in der Zeitung, daß der Hauptmann Krämer eine neue Reise ins Innere Hochasiens vorbereitete; Plan, Weg und Ausrüstung waren genau beschrieben, die Zahl der Kamele angegeben, der Turkmenenstamm genannt, den er in Dienst nehmen wollte. Er begann sich zu sagen, daß er auf einer Beobachtung, die ihm jetzt zweifelhaft erschien, ein Gebäude phantastischer Vorstellungen errichtet hatte, die ihn durch den Winter gehetzt hatten, ein Gebäude, das in sich zusammensank. Es war eine Erleichterung, aber das Leben wurde noch öder.

Melanie kam im Herbst sehr spät zurück, und als er sie besuchen wollte, ward er nicht vorgelassen, denn erst waren die Kinder und dann bei ihrer Pflege sie selbst schwerer als die Kinder erkrankt. Er ging von Zeit zu Zeit hin, um sich zu erkundigen; die eigentümlich gezwungene Stille einer Wohnung, in der ein Kranker liegt, ward beim Öffnen der Türe fühlbar; flüsternd sagte ihm die Pflegerin, daß es schlecht stehe; unten hielt der Wagen des Arztes, Professoren wurden gerufen; hier und da traf er ihren Mann, der steif Auskunft gab, und er sah die Tante die Augen zum Himmel richten, wenn sie mit jemandem sprach.

Eines Abends saß er in einem der großen Kaffeehäuser, das um diese Zeit fast leer war; da grüßte ihn jemand von einem andern Tisch, und er erkannte den Hauptmann. Er hatte ihn lange nicht gesehen; wie ihm erinnerlich schien, war die angegebene Zeit der Abreise längst vorüber, und nun sah er ihn hier. Sie gingen aufeinander zu und setzten sich zusammen und sprachen; auf seine Frage nach der Reise antwortete der Hauptmann, und wie es ihm deuchte, unangenehm berührt und ausweichend, er hätte sie verschieben müssen. Er sah schlecht aus, und ein gespannter müder Zug war in seinem Gesicht. Sie redeten von anderen Dingen, und erst als sie sich getrennt hatten, fiel es Krousa seltsam auf, daß keiner von ihnen den Namen Melanies ausgesprochen, daß der Hauptmann nicht nach der Kranken gefragt, er sie nicht erwähnt hatte, und doch war ihm bewußt, daß er wenigstens die ganze Zeit hindurch ihr Bild im Sinn und ihren Namen auf den Lippen gehabt.

Eine Woche später sah er sie selber: er war fragen gekommen, hatte Blumen abgegeben, und da hatte die Pflegerin ihn hineingeführt, weil die Kranke es gewünscht hatte; man konnte sie schon besuchen. Sie saß aufgerichtet in den Kissen, und mit tiefer Erregung sah er, wie blaß und eingefallen ihr Gesicht war. Große Blumensträuße standen in Vasen auf den Tischen; seine Blumen hielt sie in der Hand und lächelte. Mit matter Stimme stellte sie Fragen nach dem und jenem, und wie nebenbei erzählte er ihr, daß er den Hauptmann getroffen. Die beinahe farblosen Wangen der Frau wurden rot, sie fragte lebhaft, brach aber sogleich ab und erzählte von den Kindern, die aus dem Hause zur Großmutter geschickt worden waren, dabei wurde sie sehr erregt und begann zu weinen, so daß die eintretende Pflegerin, erneutes Fieber befürchtend, den Besucher zu gehen bat. Der aber ging selbst wie fiebernd durch die Straßen und verzieh sich nicht, was er getan.

Als Melanie gesund war, schickten die Ärzte sie nach dem Süden, und sie schwand ihm aus dem Gesicht. Er hörte wohl, daß sie in Abbazia, daß sie an der französischen Riviera war, denn er machte korrekt und regelmäßig seine Besuche, und wunderte sich, wie alles seinen Gang ging, während Melanie fehlte und beide Wohnungen so öde geworden schienen. Eines Abends, da er durch den Gang eines eleganten Restaurants schritt, wurde neben ihm die Türe zu einem Zimmer geöffnet, in das der Kellner auf dem Tablett Erdbeereis und Champagner trug, und unwillkürlich den Kopf hinwendend, sah er Melanies Gatten mit einer Dame am Tisch. Der Zufall wollte, daß er gerade an diesem Tage in seiner Wohnung gewesen und die Tante sich mit den Enkelkindern beschäftigen, ihnen Geschichten erzählen, sie zurechtweisen und sie zu Bette bringen gesehen hatte. Und er dachte der Bettchen der Kinder, der alten Frau, die in seinem Leben eine so unholde Erscheinung, mit den Kindern so verlassen zärtlich gewesen war, dachte der üppigen Dame mit dem Federhut und des selbst in dieser Lage steif und gönnerhaft lächelnden Gesichts des Mannes, das er eben gesehen, und der fernen Frau, die all diese Bilder für ihn und mit ihm verband, und die doch nicht zu ihm gehörte. Und der Zufall wollte, daß ihn, wenige Tage später auf der Straße ein Gesicht auffiel, das ihm bekannt erschien, bis er wußte, daß es Hans Haßler war; auch der ging mit einem Mädchen. »Was das Leben für eine Hanswurstkomödie ist!« dachte Krousa, und am Abend schrieb er, und staunte selbst über seinen Entschluß, an den Maler eine Karte: »Lieber Haßler, Sie haben vor Jahren meine Cousine, Fräulein Koch, beim Geigenspiel gezeichnet. Wenn das Blatt noch vorhanden sein sollte, würde es mich interessieren.« Er erhielt keine Antwort, und die Zeit ging hin, bis er eines Tages Melanie blühend im Wagen durch die Straße fahren sah. Er grüßte, der Wagen hielt, und er eilte an den Schlag; er war mit ein paar jungen Leuten, die wie mit Neid nach dem so Begünstigten sahen.

Sie wohnte jetzt in einer Villa, wo die Stadt ihre weißen Häuserstreifen durch die Talzungen in das grüne Hügelland streckte. Eine dunkelschattende Allee führte zum Gittertor, und er blieb wie erstarrt stehen, als er in dem großen Garten, wo zwischen Beeten und Rasenplätzen ein runder kleiner Teich mit einem Springbrunnen lag, neben seiner Cousine den Hauptmann stehen sah, den er, weil man es ihm als sicher erzählt hatte, im phantastischen Ferghana oder im Tarimbecken, Tausende von Meilen entfernt geglaubt. Er sah stattlicher, gebräunter aus als je, und redete lebhaft. Melanie hörte, mit der Spitze ihres Sonnenschirms auf dem weißen Steinrand des Goldfischteichs spielend, zu. Als sie ihn bemerkten, kamen beide ihm lächelnd entgegen und begrüßten ihn. Er aber wäre am liebsten umgekehrt und schweigend wieder fortgegangen.

Es war ein warmer, aber noch wie zaghafter Frühling. Sie saßen im Freien, der Tisch war freundlich gedeckt, ein angenehmes Dienstmädchen in weißer Schürze und Haube trug die Kaffeekannen aus seinem bunten Porzellan auf und füllte die Tassen. Der Hauptmann zündete eine Zigarette an. Melanie saß Arthur gegenüber auf der Gartenbank, die Arme zu beiden Seiten des Körpers hinabgestreckt; sie schien ihm verändert, wie in ein Gefühl verloren, das lau an ihr niederzurieseln schien, und als sie endlich ihre Stellung änderte, und, das Kinn in beide Hände gestützt, sich über den Tisch lehnte, sah sie ihn strahlend an. Ihn aber erschreckte das tief, denn es war ihm, als hätte er bis heute noch nie etwas gesehen. Und als er des Abends wegging, – der Hauptmann war schon früher gegangen und hatte sich so rasch verabschiedet, daß er sich unmöglich ihm hatte anschließen können, – da blieb er in den dämmernden Gartenwegen plötzlich betroffen stehen: oben im Hause spielte jemand Violine.

Alles war wieder, wie es vor einem Jahr gewesen, nur daß jetzt Steine in das Glashaus splitterten, das früher nur für ihn durchsichtig gewesen. Er sah es zum erstenmal in einer Gesellschaft, da führte der Hauptmann Melanie zu Tisch, und im Augenblick war es, als kehrten alle plaudernd dastehende Gruppen zu zweien und dreien, dort ein paar Herren in dunklem Frack und steifem Weiß, hier ein paar jetschillernde alte Damen, alle ihre Blicke den beiden zu, die allein nichts sahen und unbefangen, ganz mit sich beschäftigt, hindurchschritten. Eine Dame, die in Krousas Nähe mit einem großen bärtigen Herrn sprach, legte den Fächer an den Mund und zog die Augenbrauen hoch, so daß sie den Herrn, der jenen den Rücken zukehrte, sich umzusehen bewog. Unwillkürlich suchte Krousas Blick Melanies Gatten, ohne ihn zu finden. Bei der Tafel schien man sie zu vergessen, aber als man wieder aufstand, und der Hauptmann Melanie durch die Räume nach einem kleinen Salon führte, da gab man ihnen an den Türen auffällig Raum.

Er sah Melanie in ihrer Loge im Theater. Es war so deutlich, daß ihr unruhig seitwärts und abwärts bewegtes, eine Weile vor den Augen festgehaltenes und wieder ungeduldig gesenktes Glas jemanden suchte, und Krousa folgte der Richtung des Glases, bis er im Parkett den hochgewachsenen Offizier sah, der sich jetzt hinaufgrüßend verbeugte. Im Zwischenakt erschien er im Hintergrund der Loge; vorne neben ihr saß ihr Mann, und da war es, als ob wie in einer militärischen Übung alle Gläser gegenüber und unten sich nach der Loge richteten. Später sah er ihren Mann im Foyer: er hatte eine Zigarre zwischen den Lippen, die ihm plötzlich brutal erschienen; er ging, die Hände auf dem Rücken, und stieß den Rauch aus; es sah aus, als spuckte er. Jetzt wendete er das rote Gesicht zurück; in der Nähe des Büfetts, um das die Leute drängten, stand Melanie, einen Glasteller mit Eis in der Hand, von dem sie nicht aß. Ein Klirren, und ein ganz kleiner Auflauf entstand: Melanie hatte den Teller fallen lassen, der auf dem Steinboden in Stücke brach. Das rote Gesicht mit der Zigarre im Mund sah düster höhnisch auf sie, kam langsam näher und sprach etwas, ohne die Zigarre aus dem Munde zu nehmen. Melanie, mit ihrem Taschentüchlein über den Fleck auf der Seide ihres Kleides reibend, verschwand; der kleine Baron half ihr die Logenschließerin suchen. Es war ein Nichts; warum hatte er das Gefühl, daß es etwas Verhängnisvolles bedeutete?

Am andern Tag sah er Krämer über die Ringstraße reiten, auf einem wundervollen, ungewöhnlich aussehenden Pferd mit langem Schweif, das er aus dem Orient mitgebracht haben mußte und das er scheinbar lässig lenkte. Kinder warfen einen Ball, der vor die Füße des Pferdes rollte. Es machte im Sand der Allee einen eigentümlich weichen Sprung zur Seite; dann war's, als wollte es sich strecken, dann hob es sich einmal auf den Hinterbeinen und stand doch schon zusammengedrängt still und zitterte. Der Reiter, dessen Gesicht sich nicht verändert hatte, streichelte mit leichten Bewegungen seinen Hals, und mit zierlich widerstrebenden tanzenden Schritten ging es weiter. Viele Leute sahen ihm nach, auch Arthur Krousa.

Es war nur drei Wochen später, da kam er wieder an einem Nachmittag nach der Villa, und sah beim Eintreten die beiden am Goldfischteich stehen, genau wie das erstemal. Das Gesicht des Hauptmanns aber war verändert; er war nicht in Uniform, sondern trug einen grauen Anzug, und er mußte irgend etwas gesagt haben, wovon Melanie, die mit der Spitze ihres Sonnenschirms auf dem Steinrand des Beckens spielte, so benommen war, daß sie ihrem Vetter, der, den Strohhut in der Hand, innerlich zögernd, näher kam, nur die Hand entgegenstreckte und ihn schweigend begrüßte. So genau hatte das Bild sich ihm eingeprägt, daß ihm auffiel, daß Melanie heute ihren geöffneten Schirm auf dem Stein hatte kreisen lassen, während sie damals die Spitze des geschlossenen nachdenklich hin und her geschoben hatte. Die Sonne war heißer, das Grün war dichter geworden und Büsche und Bäume standen blütenbedeckt. Alles schien wie damals; der Tisch war im Freien gedeckt; das Mädchen mit der weißen Haube und Schürze trug den Kaffee in den Garten. Kinderstimmen ertönten, und Arthur sah Melanies Mutter mit den beiden kleinen Mädchen aus dem Hause kommen. Er sah sie auf dem Gartenweg stehen bleiben und wieder umkehren. »Mama!« rief Melanie. Die alte Frau kam; als Krousa ihr die Hand küßte, fühlte er, daß sie zitterte. Bei dem feinen Klingen der Porzellantassen und des Silbers plauderten nur die Kinder, oder er und die Großmutter mit ihnen; die beiden andern schwiegen zumeist; aber Melanie saß diesmal nicht in glückbefangener Stille da, sondern blickte mit halbgeöffneten Lippen, mit einem dunklen starren Ausdruck vor sich hin. Krämers Blick streifte sie manchmal, während er rauchend dasaß. Zwischen ihm und der alten Frau wurde kein Wort gewechselt.

Das Mädchen räumte den Tisch wieder ab, und die Kinder liefen an den Goldfischteich. Jetzt stand Melanie auf mit einer Gebärde, als wollte sie etwas von sich abschütteln; der Hauptmann erhob sich gleichfalls, und beide gingen, als wäre das selbstverständlich, durch den Garten. Es entging Arthur nicht, mit welchem Ausdruck die starkgebaute weißhaarige Frau ihnen nachblickte: Angst und Zorn waren in ihren Augen. Die beiden kamen indessen sogleich zurück, und der Hauptmann empfahl sich. Er ging rasch, ohne sich umzusehen, aber alle am Tisch sahen ihm schweigend nach, bis er die Gittertüre leise ins Schloß gelegt und das Dunkel der Allee ihn aufgenommen hatte. Wie jemand, der sich mit Mühe zurückhält, sah die Mutter auf die Tochter. Arthur wollte gleichfalls gehen. »Bitte, bleibe doch noch!« sagte Melanie rasch. »Wir haben ja noch kaum miteinander gesprochen.« Aber sie sprachen auch jetzt nicht; die alte Frau stand auf und ging ins Haus; die Kinder waren nicht mehr zu sehen; Arthur blieb schweigend sitzen, und als er endlich, nach langem Suchen, etwas völlig Gleichgültiges gefunden hatte und »Wird es nicht kühl?« sagte, fuhr Melanie zusammen.

»Was sagst du? Ja, es wird kühl«, erwiderte sie. Darauf saßen sie noch eine Weile, dann stand Melanie auf und ging gleichfalls ins Haus zurück, und Arthur, der sich nicht zu gehen, noch zu bleiben entschließen konnte, folgte ihr. An einem Fenster stand die alte Frau und sah in die vielgeteilten, im Licht schwimmenden, grauen Wolken hinaus, die wie ein weiter Vorhang über die Berge gespannt waren. Er wußte: sie wurde nicht durch das natürliche Schauspiel angezogen; was sie sorgend an einer Stelle festhielt, war, was sie in sich sah. Er hatte es schon vor langer Zeit gesehen, als er in jenem Herbstabend in der Straße, ihrem Hause gegenüber beobachtend und erinnernd gesessen hatte, aber was ihn damals beinahe schadenfroh erfreut hatte, das erschreckte ihn jetzt.

Endlich ging auch er. Ein starker Wind hatte sich erhoben und ein Rauschen war in den Baumkronen der Allee. Er sah einen Wagen kommen: ein Kopf im hohen Seidenhut beugte sich aus dem Fenster und sah zurück; als er dicht an ihm vorüberkam, erkannte er Melanies Gatten. Der Wagen hielt am Gartentor; jener stieg aus, blieb stehen und sah sich wieder um, und ging dann durch den Garten ins Haus. Unschlüssig war auch Krousa stehengeblieben, und ging erst weiter, als der andere im Hause verschwunden war. Der Staub wirbelte durch die Allee, und er mußte seinen Strohhut festhalten. Halb geblendet, lief er fast gegen einen Mann, der, das Haupt unbedeckt, an einen Baum gelehnt, im Winde stand. Bestürzt erkannte er Krämer. Aber der Hauptmann achtete nicht auf ihn, sondern blickte nach dem Hause hinüber, in dem sich eben ein paar Fenster erleuchteten, während im Garten noch eine dämmernde Tageshelle war. Der Wagen vor dem Hause fuhr wieder fort. In einiger Entfernung schlug eine Turmuhr. Krämer zog seine Uhr aus der Tasche und verglich sie; dann schritt er gelassen nach dem Gartentor. Ohne sich zu bedenken, schritt Krousa ihm nach. Was folgte, sah er ganz deutlich. Er sah, daß Melanies Mann vor der Villa stand und mit dem Pförtner sprach, hörte ihn laut rufen, worauf der Gärtner und andere, weibliche Dienstpersonen, herauskamen; alle mitführend, machte er ein paar Schritte aufs Gartentor zu, wies mit erhobenem Arm auf den draußen stehenden Mann, sagte etwas zu der verlegen zuhörenden Dienerschaft und schritt wieder ins Haus zurück.

Irgend etwas würgte Krousa die Kehle zusammen. Er stand jetzt dicht vor Krämer, und sah, daß dieser lächelte, obwohl er sehr bleich geworden war.

»Was ist geschehen?« brachte Krousa endlich hervor.

Der andere schien schneller zu atmen. Er lächelte jetzt nicht mehr. »Wenn Sie wüßten, junger Mann,« sagte er, »was hier ertragen worden ist! ... Nun aber nicht mehr lange!« fügte er, wie zu sich selbst sprechend, hinzu.

Aus dem Hause oben tönte lautes, zorniges Sprechen; dann wurde ein Fenster geschlossen.

Da faßte der kleine Baron einen Entschluß. »Ich gehe hinein!« sagte er. Der Hauptmann nickte. »Er ist früher zurückgekommen«, sagte er. Als Krousa sich im Garten umwendete, sah er ihn abermals nach der Uhr sehen, und dann, die Arme verschränkt, warten.

Niemand begegnete ihm. In dem im Erdgeschoß gelegenen Speisesaal deckte ein Dienstmädchen den Abendtisch. Die ganze Wohnung schien in vollster Ruhe zu liegen. »Die Herrschaften sind oben«, sagte das Mädchen, als sie ihn eintreten sah.

Er stieg die teppichbelegte Treppe empor und blieb stehen; durch eine Reihe dunkler Zimmer sah er in der Kinderstube Licht, sah in der Ferne einen weißen Schrank, ein Stück eines Gitterbettes, und Schatten, die sich darüber bewegten. Dann erschien Melanie einen Augenblick im Licht der Türe und verschwand im Dunkel eines Ganges. Gleichzeitig hörte er die Kinder laut »Mama!« rufen. Und jetzt riß ihn durch offene Türen der Lärm. Erst die laute befehlende Männerstimme, dann heftige Worte Melanies, dann ein beschwörendes Schreien der alten Dame, und dazwischen immer wieder, entfernter, das verzweifelte »Mama!« der Kinder.

Einen Augenblick blieb er in einem dunkeln Salon stehen. In dem Zimmer vor ihm standen nur drei Menschen, ihr Mann, die Hände in den Taschen, an einen Schrank gelehnt, mit gerötetem Gesicht; Melanie ihm gegenüber, die Hände auf den Tisch gestützt; die Tante, in der Mitte, sah aufgeregt von einem zum andern. Sie sprachen jetzt nicht, und er sah, wie Melanie eine Perlenkette an ihrem Halse öffnete und auf den Tisch warf, Ringe von der Hand streifte, eine Goldbrosche von der Brust löste und das gleiche tat; einen mit Diamanten besetzten Kamm zog sie aus ihrem Haar, unbekümmert, daß dieses sich halb löste; Arthur glaubte zitternd, sie würde ihr Kleid herunterreißen. »Da!« rief sie, »da! da!«

Ihr Mann stieß ein herbes Lachen aus. Melanie aber nahm einen Mantel von einem Stuhle auf.

»Geh nicht von uns fort!« schrie die alte Frau.

Aber Melanie erwiderte kein Wort und legte den Mantel um.

Ihr Mann sagte etwas Häßliches und machte eine Bewegung. Da trat Krousa ins Licht.

»Macht keinen Skandal!« sagte er, »das ist besser. Wohin willst du, Melanie? Wenn du so spät fortgehst, so ist es besser, wenn jemand von der Familie dich begleitet!«

»Ich danke, Arthur,« sagte sie sehr freundlich, »aber ich gehe allein.« Und während die andern, noch verblüfft durch sein plötzliches Eintreten, ihn und einander ansahen, war sie fort. Nie vergaß er, wie vollkommen weiß ihr Gesicht gewesen war.

Unbehaglich stand er allein unter den zornigen Verwandten. Ihr Mann stieß einen Fluch aus, schritt nach der andern Seite hinaus und schlug die Türe hinter sich zu. Die alte Frau stand ganz still. Krousa eilte Melanie nach. Als er unten im Hause war, hörte er sie die Gartentüre ins Schloß werfen. Er erreichte sie nicht, aber er wußte, daß sie geborgen war.

Schmerzlich erregt ging er nach Hause: ihr Schicksal hatte sich erfüllt, und er war nur eine Nebenfigur.

*


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