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Der Besuch

Es war in einer Herrengesellschaft bei einem Wirt, dessen Tisch und Weine berühmt waren. Die Gäste saßen und standen ungewöhnlich lange in kleinen Gruppen bei den üblichen flüchtigen stimmungslosen Gesprächen, die vor Tische einsetzten und die jedesmal, wenn im Vorraum die Klingel tönte, unterbrochen wurden. Endlich öffnete der Diener die Türen zum Speisesaal. Der Gast, auf den man so lange gewartet, erschien erst beim letzten Gang; halb lachend und halb mit unbeschwichtigtem Ärger erzählte er, wie er infolge einer peinlichen Verwechslung auf dem Wege zum Hause verhaftet worden war und erst nach stundenlangem Verhandeln den Irrtum hatte aufklären können. Dadurch kam das Gespräch, – nachdem wir die Einzelheiten der Sache von dem Erzürnten noch lange genug angehört, – auf peinliche Zufälle und Lagen; jeder war schon in solchen gewesen; jeder gab seine Geschichte; manche belustigend, andere quälend; am merkwürdigsten erschien uns eine davon, die ein alter Herr, der einen wohlbekannten Namen trug, erzählte.

»Ich war,« sagte er, »seit ungefähr drei Jahren verheiratet und hatte mit meiner Frau eine Sommerwohnung in einem einsamen, wenig besuchten Tal gemietet; und wir waren überrascht, als wir dort eines Tages eine Einladung zu Personen erhielten, die wir beide früher gekannt hatten und die, was wir nicht gewußt, nicht allzu weit von uns entfernt, ein Landhaus besaßen. Was ihnen unsern Aufenthalt verraten hatte, ahnten wir nicht.

Ich sehe noch meine Frau in ihrem hellen Sommerkleid an den unter Obstbäumen gedeckten Frühstückstisch treten und mir den Brief überreichen. Sie war sichtlich erfreut. Ich aber machte Einwendungen. Der Herr des Hauses war mir nicht angenehm.

»Ja, aber die Frau ist reizend«, sagte meine Gattin.

Meine Erinnerungen an diese Leute waren keine ungemischten, und wenn ich auch nicht alles vorbringen mochte, so sagte ich doch einiges, und meine Frau wurde verstimmt. Wir waren glücklich in unserer Einsamkeit, aber ich arbeitete durch viele Stunden des Tags, und wir hatten keine Kinder; ihr mochten die Tage oft lang werden. Auch mußten wir in jener Zeit, weil mein Einkommen es nicht erlaubte, die elegante Geselligkeit fast ganz entbehren, die sie als Mädchen gewohnt gewesen; und sie benützte Gelegenheiten, die sich boten, doppelt gerne.

Ich redete aus guten Gründen noch manches dagegen und gab zuletzt dennoch nach, vielleicht weil mich selbst eine geheime Neugier zog.

An dem Abend, an dem wir erwartet wurden, stand ich, ehe wir zum Bahnhof gingen, nachdenklich am Fenster des sommerlichen Zimmers; als meine Frau eintrat und mich nach einem Zögern fragte, wie sie mir gefalle.

»Du bist reizend, Esther«, erwiderte ich und küßte sie. Sie lächelte.

»Wollen wir absagen und zu Hause bleiben?« fragte ich.

»Nein«, antwortete sie, und wir gingen.

Sie war so zart in ihrem Empfinden, daß meine leise Verstimmung auf ihr lastete, obwohl ich nichts sprach, aber sie fühlte, daß sie gut aussah und daß ich sie bewunderte, und sie freute sich auf den Abend. Im Zug, als Hügel und Täler an uns vorüberflogen, war sie übermütig heiter, so daß auch ich nicht widerstehen konnte und von ihrer fröhlichen Laune mit ergriffen wurde.

Mit Terrassen schloßartig getürmt, erhob sich die weiße Villa auf einem Hügel. Am Gartentor, an dem ein großer gefleckter Hund sich schweigend aufrichtete, erwartete uns die Hausfrau, dunkelhaarig, noch immer sehr schön, ganz und gar Dame. Meine Frau, die diese Schönheit von je bewundert hatte, begrüßte sie herzlich und wurde ebenso empfangen. »Sie habe uns so lange nicht gesehen,« sagte sie, »und gar nicht gewußt, was aus uns geworden wäre, bis sie gehört, daß wir beide, die sie getrennt gekannt, uns miteinander verheiratet hätten. Durch einen Zufall habe sie erfahren, daß wir in ihrer Nähe wohnten, und da hätte sie nicht versäumen wollen, uns zu sehen ...«

Ich dankte, wie es selbstverständlich war, für die liebenswürdige Erinnerung.

Auf der Terrasse kam uns der Hausherr entgegen. Er war nicht groß, sein blonder Bart fing an zu ergrauen, um die Augen, die er häufig zusammenkniff, waren viele Fältchen. Während die Hausfrau meine Gattin mit sich fortführte, sprachen wir miteinander in jener gezwungenen schleppenden Weise, in der Leute sprechen, die sich nichts zu sagen haben und die höflich sein müssen.

Die Dämmerung sank; wir gingen auf den schattigen Gartenwegen; ich fühlte die geheime Spannung, die man in fremden, zum erstenmal betretenen Häusern und Gärten fühlt, das Eindringen in einen fremden Dunstkreis; und es hatte hier etwas Peinliches für mich. Der nicht mehr junge Mann an meiner Seite führte mich durch sein Besitztum, das er erst vor kurzem erworben, und sprach davon in einem Tone der Überlegenheit des Reichtums, der mir gleichfalls unangenehm war.

Die Damen kamen zurück; ich sah sie nicht ohne eine gewisse Unruhe und der Hausherr mit einem eigentümlichen Lächeln kommen, das sogleich einem müden Ausdruck wich. Zwei Kinder, Mädchen, erschienen, von Vater und Mutter zärtlich begrüßt, wurden vorgestellt und verschwanden wieder: sie erinnerten sich meiner nicht.

Ins Haus zurückgekehrt, sahen wir von einem Fenster hoch oben den Fluß breit und spiegelnd im gelbsilbernen Abendlicht liegen; über eine ferne Brücke schienen winzige Menschen und Wagen zu kriechen, die alle Eile hatten, weil lichtumrandete schwarze Wolken über den Hügeln standen. Und dann saßen wir wieder unten in dem getäfelten Speisesaal unter den Lampen, jeder an einer Seite des großen viereckigen Tisches, ich zur Linken der Hausfrau, ihr Gatte mir gegenüber zur Linken Esthers, wie es sein mußte.

Die Frauen führten und erhielten das Gespräch; besonders meine Frau war in bester Laune; unvermeidlich kam die Rede darauf, wie wir uns kennengelernt und verlobt hatten; Esther erzählte, was man von solchen Erlebnissen erzählen kann. Dabei trank sie mir zu; und der Hausherr lächelte: »Eine Frau, die mit ihrem eigenen Mann kokettiert!« Die Dame des Hauses aber wendete sich an mich und fragte, womit ich mich beschäftigte und was ich arbeitete, mit großer freundlicher Teilnahme; dabei schenkte sie mir wiederholt ein: »sie erinnere sich noch von früher, daß ich immer erst dann in gute Laune gekommen und Interessantes gesprochen, wenn ich etwas mehr Wein genommen hätte.« Von meiner Arbeit und den Berufen der Männer kam das nicht zu lenkende Gespräch auf glückliche und unglückliche Ehen, und sie redete in zierlichen Sentenzen darüber. Auf dem Gesicht ihres Mannes war wieder der müde Ausdruck, wie vorher; er sah alt aus, während seine Frau, die mir beim ersten Begegnen im Freien älter erschienen war, jetzt mit geröteten Wangen und lebhaften Blicken sehr jugendlich aussah.

Auf mich aber senkte sich eine betäubend schwere Stimmung. Das Zimmer war mir fremd, aber die Möbel erkannte ich wieder, die mit rosenfarbener Seide überzogenen Stühle und Ruhebetten, die Bilder an den Wänden, den Schrank mit dem im dunkeln Holz eingelegten Zug von Amoretten. Der Wein regte uns schließlich alle an; das Gespräch wurde buntbelebt und ging über die Klippen der Vergangenheit weg, bis plötzlich über uns Fenster zuflogen und heftiger Donner uns aufstörte.

Ich sah auf die Uhr; es war spät und gerade Zeit für uns zum Aufbruch; aber der Regen prasselte an die Fenster, durch die Spalten der geschlossenen Läden zuckte das bläuliche Licht, und der Donner rollte unaufhörlich.

Wir waren in leichten Sommerkleidern, unvorbereitet, meine Frau in ihren besten Sachen, und wir beschlossen noch eine Weile zu warten. Aber es begann spät zu werden und die Zeit drängte, ohne daß das Unwetter geringer war. Uns so fortzulassen, schien unsern Wirten undenkbar: »man hätte ohnedies gedacht, daß wir übernachten würden.«

Ich lehnte fast zu heftig ab, ohne der bittenden Blicke zu achten, die meine Frau mir zuwarf. Man brachte uns Mäntel, Schirme, Überschuhe, und wir hüllten uns ein, wie es ging. Aber als das Hausmädchen unten die Türe für uns öffnen wollte, schlug der Wind sie sogleich krachend wieder zu; die Laterne, die sie in der Hand hielt, um uns durch den Garten zu leuchten, war erloschen; und als ich nicht ohne Mühe die Türe wieder aufbrachte, sahen wir im Schein der Blitze, wie wahre Gießbäche die abfallenden Gartenwege Hinabschossen. Der Lehmboden der Straße im Tal mußte bereits ungangbar sein; einen Schirm zu öffnen oder zu halten wäre unmöglich gewesen. Und während wir halb lachend, halb verstimmt uns alle in der Diele wieder sammelten, sah ich an der Uhr, daß es bereits zu spät geworden war, daß wir den Zug nicht mehr erreichen konnten.

Meine Frau, die gar nicht begreifen mochte, wie ich die Einladung zum Übernachten ablehnen und ihr den Weg durch Finsternis und Regen und Sturm zumuten konnte, schien nur erfreut. Wir erhielten zwei aneinander stoßende Gastzimmer, jedes mit einem Bette, die im obern Stock des Hauses lagen.

Esther hatte ihr Täschchen unten vergessen und bat mich es ihr zu holen. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks sah ich unsere Wirte im Gang verschwinden, und hörte sie sprechen: die Worte konnte ich nicht verstehen, aber der Ton, in dem sie miteinander redeten, war kein freundlicher.

Meine Frau war vom Wein und vom Abenteuerlichen des Ausflugs angeregt zugleich und ermüdet. Sie schmollte ein wenig, daß ich ihr das Vergnügen durch meine steife Art verdarb; wenn ich schon nachgegeben hatte und wider Willen gekommen war, sollte ich mich freuen, daß ich ihr eine Freude bereitete. Beim Zubettegehen sprach sie über die Leute vom Haus; sie fand den Mann ein wenig schwerfällig, aber nicht so unerträglich, wie sie gedacht, und schon im Bette liegend, fragte sie plötzlich: »Du, sag' einmal, bist du nie in diese Frau verliebt gewesen?«

»Ein bißchen schon«, antwortete ich.

»Ich dachte mir's. Aber ich bin nicht eifersüchtig auf die Vergangenheit, und ich freue mich, daß du einen so guten Geschmack hattest.«

Sie küßte mich mit schon halb geschlossenen Augen, neckte mich, daß ich zerstreut und in meinen Gedanken anderswo sei, dehnte sich wohlig in ihrem Bett und gähnte, während draußen der Sturm um das Haus wütete.

Ich hatte hin und her gehend auf ihre Plaudereien geantwortet. Nach einer Weile versuchte ich, ein Fenster zu öffnen, aber der Vorhang flog ins Zimmer und der Regen brauste herein, daß ich es sogleich wieder schließen mußte. Esther, die allmählich verstummt war, beklagte sich, daß ich sie im Einschlafen gestört hätte, und da ich in meinem Zimmer auf und ab ging, bat sie mich die Türe zu schließen.

Ich konnte an Schlaf nicht denken. Jener Frau hatte meine heißeste Leidenschaft gegolten. Die Jahre meiner Jugend stiegen auf und mischten sich mit den Bildern und Eindrücken der Gegenwart. Draußen vor dem Fenster sah ich im Licht vereinzelter Blitze das weite Tal, und tief unten den Fluß, die Brücke und den Kreuzweg am jenseitigen Ufer unheimlich beleuchtet liegen. Auch ich fühlte mich künstlich an einen Kreuzweg gestellt, der in Wirklichkeit nicht gewesen war und nicht sein durfte. Ich setzte das Leben dieser Frau von dem Augenblick, da wir uns getrennt und zum letztenmal gesehen hatten, bis zum heutigen Tage fort und fand es unendlich beklagenswert. Der Ton, den ich im Gange hörte, klang in meinen Ohren.

Ich weiß nicht, wie lange ich auf und ab gegangen sein mochte, während der Regen mit dem schwellenden und ablassenden Winde bald nachließ und bald heftiger ans Fenster schlug. Es mußte nahezu eine Stunde gewesen sein. Auf einmal während einer Stille war mir's, als ob ich auf dem Gange Schritte gehört hätte. Ich lauschte unwillkürlich und hörte nichts. Aber als ich mich wieder bewegte, waren auch draußen die Schritte wieder hörbar. Ich stand an der Türe: sie entfernten sich deutlich, kamen aber bald wieder näher.

Ich öffnete. Die Frau, an die ich so lebhaft dachte, stand auf dem Gange, in einem langen dunklen Gewand, ein Licht in zitternden Händen.

Ich wunderte mich gar nicht.

»Kann ich zu dir hereinkommen?« fragte sie.

Ich öffnete die Türe vollends und wies sie zu einem Stuhl. In dieser sonderbaren Nachtstimmung kam mir alles ganz natürlich vor. Ein schwerer dunkelgrüner Vorhang, der vor der Türe hing, war zur Seite gezogen und aufgebunden. Sie öffnete die Schnur und zog ihn zu, so daß kein Laut hinausdringen konnte. Dann setzte sie sich.

»Ich muß mit dir sprechen,« sagte sie, »ich muß mit einem Menschen sprechen, der mir gut ist und dem ich alles sagen kann ... ich habe niemanden; und ich halte dieses Leben nicht mehr aus.«

»Sprich nur,« sagte ich, »ich bin dir gut ... aber ich werde dir nicht helfen können.«

»Nein,« sagte sie mit einer nervösen Bewegung, »aber schon reden können ist gut ...«, und leise und aufgeregt kamen ihre Klagen über den dürren trockenen Dornenweg ihres Lebens, ernste Sorgen und ärgerliche Kleinigkeiten, peinliche Bitternisse jeder Art, und hinter allem die im Überfluß der Güter verdurstende Frauenseele, die ein nahes und freudloses Alter fürchtete.

»Ich verstehe dich gut; aber ich kann dir nicht helfen, arme Aline,« sagte ich, »du hast es so gewollt ...«

»Ja ich weiß,« sagte sie, »ich bin ebenso schuld wie er ... und wie du ...«

»Du hast nicht mit mir fortgehen wollen ...«

»Und du ...« Mit Entsetzen sah ich die vor Jahren abgebrochenen nie endenden Auseinandersetzungen, die uns elend gemacht und zuletzt getrennt hatten, neu beginnen, und unwillkürlich machte ich eine beschwörende Bewegung ...

»Nein, nein,« sagte sie, »ich verlange gar nichts von dir. Nur Güte, nur Freundschaft, nur Menschlichkeit. Sprich nichts Schlimmes, nichts Hartes, ich bitte dich. Nur mit dir war ich auf Höhen, nicht in dieser elenden, armseligen, gemeinen Quälerei ...«

»Ich sehe keinen Ausweg für dich, arme Aline,« sprach ich zögernd, selbst hilflos, »du hast deine Kinder, du muß stark sein.«

Aber diese Worte trafen eine neue Wunde: über die Erziehung waren die Gatten nie einig; der einzige Sohn ... ich kannte ihn kaum ... befand sich in einer Kadettenschule, und die Mutter, der er stets fern war und immer fremder wurde, glaubte ihn zu zart für den Beruf.

»Kannst du nichts durchsetzen?« fragte ich. Es waren die gleichen Sorgen, die ich einst alle mitgemacht und mitgelitten, nur emporgewachsen und groß geworden, wie die Kinder. Sie begann hoffnungslos zu schluchzen, und immer lauter und heftiger zu weinen, daß mich Furcht ergriff, meine Frau im Nebenzimmer müßte darüber erwachen. Sie erriet meine Gedanken und folgte meinen Blicken. Vor der Tür meiner Frau hing der gleich schwere Vorhang wie vor der Gangtür. Nun zog ich diesen zu. »Sage, daß du mir gut bist«, bat sie, als ich sie zu beruhigen suchte.

»Ich bin dir gut, so gut, als ich dir sein kann. Aber ich kann dir ja nicht helfen,« sagte ich wieder, »ich hätte nie herkommen sollen. Und es ist wahnsinnig von dir, daß du jetzt herauf gekommen bist.« Ich war wirklich ärgerlich, da ich die möglichen Folgen bedachte, und verzweifelt, denn ich konnte sie doch nicht gehen heißen, und ich mußte mich auch gegen den Reiz wehren, den die klagende Frau und soviel Erinnerungen auf mich übten.

»Sei nicht böse mit mir«, bat sie, und sie fragte: »Bist du glücklich?«

»Ja«, erwiderte ich.

»Dann freue ich mich.« Aber sie weinte.

In diesem Augenblick kam mir ein Gedanke, ein Verdacht, und ich sah schroff in das zerstörte und doch so schöne Gesicht, das mir plötzlich zulächelte. Die Schroffheit wich wohl aus meinen Zügen. Jede Bewegung dieser schlanken Hände, jeder Blick war einst solch ein Zauber gewesen, und etwas von der sehnsüchtigen Verführung von damals legte sich wie ein weicher dunkler Mantel über uns. Es war wie ein Traum, Lust und Albdruck zugleich.

Aber ich kam nie zur Lösung all der Widersprüche in mir und um mich; denn sie fuhr empor und ich erschrak gleichfalls; wir hatten beide den tiefen Seufzer gehört, der im Zimmer ertönte. Der Vorhang, den sie sorgfältig zugezogen hatte, bewegte sich, wurde zurückgeschoben: in der Türe stand ihr Mann.

Totenbleich, das Gesicht verzerrt, schwer atmend.

Wir haben es später erfahren, daß ein Zufall ihn heraufgeführt hatte: einem der Kinder war nicht wohl geworden, und es hatte die Mutter vergeblich und dann den Vater gesucht. Ob er nur die Gewißheit zu einem alten Verdacht fand, ob er eine plötzliche böse Entdeckung zu machen glaubte, ich weiß es nicht. Ich habe von dem, was gesprochen wurde, keine klare Erinnerung. Er sprach auch nur lächerlich banale Worte. Der Mann war ja krank, wie ich erfuhr, und in übergroßer Erregung. Ich sehe noch das bleiche unangenehme Gesicht und höre den feindseligen Ton, und mehr als alles ist mir das Peinliche der eigenen Empfindung, die unsägliche Lage in Erinnerung, in der wir dort oben in dem nächtlichen Zimmer einander gegenüberstanden. Ich weiß noch, daß er, von der Nacht und dem Schlaf rings um uns beeindruckt, böse Worte mit gedämpfter Stimme sprach, die sich dennoch vor Haß und Aufregung überschlug, während wir, die Frau und ich, schwiegen. Aber bei seinen Worten schwand alles Weiche aus ihren Zügen: das blasse schöne Gesicht schien knochig und älter zu werden: es waren gleichsam nur mehr zwei große, erschreckte und feindselige Augen unter dem umrahmenden dunklen Haar.

Endlich sprach ich und sagte: »Er mißverstehe, was hier vorgefallen, und jedenfalls werde für alle besser sein, wenn Lärm und Aufsehen vermieden würden.« Mein Gewissen war durch die Vergangenheit belastet.

Erst sah er mich nur an und sagte nichts; dann öffnete er den Mund und wollte sprechen, aber er sprach nicht, sondern griff an sein Herz und keuchte. Und während ich nur das eine fürchtete, daß diese schweren beängstigenden Laute in das Zimmer nebenan dringen und meine Gattin wecken könnten, geschah das Sonderbare: seine Frau und ich, die seine Not sahen, führten ihn zu einem Lehnstuhl, betteten ihn darein, öffneten ihm Rock, Weste, Hemd und Kragen, befeuchteten die für den Gast bereit liegenden Handtücher im Waschbecken und legten sie ihm auf die Brust. Ich weiß noch, mit welchem Widerwillen ich die haarige weiße Haut berührte. Nach einer Weile ging der Krampf vorüber; er saß mit zurückgelegtem Kopf und geöffnetem Mund ruhiger da, und richtete sich zuletzt mühsam auf. »Komm«, sagte seine Frau.

Das Licht, das sie nicht ausgelöscht hatte, war niedergebrannt; der Docht schwamm in der geschmolzenen weißen Masse ... Sie griff danach; da flackerte es auf und erlosch. Ihr Mann stand wieder in der Türe wie in dem Augenblick, da er eingetreten war. Seine Augen waren zusammengekniffen, der Mund verzerrt, der graublonde Bart bewegte sich mit der blassen Lippe. – Er sprach nicht, er machte nur eine Bewegung, die alles bedeuten konnte: Verzicht oder Drohung, Verzweiflung oder Verachtung, und verschwand. Seine Frau warf mir einen angstvollen Blick zu und eilte gleichfalls aus dem Zimmer.

Ich stand in großer Erregung und wartete.

Die Bewegung und der Ausdruck seines Gesichts hatten mir einen tiefen Blick in ein anderes nicht minder großes Elend geöffnet, als das der Frau war, und trotz meiner Abneigung war ich bestürzt.

Ich sah nach der Uhr. Es war noch nicht zwei Uhr morgens. Ich suchte zu überlegen; aber meine Gedanken führten zu keinem Plan; es blieb mir nichts als dieses entsetzliche Warten.

Ich lauschte an der Türe meiner Frau; aber ihr Zimmer war still; sie schlief ruhig und ahnungslos. Mehrmals war ich daran, sie zu rufen, und tat es nicht. Mehrmals öffnete ich leise und vorsichtig meine Türe und trat in den Gang hinaus und lauschte. Niemand kam. Ich hörte auch nichts. In dem dunkeln fremden Hause hätte ich mich nur verirrt. Und was hätte ich unten getan? So trat ich jedesmal wieder ins Zimmer zurück; unschlüssig, bedrückt, innerlich gehetzt und zur Regungslosigkeit verurteilt.

So begannen jene endlosen, tötlichen vier Stunden des Wartens in dem verhaßten Hause, die ich nie vergessen werde, in denen ich mehr Schreckliches oder Peinliches in meiner Einbildung erlebte, als je in Wirklichkeit. Ich sah das Schlimmste unten im Hause geschehen, und war jeden Augenblick gewärtig, drohende Schritte auf der Treppe zu hören und die beschämendsten und verhängnisvollsten Auftritte in den Zimmern oben erleben zu müssen. Und – so sonderbar kleinlich ist der Mensch beschaffen – als das Drückendste von allem empfand ich, daß ich dem Manne nicht gleich gesagt hatte und nun nicht mehr sagen könnte, wie gern ich sein Haus augenblicklich verlassen hätte, wie durchaus wider meinen Willen ich diese bittere Gastfreundschaft bis ans Ende hinnehmen mußte. Noch zehnmal faßte mich die Versuchung, meine Frau zu wecken, sie aufstehen zu heißen und mit ihr zu fliehen, und immer wieder ließ mich der ans Fenster schlagende Regen, ihr ruhiger Schlaf nebenan und die Vorstellung der jammervollen Wanderung in der schrecklichen Nacht draußen und der Gespräche dieser Nacht davon abstehen. So ging ich in meinem Zimmer auf und ab, oder zwang mich eine Weile zu sitzen oder am Tische still zu stehen, und sah immer wieder auf die Uhr, um zu finden, daß der Zeiger kaum von der Stelle gerückt war. Bis der erste schwache Schein durch das Fenster fiel und ein fahler Morgen anbrach. Der Regen und Sturm hatten aufgehört, geteilte Wolken standen am Himmel; unten zog sich grau der Fluß, darüber in der Ferne die dunklen Linien der Brücke, und am andern Ufer das Kreuz, wo der Weg sich teilte. Überall auf der Straße die Wasserlachen. Sonst nebelüberwallte farblose Wiesen und schwere dunkle Hügelrücken: die graue düstere Landschaft des Morgens.

Bis die Sonne wirklich kam. Es war ein heller warmer Sommertag, als ich meine Frau weckte. Sie sah mein verstörtes übernächtigtes Gesicht, und ich sagte ihr, daß ich nicht zu Bette gegangen, daß jemand im Hause krank geworden sei und wir sogleich aufbrechen müßten.

»Krank? Wer?« fragte sie.

»Ein Kind, und ... der Hausherr.« Ich gab Erklärungen, so gut es ging.

Eine Viertelstunde später standen wir in der Halle. Hier kam uns Frau Aline in einem feinen Morgenkleid, eine tadellose liebenswürdige Hausfrau entgegen. Den Patienten, sagte sie auf die besorgten Fragen meiner Frau, gehe es besser; uns aber nötigte sie mit freundlichem Zwang in das sonnige Frühstückszimmer, wo der Tisch gedeckt und blumengeschmückt bereit stand, mit heißen duftenden Kannen und weißen Broten, und wir unter stockenden aber artigen Gesprächen ein eiliges Frühstück nehmen mußten. Auch das ging vorüber.

Von dem großen schweigenden Hunde gefolgt, begleitete sie uns ans Gittertor. Ich drückte ihr die Hand, meine Frau erging sich in Dank und Entschuldigungen. Dann sah ich sie mit müden Schritten ins Haus zurückkehren.

»Sie sieht schlecht aus«, meinte Esther, als das Gitter sich hinter uns mit einem scharfen Eisenton geschlossen hatte. Ich nickte.

Esther ging in schweigenden Gedanken, nur einmal blieb sie stehen und warf mir einen fragenden Blick zu. Aber ich schwieg. Und sie stellte an diesem Tage keine Frage mehr. Ich aber sah die gesunde jugendliche Gestalt neben mir schreiten, rein, fest, vertrauend und vertraut, und eine plötzliche dankbare Freude war in mir. Der Besuch war vorüber.

*


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