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Achtzehntes Kapitel.

Seltsame Dinge.

 

»Ist das aber ein wunderbares Zusammentreffen!« sagte Annetta zum zwanzigstenmal.

»Scheint es dir wirklich ein so wunderbares Zusammentreffen?«

»Ich verstehe dich nicht ...«

»Du kannst mich auch nicht verstehen, weil du nicht so viel über Zufall und Fügungen nachgedacht hast wie ich. Sehen wir einmal näher zu. Du erhältst zwei Briefe zu gleicher Zeit, von denen der eine (verspätete) dir sagt, daß etwas von dir lebhaft Gewünschtes nicht geschehen kann, weil ein unüberwindliches Hindernis eingetreten ist, der andere meldet dir, daß jenes Hindernis beseitigt ist und die Sache statthaben wird. Du liest den betrübenden Brief, darauf den zweiten; die Freude, welcher dieser letztere dir nach dem unangenehmen ersten bereitet, setzest du auf Rechnung der Fügung und rufst aus: ›O welch wunderbares Zusammentreffen!‹ Hättest du aber zuerst den Brief gelesen, welcher die Beseitigung des Hindernisses meldet, so würdest du schwerlich auf die Fügung geachtet haben, daß der eine sich verspätete und daher beide zugleich eintrafen; und doch ist nichts verändert, als die Art deines Empfindens.«

Wenn ich mich in einen etwas dunklen philosophischen Gang wage und mich bemühe, meine Gattin mir nachzuziehen, ihre Schritte möglichst erhellend, dann begleitet sie mich halb zaghaft, halb lächelnd und fragt mich wohl, wie diesmal: »Wo willst du hinaus?«

»Oder betrachte denselben Gedanken unter einem anderen Bilde,« sagte ich. »Sieh abends auf die Gaslaternen einer langen und geraden Straße; sie sind eine von der anderen gute hundert Schritt entfernt; aber wenn du zurückgehst und dich dann umwendest, so siehst du sie einander sich nähern und endlich zusammenstoßen. Ebenso ist's in der Geschichte, welche die Nacht der Zeiten erhellt und wo die denkwürdigen Ereignisse den Leuchten einer langen dunklen Straße gleichen, die aus perspektivischen Ursachen sich zu berühren scheinen, sich aber durchaus nicht wirklich berühren; und vielleicht sollte man die Geschichte mit diesem Kriterium von neuem durchlesen, und vielleicht hat aller Aberglaube keinen anderen Ursprung ... und vielleicht ...«

»Kurz,« fragte mich Annetta, »scheint es dir eine seltsame Fügung, oder nicht?«

Der Leser urteile selbst; hier der Brief, welchen ich am Morgen erhalten hatte:

 

»Mein lieber Vetter!

Ohne daß Sie es wissen, bin ich mit Ihnen verwandt; deshalb sind Sie mir wert, ohne daß ich Sie kenne. Unsere Verwandtschaft ist etwas entfernt und ich habe Mühe gehabt, den Faden zu derselben aufzufinden; aber da ich keine anderen Angehörigen habe als Sie, und mir daran lag, daß Sie mir nicht entgingen, so habe ich Sie aufgespürt.

Ich bin ziemlich reich und ziemlich alt; stürbe ich ohne Testament, so würde wahrscheinlich der Staat nähere Verwandtschaftsrechte als die Ihrigen geltend machen und Ihnen nicht einen Heller von meinem Vermögen überlassen.

Aber ich werde meine Vorsichtsmaßregeln treffen; inzwischen fange ich an, Ihnen, da Sie nicht reich sind, etwas auf Abschlag zu zahlen, denn ich habe gar keine Eile, aus dem Leben zu scheiden, ich hoffe, das mit aller Bequemlichkeit thun zu dürfen, und mir liegt daran, daß Sie geduldig warten können. Nehmen Sie diese Sprache nicht übel; es ist die eines Greises, der da weiß, wie leicht das Geld oft die liebevollsten Empfindungen vernichtet und die besten Seelen verdirbt.

Ich habe einen Prozeß schweben, er wird morgen entschieden, und ich gewinne ihn; dies Geld, welches mich so viele Jahre des Verdrusses, der Feindseligkeit, der bitteren Gefühle gekostet hat, will ich nicht in meine Hände nehmen; Sie sollen es haben; so rette ich meine durch kleinliches Streiten verletzte Menschenwürde.

Meinen gegenwärtigen Gegner kennen Sie: Es ist der Maler Signor Valens Nebuli, der in bedrängter Lage sein wird, nachdem er den Prozeß verloren hat.

Der Zufall kommt mir in allem zu Hilfe; Sie sind sein Freund, und ich zweifle nicht, daß Sie ihm die Zurückerstattung so wenig drückend wie möglich machen werden. Von Ihnen wird er einen Aufschub annehmen, von mir würde er ihn verschmähen.

Eine Bedingung jedoch verbinde ich mit meiner Schenkung: sollte die Gegenpartei auf Kassation antragen, sollte das Urteil kassiert werden, so dürfen Sie niemals auf einen Vertrag eingehen, sondern müßten den Prozeß, mit welchem ich so viele Jahre verloren habe, weiterführen.

Ich kenne Sie nicht, aber mein Rechtsanwalt in Mailand, der Sie gesehen und sich nach Ihnen erkundigt hat, weiß, daß Sie ein ordentlicher und rechtlicher Mann sind, der meinem Willen nicht zuwider handeln wird.

Am Vorabend des großen Tags, der mir den Sieg in diesem langen und verhaßten Kriege bringt, fühle ich mich schwach; ich fürchte das Ueberwältigende einer großen Freude, und flüchte mich hinweg. – Indem ich Ihnen diese Schenkung mache, ist mir's, als zöge ich mich aus der Sache zurück; aber um ganz ruhig zu werden, gehe ich fort und werde eine Woche abwesend bleiben.

Der Notar, welcher diesen Brief vier Tage nach dem Urteilsspruch auf die Post zu geben hat, wird Sie auch von dem öffentlichen Akt der Schenkung benachrichtigen, welche ich heute in Gegenwart von Zeugen vollzogen und unterzeichnet habe ...

Empfangen Sie, lieber Vetter, den ersten Beweis meiner letzten Zuneigung.

Lecco, 13. Dezember.
Ihr Giulio Pasquali.«

 

»Ist das aber nicht wirklich eine wunderbare Fügung!« rief Annetta zum einundzwanzigstenmal aus.

Und da ich stumm blieb, drang sie in mich: »Aber so sprich doch, sage du doch auch etwas ...«

»Soll ich dir sagen, was ich eigentlich denke? ... Ich halte es nicht für eine Fügung, ich halte es für einen Scherz.«

»Ein Scherz, von wem? ...«

»Ich weiß nicht; aber siehst du nicht selbst, wie unwahrscheinlich diese ganze Geschichte ist? Der Signor Pasquali hat keinen näheren Verwandten als mich – er nennt die Streitigkeiten, wegen derer er viele Jahre prozessiert hat, kleinlich, verlangt aber, daß ich in seinem Namen zu prozessieren fortfahre; er fürchtet, daß die Freude über den gewonnenen Prozeß ihm gefährlich werden könne, er ist gewiß, ihn zu gewinnen, und entsagt doch dem Errungenen ... liebes Kind, das alles ist zu unwahrscheinlich, folglich ist es nicht wahr.«

Aber als ich zwei Stunden später den Brief des Notars aus Lecco erhielt, der, indem er mir den öffentlichen Vollzug der Schenkung anzeigte, mich zur Annahmeerklärung aufforderte, da schloß ich mich, ohne Annetta etwas zu sagen, in mein Atelier ein, um mit Methode nachzudenken.

Es handelte sich darum: Gesetzt, daß die Schenkung wahr ist, zu ergründen, wieweit sie wahrscheinlich ist.

Mir gingen hundert Ansätze zu Ideen durchs Gehirn, aber eine vollständige war mir noch nicht aufgegangen. Als ich das Atelier verließ, war sie mir gekommen.

Und was hatte meine Annetta gethan? Sie war hinuntergelaufen und hatte ihrer Chiarina alles erzählt.

»O!« rief ich aus, »sie wird es Valens sagen!«

»Sie hat mir versprochen, nichts zu sagen; und früher oder später muß er es ja doch erfahren, wenn die Sache wahr ist; wäre es hingegen ein Scherz, was schadet es dann?«

»Es ist kein Scherz,« sprach ich.

»Ja? Aber dann sind wir ja ungeheuer reich!«

»Ja, falls wir uns dazu hergeben, deine Chiarina und Valens zu berauben! ...«

Ich glaubte, ihr Entzücken durch dies Sturzbad abgekühlt zu haben, aber sie erwiderte: »Wir werden sie nicht berauben, wir teilen mit ihnen; ich habe es Chiarina schon gesagt, und sie ist so froh, so froh ...«

»Sieh einmal! Und du triffst Verfügungen, ohne mir etwas davon zu sagen? ...« sprach ich mit verstelltem Ernst.

»Du bist es ja, der so verfügt; ich bin gewiß, daß du denselben Gedanken gehabt hast. Du würdest dich doch nicht aus dem Elend unserer besten Freunde bereichern wollen; folglich, ehe daß wir der Schenkung entsagen, nimmst du sie an und machst zwei richtige Teile ...«

»Und glaubst du, daß Freund Nebuli sich's gefallen lassen wird, mit mir zu teilen? ...«

»Das wollt' ich einmal sehen; er ist es doch nicht, der teilt, wir sind's; und er kann nicht mehr verlangen, dünkt mich; wären wir Millionäre, nun ja ... aber arm, wie auch wir sind ... es wäre denn doch eine schöne Unverschämtheit, zu verlangen, daß wir uns seinetwegen berauben.«

»Er wird gar nichts verlangen, sondern wird nichts von uns annehmen wollen ...«

»Und was wird er in seinem Stolz thun?«

»Er wird auf Kassation antragen.«

»Mag er es thun, wir werden es mitmachen; es wird um so schlimmer für ihn sein; den Prozeß gewinnt er doch nicht.«

»Weshalb?«

»Wenn die Gerichte diesmal ausgesprochen haben, daß der alte Corvi schwachsinnig gewesen, so ist dies ein Zeichen, daß er es in der That war.«

»Dir schien er sonst nicht schwachsinnig.«

»Und dir auch nicht ... Aber hast du ihn gekannt? Habe ich ihn gekannt? Wir sagten nur so ...«

Hier konnte ich mich nicht länger halten, ich schloß ihr den Mund mit einem Kuß und sagte dann leise: »Schweig, schweig.«

Sie sah mich erschreckt an, sie verstand: »Ich wurde schlecht,« sprach sie, »nicht wahr?«

Hier trat Freund Nebuli ein; auf den ersten Blick sah ich, daß er alles wußte.

»Was ist denn Merkwürdiges geschehen?« fragte er.

»O! große Dinge!« antwortete ich, »da lies.«

Er las die beiden Briefe von Signor Pasquali und dem Notar, und sagte: »Seltsame Fügung! Du der einzige Verwandte? ...«

»Weiter sagst du mir nichts?«

»O ... ich freue mich, freue mich wirklich ...«

»Willst du aufrichtig sein?« sagte ich traurig, »du freust dich nicht ...«

»Warum? ... Was verliere ich dabei? Ist es nicht besser, daß mein Unglück einem Freunde nutzt?«

»Ja, es ist besser, du weißt recht gut, daß es besser ist; aber gestehe, daß dich die Nachricht ein wenig verdrossen hat, und daß es einen Augenblick gab, wo dir nichts unerfreulicher schien, als das dir Entrissene im Besitz des Freundes zu sehen, und daß du dieser unwillkürlichen Mißgunst nicht sogleich den Mund geschlossen hast ...«

»Nun ja, es ist wahr; aber jetzt ist es vorüber ... ich schwöre dir, daß ich mich freue, und du mußt es mir glauben.«

Wir drückten einander lebhaft die Hände.

»Also kann ich die Schenkung annehmen?« fragte ich lachend.

»Nimm sie an, natürlich! Aber ich muß dir sagen, daß wir auf Kassation antragen werden, daß wir vierzehn Nichtigkeitsgründe haben – du wirst es doch nicht übelnehmen?«

»Was denkst du? Fällt mir gar nicht ein! Aber aus Kassation wirst du nicht antragen; dann ist der Prozeß zu Ende, und mein Verwandter wird nichts dagegen haben, daß wir das Ganze in zwei Hälften teilen; meinen Anteil wirst du mir nach deiner Bequemlichkeit geben, immer nach und nach etwas, wenn du ein Dutzend Gemälde verkauft hast; wir werden zusammen arbeiten und es nicht wie die beiden guten Freunde machen, dein Onkel und mein teurer Vetter ...«

Valens blieb ernst.

»Was sagst du dazu?« bestürmte ich ihn.

»Ich kann nicht; deine Großmut ist unserer Freundschaft würdig, aber ich kann nichts von dir annehmen.«

»So,« sagte ich, »von mir nicht, wohl aber von den Gerichten; sag es gerade heraus, daß meine Großmut dich kränkt, daß ich dir ein Almosen gebe ...«

»Ohne Bitterkeit ...« sprach er, »ist es etwa nicht wahr?«

»Nein, das ist nicht wahr!« rief ich aus, »die Gerichte haben heut mir Recht gegeben, aber gestern hatten sie es dir gegeben ... Wir stehen gleich; wenn du auf Kassation anträgst und vierzehn Nichtigkeitsgründe hast, so geht es wieder von vorn an: Du kannst verlieren, ich kann verlieren; unterdessen verzehren die Advokaten unsere Einkünfte und benagen das Kapital, und der Streit frißt unsere Freundschaft an. Thu mir den Gefallen und schreib deinem Advokaten, daß du nicht auf Kassation anträgst, und ich werde meinen aufsuchen, um die Schenkung anzunehmen.«

Meine Beredsamkeit hatte gewirkt; der Freund fiel mir um den Hals und gab mir einen schallenden Kuß.

»Du kennst ›deinen Advokaten‹?« fragte Valens mich lächelnd.

»Nein, er kennt mich, so wenigstens sagt der Brief ›meines Verwandten‹, aber ich habe ihn nie gesehen ...«

»Mir kommt ein Gedanke!« rief Annetta aus.

»Du irrst dich,« unterbrach ich sie, in ihren Augen lesend.

»Signor Bini ... beharrte meine Frau.

»Du irrst,« wiederholte ich, »ich versichere dich,« und ich lachte laut.

»Signor Bini wird heut kommen,« setzte ich hinzu; »du kannst ihn selbst fragen und wirst sehen, daß du dich irrst ...«

»Woher weißt du, daß er heut kommt?«

»Es ist eine fixe Idee von mir, ich bin gewiß, daß er kommt.«


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