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Fünfzehntes Kapitel.

Signor Bini kommt.

 

Unter uns allen die einzige, deren Thatkraft wuchs anstatt zu versagen, war Annetta. Zunächst ging sie zu Nebulis hinunter, um ihrer Chiarina ein paar jener Worte ohne rechten Sinn zu sagen, mit denen man zum Herzen spricht, dann kam sie wieder herauf, stellte sich vor mich hin und kündigte mir an, daß etwas geschehen müsse ...

»Gut, wir wollen etwas thun,« antwortete ich, »und was

»Laß es uns besprechen; dieser unselige Salvioni kommt also, sieht seine Frau wieder, ist so gnädig, sie recht hübsch zu finden; es ist ihm, als ob er hier oder da (ihre Brust berührend) er weiß selbst nicht wo, denn ein Herz hat er nie gehabt, von neuem für sie entbrenne; er wundert sich, daß er so lange ohne sie hat leben können, er führt sie mit hinweg ... um sie nach einem Monat abermals sitzen zu lassen. Ist dein Gesetz damit einverstanden?«

Das mochte selbst ich, der doch einigermaßen damit vertraut sein mußte, nicht behaupten.

»Ich wollte es meinen!« rief Annetta aus, »aber du hast ja das Gesetzbuch, sieh doch einmal nach, schlage doch einmal nach, ob es einen Paragraphen enthält, welcher unseren Fall vorgesehen hat; können Chiarina und Valens nicht hingehen und darlegen, wie die Sachen stehen, um jene erste Scheinehe auflösen zu lassen und diese neue einzugehen, zu der nur noch so wenig fehlt?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Siehe dennoch nach, ich bin auch gewiß, daß kein solches Gesetz darin steht ... obgleich es sollte ... aber immerhin kostet ja das Nachschlagen nichts.«

»Ich versichere dich, daß es nicht vorhanden ist.«

»Und wenn nun zwei einander nicht ausstehen können, wenn der Gatte ein Schurke ist und seine Frau alles mögliche durchmachen läßt, zu welcher Abhilfe greift man da?«

»Man greift zur Scheidung, denke ich ... aber ich weiß nicht, ob das eine wirkliche Hilfe ist.«

»Wenn auch! So kann doch niemand Chiarina zwingen, mit diesem Menschen, diesem Salvioni zu gehen, und sie wird nicht zu ihm gehen und sie werden sich in aller Form scheiden lassen.«

»Vorausgesetzt, daß Salvioni seine Einwilligung nicht versagt.«

»Nun, das möchte ich sehen, daß er nach so vielen Jahren noch mit dem Anspruch käme! ... Wir wollten es ihm schon wehren.«

»Mit welchem Recht? Wer sind wir?«

»Die Freunde von ...«

»Von Valens und ihr, das heißt die Mitschuldigen des Komplotts ... gefällt dir das?«

»Durchaus nicht.«

Wir schwiegen eine Weile.

»Sie müssen allerdings geschieden werden,« begann ich dann wieder, »die Signora Chiarina kann nicht zu jenem Mann zurückkehren, der fast ein Fremder für sie geworden ist; aber deshalb muß man ihren Gatten bewegen, daß auch er auf Scheidung anträgt, denn wenn er sich widersetzte, so müßten sie, glaub' ich, prozessieren ... und wer weiß wie lange ... ich weiß es nicht. Und damit Signor Salvioni sich dazu bequemt, wird man ihm Geld geben müssen und verhindern, daß er zuvor die Gattin sieht, denn wer steht uns sonst dafür, daß er nicht noch einmal des Teufels wird?«

»Das wird er, sobald er Chiarina sieht, ohne Frage.«

»Wenn sie gesetzlich geschieden sind ... dann ...«

»Dann ...«

Ja, was dann? ... Wir sannen lange darüber nach; alles ging gut bis so weit: Salvioni kam, man redete ernst mit ihm; wenn er einige Mittel hatte, so drohte man, ihn zu zwingen, daß er für den Lebensunterhalt der Gattin sorge; hatte er keine, so gab man ihm eine Summe ... die Scheidung fand statt, und dann ...

»Dann,« sagte Annetta, »wird Chiarina mit ihrem Valens gehen und wir werden sie zum Bahnhof begleiten ... Oder nein, sie werden nicht fortgehen ... und ich werde die Augen zumachen, um nicht zu sehen ... und wenn du sie offen behalten willst, so wirst du sehen, daß sie glücklich sein werden, trotz deines Gesichtes.«

»Und es wird ein Aergernis sein ...«

»Wer sagt das? Dein Gesetzbuch, aber ich gebe nichts darauf. Stelle dir vor, daß es morgen einem der Großmächtigen, welche die Gesetze machen, einfiele, eine der thörichten Satzungen aus eurem dummen Buch zu streichen (worin ihr deren so viele wie kostbare Reliquien bewahrt) und daß Valens und Chiarina Mann und Frau werden könnten, wo wäre dann das Aergernis? Nirgends. Folglich liegt es in eurer thörichten Satzung.«

Ohne mich mit der Verteidigung dessen, was Annetta so zu nennen beliebte, zu erhitzen, begnügte ich mich, den Kopf zu schütteln.

Seit vielen Tagen hatte Signor Bini sich nicht sehen lassen, und ich dachte im stillen, Annetta habe ihn doch wohl mit ihrer Offenherzigkeit zurückgeschreckt. Aber während Annetta das Gesetzbuch schmähte, dachte ich so wenig an Signor Bini wie an ... dessen Großmutter, als ich plötzlich, aufblickend, die gerade und seine Nase, das spöttische Lächeln, die schlauen Augen und das übrige vor mir sah, und ehe ich »nehmen Sie Platz« sagen konnte, hatte der ganze Signor Bini, so lang wie er war, sich zum Gruß verbeugt, meiner Frau die Hand gedrückt und sich vor mir niedergelassen.

»Interessante Nachrichten!« rief er mit dem mäßigen Nachdruck aus, welcher der höchste Grad seines Enthusiasmus war. »Ich habe acht Salvioni gefunden, ich habe sie hier (auf die Brusttasche klopfend), acht in der Blüte ihrer Jahre verstorbene Salvioni; der älteste war nicht über fünfundsechzig Jahre.«

Ich sah ihm ins Gesicht, weil ich fürchtete, er mache Spaß; aber er war ernsthaft.

»Es ist tröstlich zu sehen, wie diese Salvioni hinsterben. Es scheint eine Epidemie zu sein. Aber andererseits ist's erschrecklich, wie sie sich wiedererzeugen. Wissen Sie, wie viel Salvioni männlichen Geschlechts es in Mailand gibt? ... Fünfzehn! Vier jedoch besuchen die Schule, fünf sind ziemlich reifen Alters, so alt wie ich; von den übrigen kann wohl der einzige, welcher Giuseppe heißt, nicht Signora Chiarinas Gatte sein, denn er ist noch ein Säugling; das alles habe ich auf dem Erkundigungsbureau erfahren.«

Kopfschüttelnd ließen wir ihn reden. – Er mißverstand uns und setzte hinzu: »Es war nicht der richtige Weg. Ich weiß, aber es ist nicht meine Schuld; ein Beamter des Civilstandesamtes erinnerte sich, ohne dessen recht sicher zu sein ... daß ein gewisser Giuseppe Salvioni ... eben des Alters, welches ich nannte ... – Aus Brescia? Ja, aus Brescia! ... vor mehreren Jahren zu ihm gekommen war, um Nachforschung in Bezug auf ein vor zwanzig Jahren zwischen einem Unbekannten und einer Unbekannten geschlossenes Ehebündnis anzustellen; der Beamte hatte sich die Sache ihrer Ungewöhnlichkeit wegen gemerkt. ›Der ist es!‹ rief ich aus. Wir sehen nach, ob sich dieser Giuseppe Salvioni in den Namensverzeichnissen findet. – Nichts. Nun gehe ich auf das Polizeiamt und frage so: ›Es muß doch einen üblichen Weg geben, auf dem man einen gewissen Giuseppe Salvioni aus Brescia, blond, mit einer Narbe auf der Stirn, aufspürt; was ist aus diesem geworden?‹ Man antwortet mir, das sei unmöglich herauszubringen. – Ich bestehe darauf, man sucht nach. – Ihr wißt, daß die Erde nicht, wie man zu sagen pflegt, eine Kugel ist, und nichts auf Erden läuft eigentlich glatt wie eine Kugel, obgleich mancher diese irrige Meinung hat und seine Angelegenheit durch einen Stoß im Lauf zu erhalten glaubt. Was geschieht? Die Angelegenheit stockt beim ersten Hindernis. Auch jene Nachforschung war auf halbem Wege gestockt, weil auf der Polizei niemand daran lag, etwas über Salvioni zu erfahren. Was hatte der Aermste denn gethan? Er hatte seine Frau mitzunehmen vergessen? Etwas Rechtes! So eine kleine Vergeßlichkeit könnte selbst 'mal einem Polizeibeamten begegnen.«

»Also?« fragte ich kalt.

»Nun der Weg gefunden ist, gedenke ich der Kugel nicht nur einen Anstoß, sondern zehn, hundert zu geben, so viel wie erforderlich sind, um sie nötigenfalls rund um die Erde zu treiben; und lebend oder tot muß Signor Salvioni zum Vorschein kommen.«

Er schwieg und sah uns verwundert über unsere Teilnahmlosigkeit an; endlich sagte er mit einem schalkhaften Lächeln: »Ich verstehe ... ich verstehe ... mit welchem Recht mische ich mich in diese Sache? ... Lieber Signor Ferdinando, Sie müßten es ja wissen: Mir liegt daran, daß Valens den Prozeß verliert, aber nicht die Gattin, dann wird er mir leichter den ›Schaum des Meeres‹ verkaufen.«

Wie gern hätte ich noch geschwiegen, um ihm sein ganzes ungehöriges Mitwissen durch ein wenig Neugier bezahlen zu lassen! Aber Annetta wäre mir zuvorgekommen, wenn ich nicht mit einiger Gemessenheit gesagt hätte: »Giuseppe Salvioni lebt, er ist in Mailand, er hat geschrieben, er wird kommen!«

Wo hier ein Komma steht, hatte ich eine kurze Pause und einen niederschmetternden Blick angebracht. Die Wirkung war eine außerordentliche. Signor Bini schlug sich vor die Stirn und fand keine Antwort, er, der auf alles eine hatte. Dann sagte er, wie plötzlich zu sich kommend: »Das ist nicht möglich!«

»Es ist aber wahr.«

»Es ist nicht möglich, ich kann alle Salvionis in Mailand an den Fingern herzählen ... das Namensverzeichnis ...«

» Ihr Namensverzeichnis,« warf Annetta ein, »hat gewiß nicht hinreichend große Hände und will zu viel umfassen ... ein Salvioni wird ihm durch die Finger geschlüpft sein ...«

»Oder,« sagte ich, »dieser Signor Salvioni, welcher sich meldet, lebte bisher nicht in Mailand, und das ist auch natürlicher, denn wäre er hier gewesen, so hätte er von Valens Nebuli gehört und sich wohl gemeldet, ohne die Zeitungsanzeige abzuwarten.«

Ich hatte das Richtige getroffen, denn Signor Bini, welcher nichts dagegen einzuwenden wußte, that, als achtete er nicht auf meine Worte.

Wie ich erwartete, fielen nun seine Fragen hageldicht, die ich höflich entgegennahm, selbst beantwortete oder durch Annetta beantworten ließ, immer noch in der Hoffnung, daß wir zu dreien einen Leitfaden aus dieser Verwickelung auffinden würden. Aber nein, es blieb immer dasselbe: Der Herr Gemahl kam, entsagte der Gattin oder entsagte nicht; im Guten oder im Bösen wurde die Scheidung bewerkstelligt, und dann? ...

Kein Zweifel übrigens, daß Signora Chiarina sich nicht sehen lassen dürfe, daß Valens die Unterhandlung mit dem Gatten, von einem ruhigeren Diplomaten unterstützt, führen müsse und daß man durch die Erfindung eines passenden Märchens das Dekorum zu retten habe.

»Das Dekorum ist gerettet, das Märchen gefunden,« sagte Signor Bini; »sollte es nötig sein, so gehe ich auf das Gericht, damit alle erfahren, daß Signora Chiarina meine Tochter ist!«

»Ah!«

»Oh!«

»Wundert euch das? Ich habe sie mir in Paris bestellt, wo man diesen Artikel, wie es scheint, recht gut besorgt. Uebrigens nehmen es die Gerichte in diesen Dingen nicht so genau. Wie dies zugegangen ist, da ich doch nie in Paris war? Das braucht niemand zu wissen, als ich.«

Wir sahen ihn noch ganz verblüfft von dieser seltsamen Idee an. Ich dachte: »Scherzt er, oder will er Chiarina wirklich adoptieren?« ... Da hörten wir im Vorzimmer eilige Schritte – und eine uns bekannte Stimme rief bebend: »Ferdinando! Ferdinando!« – dann erschienen Chiarina und Valens in der Thür, bleich, mit verschlungenen Händen.

Beim Anblick Signor Binis, welchen sie nicht bei uns vermuteten, blieben sie einen Augenblick stehen, einen einzigen Augenblick, denn Annetta schloß ihre Chiarina in die Arme. Inzwischen hatte sich der Alte, scheinbar arglos, verständigerweise in meinem Atelier verloren.

Kaum waren wir allein, so stammelte Nebuli mit verlöschender Stimme: »›Er!‹« und ich ebenso: »Mut!« und drückte ihm die Hand.

»Hat er Chiarina gesehen?« fragte ich, und suchte meiner Stimme Festigkeit zu geben.

»Nein.«

»Hast du ihn gesehen?«

»Auch nicht.«

Hundert Fragen kamen mir auf die Lippen; ich drängte sie zurück, um einzig an die gewichtige Notwendigkeit des Augenblicks zu denken.

»Mut,« wiederholte ich, »ich gehe.«

Und ich ging hinaus, mit einem letzten Blick auf Annetta, welche ihre Freundin unter Thränenströmen zu trösten suchte, und auf Valens und Chiarina, die mit starren Augen unbeweglich dastanden.

Auf dem Flur trat Signor Bini wieder zu mir.

»Ich war im Begriff zu gehen,« sagte er, »denn in solchen Augenblicken ... Ich habe alles begriffen. Daran zweifelte ich nicht im geringsten, und doch war er diesmal im Irrtum.«

»Ihr Freund hat den Prozeß verloren!«

»Nein, nein, Sie täuschen sich ...«

»Durchaus nicht; es ist zwei Uhr nachmittags, um diese Stunde hat er ihn verloren.« Seine Worte summten nur in meinen Ohren, denn während ich die Treppe hinabging, wälzten sich mir andere Gedanken im Kopf herum.

Auf der Schwelle zu Nebulis Wohnung hielt ich den Alten an und sagte zu ihm: »Wollen Sie mitkommen und ihn empfangen?«

»Wen?«

»Den Signor Salvioni.«

Diesmal hatte ich ihn wirklich aus der Fassung gebracht: aber guter Gott, um welchen Preis!

Die Thür öffnete sich und wir traten ein, in feierlicher Haltung beide, aber so sehr ich mich auch zusammennahm, er noch feierlicher als ich.


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