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Elftes Kapitel.

Hier wird eine junge Dame sich nicht zurechtfinden.

 

Seit langer Zeit (seit zwei ganzen Tagen) trug ich mein Geheimnis mit mir umher. Es war drückend und lästig, es fesselte mir die Glieder, es schränkte meine für gewöhnlich vielsagenden Gebärden in einen kleinen Rahmen von wenig Centimetern Weite ein, verstümmelte mir die Worte im Munde und gab mir meiner Gattin gegenüber den Anstrich eines Ehemanns, welcher einen dummen Streich begangen hat; dennoch sagte ich nichts, behielt alles für mich.

An jenem Tage nun, als Signor Bini sich eben entfernt hatte und ich mich Angesicht zu Angesicht mit meiner freundlichen Annetta fand, konnte ich nicht länger widerstehen, zog sie in ein Sofaeckchen nieder, und nachdem ich mir alles das hatte versprechen lassen, was ich versprochen hatte, glaubte ich in meinem Recht zu sein, wenn ich das lästige Geheimnis aus unserem Hause jagte. Ich mußte es ohne Vorrede bei den Hörnern ergreifen und begann feierlich also: »Du mußt wissen, Annetta, daß es in Freund Nebulis Hause ein Geheimnis gibt.«

Sie sah mich mit weit geöffneten Augen an.

»Daß deine liebe, deine schöne, deine gute Signora Chiarina, mit einem Wort, deine Geliebte, ein Geheimnis hat ...«

Annetta schüttelte mit solchem Ernst verneinend den Kopf, daß ich darin Signor Binis Schule zu erkennen glaubte. Ich schwieg.

»Sie hat es nicht mehr,« sprach meine Frau, »sie hat mir alles gesagt.«

»Alles?«

»Alles.«

»Und du hast mir nichts davon mitgeteilt?«

Annetta ersparte sich die Antwort durch ein Lächeln. Und ich sehr ernsthaft: »Signora Chiarina hat dir gesagt, was sie weiß, nämlich ... daß Valens ...«

»Nicht ihr Gatte, daß ihr Gatte ein anderer ist, der wohl tot sein muß ... und daß Valens sie liebt, und daß sie mit der Zeit sich wirklich heiraten werden.«

»Mit der Zeit!« seufzte ich, »aber sie konnte dir nicht sagen, was sie selbst nicht weiß und was ich dir mitteilen will.«

Ich erzählte ihr die Geschichte der Signora Valeria, des »Meeres Schaumes«, und welchen Argwohn der geheimnisvolle Signor Bini in uns erweckt hatte.

»Er ist es!« entschied sie, »er gleicht ihr ...«

»Worin?«

»Ihre Nasen sind sich ähnlich.«

Jetzt war es an mir, mit Signor Binis ernster Haltung den Kopf zu schütteln: dann sagte ich: »Und wenn er es auch ist, wie soll man ihn zwingen, sich als Vater zu bekennen? Das Gesetz fordert es nicht, und ich sage, es thut wohl. Für mich ist Signor Bini – Signor Bini, ich zweifle nicht im geringsten daran; aber selbst wäre er jener Graf, Herzog, Marchese, kurz jener große Herr, von dem in einem leichtsinnigen Augenblick Chiarina das Leben erhielt, so ist klar, daß er sich nicht zu erkennen geben will. Er wird seine Gründe dafür haben; vor zwanzig Jahren sollte er eine Gattin nehmen; gegenwärtig hat er sie wahrscheinlich und besitzt legitime Söhne und Töchter, unter die er nicht eine Schwester einschmuggeln kann ... Ist das nicht ein ziemlich wahrscheinlicher Roman? meinst du nicht? ... ich habe ein Dutzend solcher gedichtet; habe aber, wie gesagt, keinen Zweifel, daß Signor Bini – Signor Bini ist ...«

»Er könnte vielleicht ...« bemerkte Annetta.

»Gewiß, er könnte, er muß vielmehr ein Vermittler oder ein Abgesandter sein. Aber die Sache scheint mir doch nicht so gar einfach; jedenfalls weiß er entweder nichts, oder wird nichts sagen, und wenn er auch etwas wüßte und reden wollte, so würde das kein Komma an dem Artikel des Gesetzbuches ändern.«

»Dein Gesetz ist unnatürlich.«

»Mein Gesetz beruht auf sehr richtiger Einsicht; meinst du, man dürfe die Gesellschaft der beständigen Bedrohung durch eine Legion von Leutchen aussetzen, die den leichtsinnig befriedigten Neigungen ihrer Väter das Leben verdanken? ... Und übrigens ist »mein« Gesetz nicht von mir gegeben ... Wir kommen also zu dem Schluß, daß wir den Vater der Signora aufgeben müssen, und dann?«

»Und dann ... was?«

»Dann müssen wir den Gatten finden,« sagte ich mit gedämpfter Stimme, »müssen ihn um jeden Preis finden.«

»Und wozu den Gatten?«

»Um ihm seine Frau zurückzugeben ... wenn es noch Zeit ist.«

»Ich glaube nicht,« sagte Annetta naiv, »und der Gatte ist ja auch tot. Chiarina hält es für gewiß.«

»Und Valens?« dachte ich.

Tags darauf kam Valens zu mir; er war bleicher als gewöhnlich; stumm gab er mir zu verstehen, daß er mit mir allein einen Spaziergang auf dem Walle machen müsse, oder wenigstens verstand ich es so; ich zog den Ueberzieher an, stülpte den Cylinder auf und folgte ihm. Ich versuchte nicht einmal ihn unterzufassen, denn – dachte ich: »Wenn zwei, welche Arm in Arm gehen, sich etwas Bedeutsames zu sagen haben, was thun sie zunächst? Sie lassen sich los; also ...« Valens ging eine Weile neben mir her ohne ein Wort zu sprechen; sein Blick folgte den welken Blättern, welche sich von den Kastanienbäumen lösten und in Spiralen langsam niederfielen; endlich sagte er, was ich vor kurzem ausgesprochen hatte: »Signor Bini muß doch wohl Signor Bini sein, ich zweifle nicht mehr daran.«

»Auch ich nicht; und selbst wenn ein Auftrag ihn in unsere Mitte geführt hat, so ist er doch nur ein Vermittler untergeordneter Art, sehr schlau, sehr rechthaberisch und gar zu sehr der Ordnung zugethan.«

Ich wollte ihm durch diese Erwiderung wenigstens ein Lächeln abgewinnen; es gelang mir nicht.

»Wenn er auch einen Auftrag von einem ›anderen‹, von ›ihm‹ hat,« begann Freund Nebuli aufs neue sehr ernst, »so weiß er augenscheinlich doch so gut wie nichts.«

»So müßte man denn,« bemerkte ich, »nur zu erfahren suchen, wer ihn schickt; und es würde nicht schwer sein, dahinter zu kommen, wenn du ihm das Bild verkaufst ...«

»Nichts werde ich ihm verkaufen,« unterbrach er mich heftig; »begreifst du nicht, daß dies Bild ›mein‹ ist?«

»Und Chiarina ist noch nicht ›dein‹, und wird es vielleicht niemals sein ...« dachte ich, ohne es auszusprechen.

»Den Vater müssen wir aufgeben,« begann er traurig wieder, nachdem er schweigend einige Schritte gethan hatte.

»Und der Gatte ist tot ...«

Was ich erwartete, geschah: er antwortete nicht.

»Sage mir die Wahrheit, ist ihr Mann tot?«

»Wie soll ich es wissen? Chiarina ist überzeugt davon. Mehrere Monate glaubte auch ich es ... seit einiger Zeit zweifle ich daran ...«

»Hast du Nachrichten erhalten? Hat sich etwas ereignet?«

»Nein, keine Nachricht; ereignet aber hat sich, daß ich sie liebe und daß sie mich liebt.«

Ich bin zuweilen ganz schlau; ich verstand.

»Und seit wie lange zweifelst du daran?« fragte ich scheinbar leichthin.

»Seit einem Monat.«

Nun faßte ich ihn unter und begann ebenfalls den dürren Blättern nachzublicken, welche in Spiralwindungen herabsanken.

»Höre,« sagte er plötzlich und machte sich von meinem Arme frei, »ich bedarf eines Rates; was würdest du an meiner Stelle thun?«

»Ich würde Salvioni aufsuchen.«

»Ich habe nach ihm gesucht; er ist nicht zu finden.«

»Man muß sich die Gewißheit verschaffen, daß er nicht aufzufinden ist; stelle nochmals Nachforschungen nach ihm an; vielleicht hast du nicht alle Mittel angewendet, durch welche man einen Ehrenmann aufspürt, der verloren gegangen ist und nicht gefunden sein will. Was hast du gethan? Du hast das Auskunftsbureau, die Konsulate in Bewegung gesetzt; ein dem Ehekerker entflohener armer Teufel hat allen Grund zu glauben, daß die Konsuln und die Polizei ihn wieder hineinstecken wollen; wir müssen ihm zu wissen thun, daß Giorgione tot ist, daß man ihn auch nicht zwingen will, die ehelichen Fesseln wieder anzulegen, daß uns nur daran liegt zu wissen, ob er lebt und wie er gesonnen ist – und das können wir ihm nur durch die Zeitungen mitteilen.

»Und wenn er tot ist?«

»Wir fügen das Versprechen einer Belohnung für jeden hinzu, der uns sichere Kunde darüber geben kann.«

»Und wenn er lebt?«

»Wenn er lebt, so antwortet er oder antwortet nicht, und wir richten uns nach den Umständen.«

»Und wenn er kommt?«

»Er wird nicht kommen, aber wenn er kommt ...«

»Wenn er kommt,« fuhr ich bei mir selbst fort, »und seine Frau fordert, so muß man sie ihm zurückgeben ... wie sie da ist.« »Wenn er kommt, so werden wir weiter sehen,« sagte ich leichthin.

Abermals schwieg er eine Weile; am Ende der Allee angelangt, hielt ich ihn an: »Was denkst du?«

»Ich denke ... ich weiß es selbst nicht ... ich denke, daß du recht hast und daß kein anderer redlicher Ausweg bleibt ...«

»So wollen wir also nach dem Zeitungsbureau gehen? ...«

Er antwortete nicht.

»Gehen wir? ...« drang ich in ihn.

»Heute nicht, heute nicht ... morgen.

»Da haben wir wieder den Mann des ›Morgen‹!« –

Er war zu ernst, all seine Züge waren schmerzvoll gespannt – ich schwieg.

Daheim fand ich Annetta verstimmt.

»Was hast du?«

Um der Antwort zu entgehen, überreichte sie mir einen versiegelten Brief.

»Was hast du denn?«

»Was hat dir Signor Nebuli gesagt?«

»Was hat dir Signora Chiarina gesagt?«

Sie sah mich an, ich sie – ein Argwohn stieg in mir auf, welcher sogleich zur Gewißheit wurde.

»Ach die Aermsten!« sagte ich.

»Ach die Aermsten!« sagte sie.

Inzwischen öffnete ich gedankenlos den Brief; er war von jemand, welcher meine beiden letzten Bilder von der Ausstellung kaufen wollte, etwas weniger als den im Katalog verzeichnten Preis und weit mehr bot, als ich erwarten durfte. Und ich sagte kalt – »lies« – zu Annetta – die ebenso kalt blieb.

Ich hätte es nie geglaubt, mußte es aber glauben und bin jetzt überzeugt davon: nicht jeder Augenblick ist der rechte, um Geld zu empfangen! Dieser Glücksfall in diesem Moment – wer mir das je gesagt hätte! ... war uns kaum eine Freude!

»Du wirst wohl morgen antworten ...«

Und ich, der nie etwas aufzuschieben pflegt, war froh, aus Annettas Munde einen fix und fertigen Entschluß zu erhalten.

»Ich werde morgen antworten.«

Und am anderen Tage hatte ich eben die Antwort – »ich nehme an« – geschrieben, als Valens mit demselben Gesicht vom Tag vorher, mit demselben Begehren, auf dem Wall spazieren zu gehen, zu mir kam.

Diesmal wußte ich nicht, was ich ihm sagen sollte; hätte er einen Rat von mir gefordert, wahrhaftig, nicht den vom vorigen Abend hätte ich ihm gegeben, sondern diesen anderen: »Nimm deine Chiarina, die ›dein‹ ist, die inniger als so dir nicht angehören kann, nimm sie und fliehe, verbirg dich in einem tiefen Thal, steig auf einen Berggipfel, geh auf eine wüste Insel, in einen Urwald ... geh, wohin du willst, aber fliehe.« Er fragte mich jedoch nichts; nur als wir an seiner Wohnungsthür waren, drückte er mir die Hand, und als beantworte er eine stumme Aufforderung, die mir jetzt fern lag, sagte er: »Heut nicht ... morgen vielleicht.«

Er zog die Klingel; anstatt die Treppe hinaufzusteigen, blieb ich, um Signora Chiarina zu begrüßen, die Valens an seiner Art zu klingeln erkannt hatte und aus einer Zimmerthür in den Vorsaal trat. Sie lächelte wie ein Sonnenstrahl.

»Wie geht es dir?« fragte, auf sie zueilend, der Freund; mir schien, als ob sie ihm ein Wort ins Ohr sagte, aber ich bin dessen nicht gewiß; sicher ist, daß sie sich in meiner Gegenwart umarmten und daß Valens aus dieser Umarmung wie umgewandelt, strahlend hervorging.

»War Signora Chiarina leidend?« fragte ich mit erheuchelter Unbefangenheit.

»Sie fühlte sich nicht wohl,« antwortete Freund Nebuli und seine Stimme zitterte.

Die Signora war errötet; ich ließ die beiden allein.

Eine halbe Stunde später kam Valens, ernsten Angesichts, aber jetzt ohne angstvolle Spannung und nervöse Erregung, nahm mich beiseite und sagte: »Ist dir's recht, wenn wir jetzt nach dem Zeitungsbureau gehen?«

»Ganz recht.«

»Willst du die Anzeige aufsetzen?«

»Ich will sie sogleich schreiben.«

Während ich die Feder suchte, dachte ich bei mir: »Dem Himmel sei Dank; diesmal ist die Gefahr vorübergegangen!«

»Welche Gefahr?« wird eine junge Dame von sechzehn Jahren fragen, die nichts begriffen hat. Antwortet ihr: »Es wäre beinahe ein Balken niedergestürzt,« und ihr werdet eigentlich keine Unwahrheit sagen.


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