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Sechstes Kapitel.

Signora Chiarina gibt mir die Idee zu meinem Meisterwerk ein.

 

Acht Tage später waren alle Besucher der immerwährenden Ausstellung in die Venus meines Freundes verliebt; es bildete sich um den Namen Valens Nebuli jene Strömung der Sympathie, jenes Bewunderungsfieber, welches die neuen Ankömmlinge zu erregen pflegen.

Man sprach nur noch von »Des Meeres Schaum«; selbst die Zeitungen erwachten aus ihrem politisch-administrativen Dahinschlummern, um einen Blick in die Ausstellung zu werfen, wo ein ruhmvolles, ein gefeiertes Werk, ein Meisterstück aufgetaucht war. Die Kritik, die sich entweder hochherzig oder grausam zeigt, ging so weit, sämtliche Venusbilder zu mißhandeln, welche früher um ihre Sanktion der öffentlichen Beifallslaune gebettelt hatten. Ich sah mit eigenen Augen grauhaarige, und zwar, wie alle wahren Künstler, gute und großgesinnte Menschen, seit einem halben Jahrhundert berühmte Maler, die sonst gern einem jungen Kunstgenossen die Hand gedrückt hätten – ich sah sie stumm vor dem Gemälde stehen bleiben und argwöhnisch umherblicken, als fürchteten sie, man möchte geringschätzig mit Fingern auf sie zeigen: ich sah. wie sie zuweilen an Valens vorbeigingen und ihn nicht anblickten, oder so anblickten, als kennten sie ihn nicht, und sich nicht umwendeten, wenn ein Bekannter, welcher neben ihnen ging, ohne zu ahnen, wie laut ihr Herz schlug, sie unbefangen auf den in einer Viertelstunde berühmt gewordenen jungen Maler aufmerksam machten – der so glückselig und so bescheiden war, daß er von dem allem nichts merkte.

Und ich hätte auf diese alten Meister zugehen und zu ihnen sagen mögen: »Reichen wir uns doch alle die Hände, und üben wir die Kritik der Kritik aus; lächeln wir über den blinden Enthusiasmus der Menge, welcher seine blinde Schwester, das ungerechte Vergessen, hinter sich herzieht; die Laune und die Befangenheit sollen uns nicht launisch und befangen machen; die Kunst ist ein Wettlauf; uns, die wir ... oder vielmehr ihr, die ihr schon am Ziel angelangt seid, darf der Beifallssturm nicht beleidigen, welcher uns ... ich wollte sagen, welcher die neu Anlangenden begrüßt – es ist eine Viertelstunde, welche für alle vorübergeht. Wir repräsentieren die Kunst, wir müssen auch das Wohlwollen repräsentieren.«

Das alles hätte ich sagen mögen, und mich dünkt, ich hätte es besser als hier gesagt; aber mit welcher Berechtigung, auch wenn ich es vermochte, durfte ich mich einmischen, um die Berühmtheiten von gestern mit den Berühmtheiten von heut auszusöhnen, ich, der ich ganz und gar nicht berühmt war, und keine Hoffnung hatte, es je zu werden? Wie konnte ich »wir« sagen, ohne das »ich« als Eindringling hineinschlüpfen zu lassen? Denn ... man wisse es nur, unter meiner großen Freude, Valens zum Ruhm gelangt zu sehen, lag ein großer Schmerz verborgen, eine unsägliche Betrübnis, daß ich nicht auch etwas Gutes zu schaffen imstande war.

In den ersten Tagen hatte mich ein fieberhafter Drang erfaßt, Wunder zu thun; mit großen Schritten durchmaß ich mein Atelier, erhob die Stirn und schaute an der Decke kühn in die Himmel der Kunst; ich mischte die Farben an, aus denen ich ein prächtiges Genrebild hervorzaubern wollte; aber plötzlich verflog meine Trunkenheit, die Pinsel entfielen meiner Hand – ich ward wieder ich selbst, nämlich ein Dutzendmensch, der von der Mathematik und von der Philosophie Zurückgewiesene, dem die Kunst ein Almosen gereicht hatte.

Bei dieser Veranlassung offenbarte sich mir mehr als je Valens' edle Seele; da ihm ein großes Stück Ruhm zu teil geworden war, und er es nicht ganz für sich behalten mochte, ohne doch zu wissen, wie er mir davon abgeben solle, so begann er die Idee meines neuen Genrebildes so anmutig, die Zeichnung so richtig, den Ausdruck so gemäßigt zu finden, daß ich endlich auch davon befriedigt war.

»Dir kommt es zu, meine Wunden zu verbinden,« sagte ich zu ihm – »denn du bist es gewesen, das heißt deine Venus ist es gewesen, die mich zuerst zu ihrer Höhe erhoben und dann schwer auf das Pflaster des Weges hat fallen lassen; alle Werke des Genies sind grausam gegen Leute, die nichts als den guten Willen haben.«

»Aber du bist ein Künstler!«

»Ach, sage mir das nicht; ich bin nur ein ›Ordnungsmensch‹ ...«

Ich verleumdete zwar die Ordnung, aber ich sagte die Wahrheit; zuweilen wenn das Genialitätsfieber über mich kam, war mir's, als müsse ich mich sofort daran machen, mein ganzes Atelier umzukehren, die Gemälde auf den Kopf stellen, die Pinsel mit den Stielen in den Becher ... aber einmal konnte ich doch wieder nur eine geordnete Unordnung aussinnen, und dann sagte ich mir; »Es ist vergebens, ich hielte es nicht lange aus, schon morgen würde ich alles wieder stellen wie es heut steht, und meine Kunst würde nicht einen Schritt weiter kommen.«

Meine gesunde Einsicht verließ mich nie. O, wenn die genügte, um wundervolle Gemälde zu schaffen, wie ich sie allnächtlich träume, wenn meine gesunde Einsicht schläft!

Valens that noch mehr, er zwang mich, meine noch unverkauften Bilder auf die Ausstellung zu bringen.

»Welchen Preis stellst du?«

»Fünfhundert Lire für jedes,« sagte ich verlegen.

»Schäme dich, deshalb hast du sie auch noch nicht verkauft ... hättest du tausend gefordert, so wären sie längst nicht mehr in deinem Atelier.«

»Und wieviel wirst du denn für deinen ›Schaum des Meeres‹ fordern?«

»Der ist nicht zu verkaufen.«

Ich nahm des Freundes Rat an. und als ich acht Tage später an meine Bilder herantrat, sah ich an einem derselben den Zettel mit »Verkauft« stecken.

»Das wird ein Irrtum sein.« dachte ich. Ich schwöre dem Leser zu, dies ist keine übertriebene Bescheidenheit, ich dachte wirklich so, und war doch zugleich überzeugt, daß es kein Irrtum sein könne. Ich eilte in das Bureau des Vorstands – eine fremde Dame war die Käuferin, sie hatte die tausend Lire bar bezahlt, und wollte das Gemälde selbst abholen lassen.

Eine Freude, wie Annetta und ich sie empfanden, läßt sich nicht beschreiben. Wie ein Paar Kinder, uns an der Hand haltend, liefen wir hinunter, um ein wenig von unserer Fröhlichkeit an Nebulis abzugeben. Signora Chiarina küßte die Freundin und lachte. Das machte sie immer so, wenn sie erfreut war! Und wie wohl that es mir, in diesem Lachen das Echo meiner Glückseligkeit zu hören, unsere Freude auf diesem Elfengesichtchen widerspiegelt zu sehen! Valens hingegen blieb ernst. »Ich sagte dir's ja!« sprach er, weiter nichts.

Wie man sich denken kann, machte mein Bild in zwei Tagen größere Fortschritte, als es sonst in vierzehn gemacht haben würde; ich unterbrach dann und wann mein eifriges Malen, um mit dem Zeigefinger das süße Gesichtchen Annettas zu erheben, welche über ihre Näherei gebückt saß, und ihr von einer mir eben gekommenen Idee zu sagen, und von noch einer, und noch einer. Die Ideen strömten mir zu.

»Wenn sie mir nur nicht entschwinden!« sagte ich.

Und sie: »Ich werde sie schon im Sinn behalten.«

Ihr nachdenkliches Köpfchen wurde in wenig Tagen ein wahrer Vorratsschrein.

»Wenn mir nichts zustößt,« dachte ich, »wenn diese Fruchtbarkeit anhält und wenn ich Glück habe, mit einem Wort, wenn das Schicksal mich nur machen läßt, so werde ich alle fremden Damen, welche die Mailänder Ausstellung besuchen, mit Genrebildern versorgen.«

Valens war ganz glücklich über meinen Enthusiasmus, und rief mir »bravo« zu, während er, aus meiner Pfeife rauchend, in meinem philosophischen Lehnstuhl saß und mir guten Rat gab, ohne daß es diesen Eindruck machte.

»Und du,« fragte ich ihn, »was wirst du jetzt machen?«

»Ich? Nichts,«

»Gedenkst du nicht, deinem Gemälde einen Nachfolger zu geben?«

»Ich habe ihm hundert in meiner Phantasie gegeben, einen immer schöner als den anderen. Aber ich fühle durchaus keinen Drang, mich ans Werk zu machen. Ich sehe diese Gemälde, gewiß ihrer hundert, alle schön, oder wenigstens gefallen sie mir – und damit genug. Früher oder später übrigens werde ich eins davon anfangen ... vielleicht morgen!«

»Da haben wir den Mann des ›Morgen‹!«

Anstatt zu antworten, fuhr er fort, Gestalten mit dem Rauch aus Meiner Pfeife zu bilden, und die »morgen« kamen und gingen.

Jetzt werde ich den Ursprung dessen erzählen, was als mein Meisterwerk gilt – denn auch ich habe ein verhältnismäßiges Meisterstück geschaffen, und alle können eines haben, frevelnde Maler, Bildhauer und Litteraten; von den großen, mittleren und kleinen Freveln, welche sie verübt haben, ist der kleinste – ihr Meisterwerk.

Es war an einem Novembervormittag, wo Valens meine Annetta und mich bewogen hatte, zum Frühstück zu ihnen hinunterzukommen. Er hatte mir etwas zu sagen, dessen war ich gewiß, um so mehr, als er bei dem Frühstück nichts sagte.

Am Schluß des kleinen Mahles äußerte ich: »Ich errate; du hast mir etwas mitzuteilen.«

»Du hast es erraten,« antwortete er, sonst nichts.

»Und ich kann mir denken, daß es sich um ...«

Eben in diesem Augenblick erhob sich Signora Chiarina, gab der Freundin ein Zeichen und beide verschwanden.

»Du hast ein neues Gemälde im Sinn.«

Diese Neckerei war absichtlich; ich wußte recht gut, daß er mit mir nicht von einem Gemälde zu sprechen hatte; ich riet fehl, damit er mich berichtigen möchte.

Er antwortete mir in gleichgültigem Ton, als wiederhole er auswendig gelernte Sätze: »Ein Gemälde anfangen heißt, es zu verderben beginnen; ein Gemälde vollenden heißt, es ganz zu Grunde richten. Wieviel Meisterwerke sind so dahingestorben, nachdem sie Monat für Monat unter dem Pinsel mit dem Tode gerungen haben ...«

Ich unterbrach ihn: »Deine Gedanken sind nicht bei dem, was du sprichst ...«

Und er: »Du hast recht, aber ich sage, was ich oft gedacht habe. Kommen wir zur Sache; ich bedarf deiner ganzen Freundschaft, um von dir den größten Dienst zu erbitten, den man von einem Menschen fordern kann: Ein Geheimnis zu bewahren,«

»Verzeih,« gab ich zurück, von der Feierlichkeit dieser Worte betroffen, »ist es wirklich notwendig, daß ich dir dein Geheimnis bewahre? Könntest du es nicht selbst bewahren? Ich bin neugierig, das gestehe ich ... bin sehr begierig darauf; aber die Regel ist doch, und es gibt auch ein Sprichwort, welches sagt, daß ...«

»Ich weiß, was das Sprichwort sagt; aber was ich dir mitzuteilen habe, besteht auf mir; ich kann es nicht für mich allein tragen; die Verantwortung ist zu schwer; wir wollen sie teilen ... Ist es dir recht? Du wirst mir einen Rat geben ...«

»Gewiß ...«

Aber in diesem Augenblick öffnete sich die Thür und meinen überraschten Augen bot sich das seltsamste Schauspiel; eine blütenweiße Dame, welche einen dunklen Schatten an der Hand hielt, nicht doch, ein schwarzes Ding, nein, ein lebendiges schwarzes Unding, mit ein Paar Augen von Porzellan in einem Gesicht von Kohle. Mein ganzer poetischer Bilderreichtum wurde herausgefordert; ich sah die Morgendämmerung und das Kind der Nacht; zugleich Proserpina, welche die Mama eines kleinen Balgs aus Plutos erster Ehe spielen muß; das verkörperte Mittagslicht, welches seinen verkürzten, entstellten Schatten hinter sich herzieht, und ich weiß nicht, was ich sonst noch alles in der Signora Chiarina mit dem kleinen Schornsteinfeger an der Hand sah. Die anmutige Frau mußte den Jungen mit einiger Anstrengung hereinzerren.

»Seht ihn an,« sagte sie, »seht ihn an, wie hübsch er ist; nur dieser dicke zerlumpte Kittel macht, daß er breiter als lang aussieht ... Ist er nicht wirklich allerliebst?«

Auch Annetta blickte ihn freundlich, halb mitleidig, halb verwundert an.

»Ja, gewiß, ein allerliebstes Kerlchen.«

Ich sagte nichts, weil ich eben in Gedanken mein Meisterwerk entwarf.

Nun ließ die Hausfrau ihre ein wenig taumelnde Beute los, und indem sie ihr Madonnenantlitz zu dem verschämten Gesicht des kleinen Bengels niederbeugte, fragte sie in einem Ton, welcher schon an sich eine Liebkosung war: »Sag einmal, wie heißest du?«

Das so befragte Männchen war ganz verwirrt; er hatte die Sprache verloren und fand sie erst auf die Verheißung eines schönen Weißbrotes wieder, welches er ganz allein haben sollte – etwas noch nie Dagewesenes, Unerhörtes!

»Sprich, wie heißest du?«

»Giovanni ...«

»Und weiter?«

»Battista ...«

»Giovanni Battista, wie noch?«

Schweigen.

»Eine liebe Mutter hast du doch?«

»Nein.«

»Einen Papa?«

»Nein.«

»Und wie alt bist du?«

Das schwarze Geschöpfchen kam allmählich zu sich; nicht die Pracht des Salons hatte ihn überwältigt, denn er war gewohnt, dergleichen zu sehen, aber diese freundliche Begegnung, diese Güte, dies an seinem Horizont auftauchende Weißbrot.

»Gehst du in die Schule?« fragte Annetta.

»Ja.«

»Und was lernst du?«

»Lesen, Buchstaben machen.«

»Kennst du das ›o‹?« fragte Signora Chiarina dazwischen.

Der kleine Freund bejahte es bescheiden.

»Wir wollen 'mal sehen ...« Sie nahm eine Zeitung, einen »Pungolo«. Der schwarze Gelehrte hatte sich nicht zu viel vermessen: er erkannte nicht nur beide »o« des Titels, sondern begrüßte auch das »u« als einen alten Freund.

»Du mußt sie aber alle kennen,« sagte Signora Chiarina, »gehst du gern in die Schule, und bist du fleißig? Sieh, wenn du zu Weihnachten alle Buchstaben kennst, so schenke ich dir einen Silberskudo und eine neue Jacke ...« und da sie sah, daß den Freund des »o« und »u« das Weißbrot mehr als alles andere reizte, so setzte die Signora hinzu: »Und Weißbrötchen ...«

»Recht viele?«

» So viele!«

O, diese reine Freude!

»Nun geh nach Haus. Du frierst nicht?«

»Nein ...« Und eilends lief er davon. Signora Chiarina und meine Annetta hinterdrein.

»Ich habe die Idee zu meinem Meisterwerk,« sagte ich heiter, »Venus hat Amor in der Kohlenkammer des Olymp gefunden und bringt ihn vor die tafelnden Götter; ein Genrebild, das sich an den Wänden irgend eines heidnischen Wohnungsparadieses vortrefflich ausnehmen würde.«

»Bravo!«

Ich sagte das im Scherz; in der That nahm ich mir vor, die eben erlebte Scene, wie sie war, darzustellen und sie zu nennen ...

»Venus und Amor!« schlug Valens vor.

»Angenommen.«

»Und wenn du meinem Rat folgst, so lässest du es, wenn es dir ganz fertig vor der Seele steht, für ewig dort, ohne es dir zu verderben, um es öffentlich auszustellen.«

Aber er verbesserte sich und sagte: »Doch nein, du sollst es vielmehr so bald wie möglich malen, für mich; sollst meine Chiarina, deine Annetta und mich hineinbringen; über den Preis werden wir schon einig.«

Unsere Frauen traten wieder ein, beide strahlenden Angesichts.

Signora Chiarina lief ans Fenster, öffnete es und sah mit Annetta hinaus. Und wir, die wir schweigend hinter sie getreten waren, ohne zu wissen was vorging, hörten plötzlich ein helles Stimmchen durch die Luft schallen und höher, immer höher steigen, über die höchsten Schornsteine hinaus.

»Es ist Giovanni Battista!« sagte Chiarina, »er springt davon, die Hände in den Taschen ... Jetzt ist er fort. Wie wenig gehörte dazu, ihn glücklich zu machen!« sprach sie, sich umwendend, und schloß das Fenster.

»Wird er zu Weihnachten wiederkommen, um sich den Skudo zu holen?«

»Er wird schon kommen!«

Wie himmlisch gut und anmutig war Signora Chiarina!

Annetta hatte wohl denselben Gedanken, denn einmal ums andere fiel sie der Freundin um den Hals und küßte sie wieder und wieder. Auch ich hätte es wie Annetta gemacht, wären nicht die verwünschten Schicklichkeitsrücksichten. Und ich sagte zu Valens: »Du mußt sie für mich küssen.«

Mich dünkt, es war nichts Schlimmes dabei, aber Valens lächelte verlegen und seine Frau wurde glutrot.

Dennoch that sie den ersten Schritt dazu; sie näherte sich, legte die Händchen auf die Schultern des Gatten, und indem sie sich auf den Fußspitzen erhob, drückte sie einen leichten, schüchternen Kuß auf seine Wange, so einen Kuß, welchen man nicht hört.


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