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Sechzehntes Kapitel.

Signor Salvioni spricht.

 

Als wir eintraten, stand Signor Salvioni mitten im Salon: er kehrte uns den Rücken zu und hielt den Kopf gesenkt; als er uns hörte, wendete er sich um, warf einen flüchtigen Blick auf uns, welcher mir lauernd oder furchtsam schien, und begrüßte uns, den Blick auf das Fenster gegenüber gerichtet.

Ich näherte mich ihm und versuchte zu lächeln und völlig unbefangen zu scheinen, schob ihm geräuschlos einen Sessel hin und lud ihn ein, sich zu setzen, worauf er sich schwerfällig niederließ.

Noch hatten wir kein Wort weiter vorgebracht, als Signor Bini, der wie angenagelt auf der Schwelle geblieben war, sich umwendete und zur Thür hinaus verschwand; allein zurückgelassen, begann ich: »Mein Herr, Sie sind ...«

Er schweigt, die Augen auf die Fensterscheiben geheftet.

»Sie sind,« fuhr ich fort, »der Signor Giuseppe Salvioni ... Sie sind es, der an Signor Nebuli geschrieben hat? ...«

»Ich habe an ihn geschrieben.«

Er fuhr fort, das Fenster zu studieren, ich fing an, ihn zu studieren. Mir fiel zunächst eine dicke Stahlkette ins Auge, deren Gewicht einen kleinen Schlüssel mehr als zur Hälfte aus seiner ausgeweiteten Brusttasche zog. – Und wie war mein armer Salvioni gekleidet! Ein Jackett von naturwidriger Farbe, von einem Stoff, welcher vielleicht ursprünglich – Gott weiß wann – für rein wollen verkauft worden, aus dem aber jetzt die wenige Wolle verschwunden war, welche der Fabrikant zur Entschuldigung seiner Lüge hineingewebt hatte; seinen Hals umschlang ein schwarzes Tuch, dessen häßliche Falten – gleichsam die schlechten Gewohnheiten des Tuches – es dem Gurt an einer Leichenbahre ähnlich machten.

Während ich diese Musterung anstellte, hub plötzlich Signor Salvioni, ungeduldig über mein neugieriges Betrachten, mit einer trockenen, nervösen, verdrießlichen Stimme an: »Ja, ich bin es, der den Brief an ihn geschrieben hat; ich habe auf seine Antwort nicht gewartet, weil ich seine Wohnung anderweitig erfuhr, und bin nun gekommen! Sie suchen durch die Zeitungen einen Salvioni; hier ist einer; machen Sie damit was Sie wollen –«

So sprach er, ohne die Augen vom Fenster zu verwenden, und ich fragte ihn halb erstaunt und halb bewegt: »Sie wissen nicht, um was es sich handelt? ... Dann also ...

»Dann also,« sagte er, »bin ich ein Abenteurer, ein Vagabund? Gewiß bin ich das, lassen Sie mich einsperren ... aber geben Sie mir etwas, um Brot für meine Kleine zu kaufen, die solchen Hunger hat.«

»Dann also?« ... wiederholte ich aufstehend, »freilich ... gewiß ... Sie sind ja nicht blond und haben auch keine Narbe auf der Stirn, Sie sind nicht Salvioni!«

»Entschuldigen Sie,« stotterte der Unbekannte, beruhigter durch den Ausdruck der Befriedigung, welchen er auf meinem Gesicht las, »entschuldigen Sie, ich heiße Salvioni, Giuseppe bin ich nicht, bin nicht blond, habe keine Narbe, aber wenn auch, mein Mädel ist doch so hungrig.«

Hier unterbrach sich der Aermste und blickte sich ängstlich um, und ich hörte ein unterdrücktes Geflüster hinter der Thür, die sich plötzlich öffnete.

Mit ungestümer Bewegung, als habe ihm jemand einen Stoß gegeben, trat Valens ein, und gleich darauf Signor Bini, und auf Freund Nebulis Ausruf »Er ist es nicht!« näherte sich auch Chiarina und Annetta. Signor Salvioni schien sich nach einem Ausweg zur Flucht umzusehen, dann versuchte er den neugierigen Blicken mit einer cynischen Miene standzuhalten, aber die Scham besiegte ihn, er ließ den Kopf auf die Brust sinken und weinte.

Sogleich umringten wir ihn alle.

Bis dahin wurde ich durch ein zwiefaches Verlangen gestachelt: Ich hätte den falschen Salvioni beim Ohr nehmen mögen, um ihn für die entsetzliche Furcht zu strafen, welche er uns bereitet hatte – ich hätte ihm einen Kuß auf die Stirn drücken mögen, um ihm für die unendliche Freude zu danken, welche sein Werk war; als ich aber jetzt den großen starken Mann wie ein Kind weinen sah und dachte, daß er vor Beschämung Thränen vergoß, welche ihm vielleicht das Unglück nicht hatte erpressen können, als sie ihm eine Linderung gewährt hätten – da verschwand mein Unwille unter einem aufwallenden Mitleid.

Auf Signor Binis, auf Valens' und meine freundliche Zusprache antwortete der Bedauernswerte nicht, sondern vergrub sein Gesicht in die Hände; da sagte ich zu Signora Chiarina: »Fragen Sie ihn, wie sein Kind heißt.«

»Haben Sie ein Kind? Und wie heißt es?«

War es die Musik dieses Stimmchens, welche seine Thränen trocknete, oder war es die Frage? Der Mann zog ein nichts weniger als weißes Taschentuch hervor, welches er in der Hand zusammendrückte, um dessen Schäden zu verbergen.

Dann erhob er den Kopf mit einer schmerzlichen Grimasse, welche wie ein Lächeln aussehen sollte, und sagte: »Ja Signora, ich habe ein Mädchen von neun Jahren ... sie heißt Angela.«

Wir schwiegen, und mit einem Blick, welcher unbeweglich sein Elend anstarrte, fuhr er fort: »Ja, Signora, ein Mädchen von neun Jahren, und ihr Name trügt nicht ... wie so oft. Bis vor zehn Monaten lebte ihre Mutter, der sie schon auf der Maschine nähen half; ich schrieb bei einem Advokaten und verdiente täglich beinahe zwei Lire – wir waren nur zu glücklich! Da wird meine Frau krank, sie liegt einen Monat danieder, wir geben unsere Ersparnisse für Arznei aus – sie stirbt. Die Kleine weint so viel, ruft nach der Mutter, wird auch krank – ich bleibe von dem Advokaten fort, um mein Kind nicht allein zu lassen; ich suche Abschreiberarbeit ins Haus zu bekommen – aber weil ich sie zu nötig brauche, kann ich keine finden. Und dann verkaufe ich heimlich die Kleidung der lieben Toten.«

Hier hielt Signor Salvioni sich verpflichtet, durch eine wiederholte Grimasse uns zu zeigen, daß er keineswegs weine, sondern im Gegenteil lächle. Dann sagte er mit demselben eintönigen Ausdruck: »Angela hatte eine große Freundin, ihre Nähmaschine – mit der sprach sie, streichelte sie zärtlich; sie sagte ihr, daß sie schneller oder langsamer arbeiten sollte, und wenn sie Stiche übersprang, so machte sie ihr Vorwürfe. War die Arbeit im Gange und sah Angela sie ohne Anstoß fortschreiten, so sang das Kind fröhlich. Erst nach den Kleidern der Verstorbenen, nach allen Sachen, welche mir überflüssig und auch nach manchen, welche mir unentbehrlich schienen, verkaufte ich eines Tages die Nähmaschine – da verschwand die letzte Freude aus unserer Behausung. – Angela versuchte mit der Hand zu nähen, aber weil sie es nicht recht verstand, zerstach sie sich die Finger und brauchte zu der Arbeit von wenigen Minuten eine Stunde voll Anstrengung und Thränen – sie verdiente nicht mehr ihre paar Soldi, die mir die Kleine froh und stolz erhalten hatten. Eines Tages hatte Angela Hunger – sie sagte mir es nicht, weil sie sah, daß es nutzlos war, und sie mich nicht betrüben wollte, aber ich erriet es ... weil auch ich Hunger hatte – ich lief zu all meinen Bekannten, zeigte ihnen mein Elend unverhüllt, das ich bis dahin so eifersüchtig verborgen hatte: ich kam mit ein paar Lire zurück, wir speisten. Ein andermal versuchte ich's wieder, aber ich hatte weiter nichts Neues vorzubringen, als daß wir noch immer hungerten ... Noch immer? – ach, das ist eben so schrecklich, daß man alle Tage Hunger haben kann – und keiner glaubt es mehr ... Mir fiel die Zeitungsanzeige ins Auge, mir kam ein Einfall – ich schrieb; als ich den Brief in den Kasten geworfen hatte, reuete es mich schon – ich dachte, daß dies lügnerische Blatt jemand eine trügende Freude oder einen unnützen Schmerz bringen werde ... anderen Tages ging ich nach der Post, um den Signor Nebuli zu erwarten ...«

»Ich verstehe,« unterbrach ich ihn, »Sie haben uns gesehen und sind uns gefolgt, um alles aufzuklären, um uns vielleicht aus einer grausamen Angst zu reißen.«

Signor Salvioni schüttelte mit bitterem Ausdruck den Kopf.

»Nein, nein ... ich hätte vielleicht bis morgen gewartet ... aber die Kleine hat auch heute Hunger ...«

Auch heute! Wie er diese beiden Worte sprach!

Chiarina und Annetta waren tief bewegt und wollten sogleich zu der Kleinen eilen.

Freund Nebuli zog die Brieftasche hervor, nahm einige wertlose Papiere heraus und legte das übrige in die zitternden Hände des Unglücklichen, der, nachdem er die erborgte Haltung abgelegt hatte, weiter nichts mehr konnte, als weinen – und Signor Bini nahm mir den Gedanken vorweg, welcher eben in mir aufstieg: der kleinen Angela ihre Freundin zurückzugeben, das heißt den armen Vater zu begleiten und eine Nähmaschine zu kaufen. In mir wurde der Gedanke wohl nur durch die Furcht zurückgehalten, daß mein Geldbeutel ihm nicht gewachsen sei. »Bravo!« sagte ich leise zu dem alten Herrn; »aber hören Sie, die Hälfte für die Maschine will ich bezahlen: Sie werden mir sagen, was Sie auslegen.«

Signor Bini sah mir lachend ins Gesicht – ich dachte, er sei wohl manchmal ein bißchen närrisch, denn was in aller Welt war dabei zu lachen?

Wir standen auf der Schwelle: Signor Salvioni lief schon, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinab, als Valens uns nachkam: »Ehe Sie die Maschine kaufen, denken Sie daran, daß die beiden Hunger haben.«

»Es ist wahr, und er muß groß sein,« sagte Signor Bini, »ich dachte nicht daran, weil ich ihn nie vor sechs Uhr spüre.«

»Um sechs Uhr werden Sie aber genug Appetit haben, um mit uns zu speisen? Sagen Sie nicht nein, Sie sind kein Fremder für uns: heute soll's einen Festtag geben, wir wollen fröhlich sein ... Sie kommen?«

»Ich komme, ich komme.«

Und kaum hatte Valens sich entfernt, so stieß der Alte einen langen Seufzer aus.

»Der Aermste! Wenn man nun denkt, daß dieser seelengute Mensch den Prozeß verloren hat!«

»Hat er ihn denn wirklich verloren?«

»Es ist drei Uhr ... keine Frage, daß er ihn jetzt verloren hat.«

Er ging die Treppe hinunter, um Salvioni einzuholen, ich kehrte beunruhigt zurück.

Aber Valens lachte so laut, und Signora Chiarina so anmutig, daß es mir unmöglich war, der Sorge auch nur fünf Minuten Raum zu geben, und ich sagte mir zum Trost, daß Signor Bini auf Scherze erpicht sei und sie nicht immer richtig wähle. Doch hätte ich wenigstens gern gewußt, ob dies wirklich der Entscheidungstag des Prozesses sei.

»Seid guten Muts,« sprach ich, »das ist nur eine Abzahlung auf künftige Freude; ihr werdet sehen, daß der selige Giuseppe euch nächstens sagen läßt, ihr möchtet Hochzeit halten, und daß wir auch die Quälerei mit dem Prozeß los werden.«

Aber Valens achtete nicht auf das, was ich sagte.

»Wann wird dein Prozeß verhandelt?« fragte ich nun.

»Morgen, glaube ich ... es wurde mir angezeigt, doch nein, heute ist die Verhandlung ... sie ist schon gewesen – in diesem Augenblick ist vielleicht alles beendet.«

Und er lachte von neuem, und ich wurde wieder nachdenklich.

Signor Bini brachte die erfreulichsten Nachrichten von dem kleinen Mädchen, das ein schönes Kind mit prachtvollen Augen, von Signor Salvioni, der in der That rechtlich und unglücklich sei, von ihrem wunderbaren Appetit und von der Nähmaschine, eine von Elias Howe mit Doppelstich.

Welch Geplauder bei Tische! Welch Lachen! Wieviel Gläser wurden geleert! Nur unter meinem Geschwätz gingen meine Gedanken fort, und mein Lachen hatte einen Dämpfer, und in den Gläsern, welche die allgemeine Heiterkeit mir einfüllte, war der Bodensatz einer quälenden Sorge. Aber das alles nur anfangs; beim Dessert lachte auch ich, von der frohen Stimmung durchdrungen, aus vollem Halse, entfesselte auch ich all die lustigen Ein- und Ausfälle, welche mir auf die Zunge kamen.

Einen davon schleuderte ich Signor Bini ins Gesicht – einen, von dem ich meinte, er müsse ihn unter den Tisch hinstrecken,

»Der arme Salvioni,« sagte ich, »wie er sich schämte, einen falschen Namen angenommen zu haben! Wie rein muß seine Seele sein! Er ist Schreiber bei einem Advokaten gewesen, und hat sich nicht mit Tinte befleckt!«

Natürlich sah ich Signor Bini dabei an, und Signor Bini sah mich an, und lachte, und lachte! Beneidenswerte Frechheit!

Gerade beim letzten Anklingen der Gläser ging die Thür auf, und die Art, wie sie sich öffnete, sagte mir, daß sie eine schlimme Nachricht einließ.

Marco erschien, der gewaltige Marco, den ich schon seit dem Zwischengericht junger Schoten immer beim Vornamen angeredet hatte; er überbrachte einen Brief …

Valens öffnete ihn, las ihn, stotterte heraus, daß es ein Scherz sei, las ihn nochmals – ich war aufgestanden.

»Gehen Sie nur,« schlug ich Marco vor, der neugierig stehen blieb.

»Geh nur,« wiederholte Valens, »es ist nichts,« sagte er dann mit heiterer Stimme, »mein Rechtsanwalt schreibt mir, daß wir den Prozeß verloren haben, daß wir auf Kassation antragen werden, daß wir vierzehn Nichtigkeitsgründe anzuführen haben.« Man glaube nicht, daß er Komödie spielte; er sprach, wie er es ansah, und da niemand antwortete, drang er in uns: »Seid guten Muts! Das richtet uns noch nicht zu Grunde! Ich werde arbeiten. Und zunächst werde ich den ›Schaum des Meeres‹ verkaufen. Nicht wahr, Signor Bini?«

Man wird nun meinen, daß Signor Bini sich vergnügt lachend die Hände gerieben habe: auch ich erwartete es, aber dieser Mann widersprach immer meinen Erwartungen; er sagte nur gleichgültig: »Gewiß!« und fing von etwas anderem an.

»Wir werden noch erleben, daß es ihm leid geworden ist,« sagte ich später zu Annetta.

» Sein größter Schade; der ›Schaum des Meeres‹ wird auch ohne ihn einen Käufer finden.«

»Hast du beobachtet,« setzte ich hinzu, »wie ruhig Freund Nebuli bei der Ankündigung seines Unglücks blieb ... Und was schließest du daraus?«

»Daß er es nicht zu schwer empfand, zu verlieren ...«

»Und weißt du weshalb? ... weil seine Freude zu groß war; morgen wird er mit schmerzlicherem Gefühl daran denken ... Und welche philosophische Maxime geht daraus hervor?«

Annetta sah mich mit einer diskret schalkhaften Miene an, welche ich sehr gut verstand. Und ohne im geringsten durch die darin liegende Anspielung beleidigt zu sein, setzte ich hinzu: »Dies geht daraus hervor, daß es Freuden gibt, welche das Geld nicht gewähren, und Freuden, welche das Geld nicht rauben kann.«

»Und doch kann es dankenswerte gewähren,« bemerkte Annetta, »wie du an Salvioni gesehen hast!«

Und ich, einmal im Zuge, fuhr fort: »Ganz gewiß! Und welche weitere praktisch-philosophische Lehre geht daraus hervor?«

»Sprich sie aus und höre dann auf, denn ich bin schläfrig.«

» Die Lehre, daß man das Geld nicht mit der Freude und dem inneren Glück verwechseln, sondern nur dann schätzen soll, wenn es Freude und Glück bereitet, und daß man es diesem einzigen Zweck dienstbar machen soll.«

»Bravo, gute Nacht!«


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