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Vierzehntes Kapitel.

Signor Salvioni schreibt.

 

Wer hat doch gesagt, daß es unmöglich sei, unsere Nebenmenschen in großen Freuden oder in großen Schmerzen richtig kennen zu lernen? Irgend jemand hat es gesagt, und ihm entgegne ich, daß es gerade in der Erregung der Leidenschaft, und nur in ihr möglich ist, den Nächsten kennen zu lernen und zu beurteilen. Sieh den Alltagsmenschen an: eine von der Schicklichkeit, der Zurückhaltung, der Gewohnheit geglättete Oberfläche: betrachte ihn durch das Vergrößerungsglas eines Schmerzes, einer Freude, einer Furcht, eines Verdrusses, und sogleich wird, was glatt erschien, uneben. Wohlverstanden, man muß zu sehen wissen, weil ein Brot, durch das Mikroskop gesehen, zum Berge wird, darf ich deshalb nicht urteilen, daß es aufgehört habe, ein Brot zu sein.

Als ich Valens' große Sorge vor Augen hatte, da erkannte ich zum erstenmal, wie durch eine Vergrößerungslinse, das Geheimnis seiner unentschlossenen, nachlässigen und träumerischen Art. Sein Wesen zeigte sich in solcher Uebertreibung, als sei er ganz verwandelt; seine Indolenz, aus der er mit nervöser Plötzlichkeit heraustrat, wurde mir zur Apathie, der ihn zornige Aufwallungen, Anfälle von Zärtlichkeit, von Streitsucht und Halsstarrigkeit entrissen; früher war er zu Neckereien aufgelegt, jetzt oft beißend; nicht mehr bloß eigentümlich, sondern wunderlich; kurz zackig, rauh wie eine Alpe auf der Oberfläche, und doch der Substanz nach dasselbe gute Brot, derselbe treffliche Mensch.

Sein schwerer Kummer war es, welcher ihn mir so verwandelte; und wenn ich mich jemals freute, ein wenig Philosoph zu sein, so war es in jenen Tagen stummer und grausamer Angst. Jeden Morgen kam er, um mich abzuholen, wollte es aber nicht sagen; und ich that, als sei ich eben im Begriff auszugehen, oder erinnere mich plötzlich eines wichtigen Geschäftes, das mich dazu bestimmte – so konnte ich ihn wenigstens begleiten.

Ohne es mit einem Wort zu erwähnen, verstand sich von selbst: wir gingen nach der Post. Er war es, der an den Schalter trat, um »Nebuli« zu fragen, ich war es, welcher die Briefe in Empfang nahm und durchsah. »Dieser ist aus Rom, dieser aus Neapel, der aus Turin ...« Er machte mir ein Zeichen, daß ich sie öffnen solle; ich that es; »dieser fängt an: Lieber Valens! und ist Serpoli unterzeichnet – dieser hier sagt: Hochgeehrter Herr, und ist unterschrieben u. s. w.« Dann nahm er seine Briefe, sah sie mit einem Rest von Furcht aus einiger Entfernung an und steckte sie gleichgültig ein ... Ein wenig, aber sehr wenig gesprächiger als vorher gingen wir nach Hause »auf morgen! auf morgen!«

Wenn ich ihn fragte: »Was hast du heut den Tag über gethan?« so antwortete er mir: »Was soll ich thun? ... Nichts.«

»Ich will dir sagen, was du gethan hast; – du hast dich gemartert, hast gelitten, sprich die Wahrheit.«

»Nun ja, ich habe mich gemartert; es ist doch etwas, und ich weiß nichts anderes zu thun; ehe dieser unselige Brief nicht ankommt, der doch kommen muß ...«

»Und als du den Brief nicht erwartetest, war der Prozeß ...«

»Er ist noch da.«

»Und als der Prozeß nicht war, erwartetest du die Erbschaft ...«

»Damals hatte ich meine fünfundzwanzig Jahre, die ich nicht mehr habe, ich erwartete die Dreißig und jetzt habe ich die nicht einmal mehr – ich erwartete die Zukunft.«

Indem ich mich zwang, nicht in einen feierlichen Ton zu verfallen, erwiderte ich: »Die Zukunft, mein Valens, ist der größte Feind der Gegenwart, und ist ein gefährlicher Feind, weil er uns schmeichelt, weil er sich versteckt – man muß sich mit der Zukunft auf freundlichen Fuß setzen oder sie in seine Gewalt bringen.«

»Und wie erreicht man das?«

»Indem man arbeitet.«

»Bist du dessen gewiß?«

In Wirklichkeit war ich dessen nicht gewiß, denn nicht immer versöhnt oder bewältigt man die Zukunft, auch wenn man arbeitet; aber gelingt es auch nicht, so bleibt doch der Trost ... der Leser weiß, welcher – aber ich langweile ihn und breche ab.

Ich sagte mir: »Wenn Valens den Prozeß gewonnen oder verloren hat, wenn die Erbschaft ihm gesichert und Chiarina zurückgegeben ist – oder umgekehrt, dann wird er vielleicht etwas mehr Ordnung in seine Gedanken bringen und sich nicht mehr von der Zukunft foppen lassen.« So sagte ich mir, aber ohne zu großes Vertrauen darauf zu haben.

Eines Morgens erhielten wir am Postschalter eine größere Anzahl Briefe; aus Gewohnheit, aus keinem anderen Grunde hatte ich sie in Empfang genommen, denn nach so viel unnützer Furcht fing Freund Nebuli an Mut zu fassen und hätte ganz gut meines Beistandes entraten können.

Ich hatte einen burlesken Ton angenommen und mit einer näselnden Feierlichkeit, durch die ich Valens vielleicht noch ein Lächeln abzugewinnen hoffte, las ich: »An den gefeierten Maler Valens Nebuli ... Sampierdarena, 20. November ... von einem, der dich verführen will, ihm den ›Schaum des Meeres‹ zu verkaufen. Wenn du dich diesmal nicht verleiten läßt, so werden wir dich als Merkwürdigkeit unter eine Glasglocke stellen ... rate, was er dir bietet ... tausend Lire ... und wenn es nötig ist, mehr – aber natürlich hofft er, daß es nicht nötig sein wird ... Was sollen wir dem Signor Campori antworten? ... Wir wollen ihm schreiben, daß er in Sampierdarena ein weit gelungeneres Meer als deines vor Augen hat ... das solle er sich einrahmen lassen: es wird ihn weniger kosten ...«

Valens lachte.

»Dieser ist von jemand, der einen gewissen Salvioni gekannt hat ... einem Brescianer Studenten der Medizin in Pavia ... ›er hatte damals noch keine Narben,‹ sagt er ... ›mag sie sich aber später geholt haben ... ‹ er stellt die ›Belohnung‹ deiner Großmut anheim ... dieser andere ...«

Aber hier stieß ich auf ein Hindernis im Weiterlesen, auf ein gewaltiges. Ich traute meinen Augen nicht, und las von neuem ... ich lachte nicht mehr.

Dieser Brief lautete: »An Signor V. Nebuli – postlagernd – Mailand.«

»Sehr geehrter Herr! Wenn Giorgione tot ist, so thut mir das sehr leid, denn er war gewiß besser als viele, die noch leben: man wolle mir sagen, wann und wo ich die Person treffen kann, welche Nachricht über Giuseppe Salvioni wünscht: ich kann derselben authentische geben, da ich Giuseppe Salvioni selbst bin. Bitte, postlagernd zu schreiben – Mailand.«

Sicherlich las Valens die schlimme Kunde auf meinem Gesicht, denn ohne ein Wort zu sagen, nahm er mir den Brief aus der Hand und sah mich mit einem bitteren Lachen an.

»Da haben wir's endlich,« stammelte er, »nun, desto besser, die Posse hat schon zu lange gewährt.« Er faltete den Brief, ohne ihn zu lesen, steckte ihn ein und machte sich, nachdem er den Ueberzieher zugeknöpft hatte, mit großen Schritten auf den Weg.

Da ich nicht wußte, was ich ihm sagen sollte, ging ich schweigend neben ihm her. In Valens' Schritt, in der Art, wie er sich aufgerichtet hielt und vor sich hin sah, lag eine eigentümliche Energie – es war die der Verzweiflung.

Plötzlich blieb er stehen, zog den Brief hervor, las und wurde bleich.

»Er ist hier, in Mailand! Ach, arme Chiarina!«

Und seine falsche Energie löste sich.

»Höre mich an,« sagte ich bewegt, »es ist noch nicht alles aus, vielleicht gibt es ein Mittel ...«

»Ein einziges ... fliehen ... die Rollen tauschen: so daß ich der Schuldige bin, er der Reine ist ... nein, nein, komm ich erwarte ihn!«

Aber seine Stimme bebte bei diesen letzten Worten.

»Du wirst ihm schreiben?«

»Ja.«

»Wirst ihm alles gestehen?«

»Ja.«

Es war nicht der Augenblick, um ihm zu sagen, was ich dachte, aber mich dünkte, er sei damit auf dem Wege, den schlimmsten aller dummen Streiche zu begehen, und ich nahm mir vor, es ihn später mit Händen greifen zu lassen.

Signora Chiarina kam uns entgegen und blickte uns fragend an. – Valens besaß die Kraft, zu lächeln, um sie zu täuschen, aber das herzige Frauchen las mit den Augen der Liebe, und forschte weiter in unseren Blicken.

Endlich sprach sie: »Er lebt, nicht wahr?«

Und da keiner antwortete, sagte sie vor sich hin: »Ach, Valens?« und blieb unbeweglich mitten im Zimmer stehen, die Augen weit offen, starr und thränenvoll.

Plötzlich drückte Valens seinen Kopf in die Hände und eilte hinaus, um mir seine Thränen zu verbergen. Ich sah die Thür an, hinter welcher er verschwunden war, die von einem Sonnenstrahl heiter erleuchteten Fenster, dann Signora Chiarinas bleiches Gesichtchen, ihre weitgeöffneten, starren, von Thränen erfüllten Augen. Ich fühlte, daß ich mich ihr nähern müsse, und that es, aber kein Wort des Trostes ward mir eingegeben. Endlich nahm ich eine ihrer Hände, welche sie mir ohne Widerstand ließ.

»Wenn Ihr wüßtet, wie wir uns ›geliebt haben‹ ...«

Nichts weiter sagte sie; dann trocknete sie die Augen, zog sanft ihre Hand aus der meinigen, und mit einem Blick sich entschuldigend, ging sie meinem armen Freunde nach, um ihm den Trost ihrer Liebkosung zu bringen.

Und ich folgte ihr wie betäubt.


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