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Mehmed Ali

Eine Erzählung aus dem Orient

Spät am Abend erst kam in das kleinasiatische Städtchen, bei dem Mehmed Ali wohnte, die Nachricht, daß sich am andern Morgen die Redifs, die Landwehrleute zwischen fünfundzwanzig und dreißig fahren, zum Kriegsdienst zu melden hatten. Sie traf ihn gerade noch, als er im Begriff war, mit einem neu gekauften Strick für sein Maultier und mit einer Oke Salz, die er beim Krämer erstanden hatte, nach Hause zu gehen. Er war etwas länger im Städtchen geblieben, weil es sehr schwül war und er den weiten Heimweg von zwei Stunden erst in der Abendkühle antreten wollte. Da packte ihn, als er einen letzten Trunk am Brunnen auf den Marsch mitgenommen hatte, das Aufgebot, das von einem Trommelschläger und einem Gendarmen in den Straßen verkündet wurde.

Mehmed Ali war sechsundzwanzig fahre alt, mithin an der Reihe auszurücken. Als ihm nach ein paar Fragen an die herumstehenden Städter die Sache eingegangen war, wurde er traurig wie nie zuvor. Er machte sich hurtig fort und atmete erst wieder auf, als er die letzten Häuser hinter sich hatte. Über die Maisfelder, durch die er nach Hause schritt, warf der Mond sein stilles rötlichgelbes Licht. Das rastlose Zirpen der Grillen, das nächtliche Uhrticken der Natur, begleitete den armen Teufel, der auf seinen mit braunem Leinentuch umwickelten Füßen lautlos der Heimat zuhastete. Er war Gärtnergehilfe bei einem reichen armenischen Pächter in der Umgebung des Städtchens. Seine Hauptbeschäftigung war, für die Bewässerung der Gärten seines Herrn zu sorgen. Das tat er mit Hilfe seines blinden Maultieres, für das er den neuen Strick mitbrachte, weil der alte, der nur noch aus Knoten bestand, nicht mehr halten wollte. An diesem Strick hatte das Maultier seit Jahren die Wassermühle, die den heißen Durst der Gärten zu stillen hatte, im Kreise herumgedreht, bis es blind geworden war.

Aber dies blinde Tier, das sein Herr, weil er selbst es zu nichts anderm mehr gebrauchen konnte, ihm gnädigst geschenkt hatte, war nicht der einzige Besitz Mehmed Alis. Er war seit zwei Jahren verheiratet, hatte ein Kind und erwartete mit Hattidsa, seiner Frau, bereits in den nächsten Wochen ein zweites. Die Gedanken darüber, was aus den Seinigen werden sollte, wenn er für den Sultan in den Krieg gegangen war, zogen wie die Sterne zu fernen Häupten mit ihm. Ebenso tausendfach verschlungen und verwirrt, wie jene dort oben zusammenhingen, versponnen sich in seinem Kopf die Sorgen und die Möglichkeiten, aus ihnen herauszukommen, die er übersann. Er erwachte aus diesem Hin- und Herbrüten erst, als er mit seinen dünn umwickelten Füßen durch den kühlen Tau des Wiesenlandes schritt, das um die Gärten lag, in denen er Dienst tat. Ein paar graue Kühe lagen still wie Hügel in der Nacht auf der Weide.

Mehmed Ali schritt auf seine Hütte zu, die sich, um ihr eine Wand zu sparen, dicht an die hohe Mauer lehnte, die um den Garten lief. Als er hineingehen wollte, stieß er auf eine schwarze Gestalt. »Hattidsa!« rief er, weil er dachte, seine Frau hätte ihn, wie schon manches Mal, auf der Schwelle kauernd erwarten wollen und sei dabei eingenickt. Aber das Wesen, das setzt erschrocken aufgesprungen war, glich seiner geliebten zarten jungen Frau nicht im geringsten. Es war eine alte häßliche verhutzelte Zigeunerin, die über Land strich und sich vom Wahrsagen oder Stehlen nährte. Mehmed Ali wollte sie wie ein Unglück von seiner Schwelle jagen, als Hattidsa aus der Hütte trat. »Laß sie doch hier liegen über Nacht!« bat sie den Mann. »Sie hat mir soviel Schönes prophezeit. Zehn Kinder werd' ich noch bekommen, und reich soll ich werden, hat sie gesagt.« Er knurrte vor sich hin. Aber da ihm einfiel, daß er das Gastrecht, das dem Orientalen heilig ist, nicht verletzen dürfe, machte er mit der Rechten eine Bewegung, durch die er die scheußliche alte Zigeunerin einlud, sich auf dem Türsitz, auf dem sie gehockt hatte, aufs neue niederzulassen. Dann ging er mit seiner Frau in seine Hütte hinein und erzählte, was er erfahren hatte. Hattidja wurde noch trauriger als er, als sie von der Aushebung hörte. »Aber du brauchst es ja gar nicht verstanden zu haben! Du brauchst es ja gar nicht zu wissen!« wiederholte sie immerzu als einzige weibliche Kriegslist, die ihr eingefallen war. Doch Mehmed Ali schüttelte mit dem Kopf: »Davon verstehst du nichts. Der Sultan hat mich gerufen. Darum muß ich gehen.«

Sie überlegten dann noch die halbe Nacht zusammen, was geschehen sollte, wenn er fort wäre, und kamen überein, daß sie am besten den Pächter bitten müßte, die Arbeit, so gut es ging, für ihren Mann tun zu dürfen, solange er draußen den Krieg mitmachen müsse. »Wenn unser neues Kind kommt, soll er dir drei Tage Ruhe geben! Mach' das mit ihm aus, hörst du!« Hattidja hörte nicht mehr. Sie war vor Kummer und Erschöpfung eingeschlafen und schlummerte so sanft und friedlich wie das kleine Knäblein, das wie ein Vogel in der bunten Wiege zwischen ihrem einzigen Fenster hing. Mehmed Ali begriff erst gar nicht, wie einer dicht neben ihm so ruhig schlafen konnte wie Hattidja. Aber dann sagte er sich, daß sie ganz recht getan hatte, einzuschlummern. Ihr Schicksal war schon von ihm getrennt. Sie brauchte sich nicht mehr um ihn zu kümmern. Er starrte, dies bedenkend, mit offenen Augen vor sich hin, bis die Scheibe an dem Fenster einen dünnen grauen Schimmer bekam. Da erhob er sich sacht und trat vor die Hütte hinaus. Dabei stieß er fast wieder auf das alte Weib, das sich bei der Kühle der Nacht wie eine Katze in den Türwinkel zusammengerollt hatte. Die Worte seiner Frau von gestern abend fielen ihm wieder ein, und er bekam plötzlich Luft, sich auch die Zukunft verkünden zu lassen. »Da!« sagte er und hielt seine verarbeitete braune Hand der Zigeunerin hin. »Gib dein Schlafgeld und sag' mir, was mir bevorsteht, Mütterchen!« Sie hatte sich den Schmutz aus den Augen gerieben und ergriff mit fachkundigem Ausdruck seine Hand. Die Nacht war vorbei, und die armen Leute hier konnten ihr nicht mehr nützen. Darum durfte sie schon etwas kühner und ungünstiger prophezeien. »Aih weh!« machte sie und schaute auf die Lebenslinie in seiner Hand. »Wie kurz ist der Strich! Viel zu kurz! Schlimm zu kurz!« Sie blickte nach ihrer Gewohnheit zu ihm auf und sah, wie er düster die Stirn ballte. »Man darf nicht zu weit gehen bei dem! Sonst schlägt er einen noch mit der Faust, aus der man ihm etwas vorschwätzt!« dachte sie und beugte sich hastig wieder über seine Rechte, die sie ängstlich festhielt. »Aber hier!« rief sie und starrte mitten in die Handwurzel. »Hier steht Gutes. Sehr Gutes, schön Gutes. Wirst noch ein großes Glück erleben zuvor. Siehst du hier, mein Sohn!«

Wütend riß er ihr die Hand weg. Er ärgerte sich plötzlich darüber, daß er sich, bevor er ausrücken sollte, wie ein Hasenherz noch wahrsagen ließ, statt wortlos seine Pflicht zu tun. »Sag' meiner Frau, ich sei gegangen«, herrschte er die Alte an. »Und sie soll alles machen, wie ich's gesagt habe!« Damit ging er schnell von dannen. Er wollte keinen Abschied mehr nehmen. Das hätte ihn nur noch trauriger gemacht. Er schritt, ohne sich umzuwenden, hastig an den grauen Kühen vorbei, die mit gesenkten Köpfen jetzt auf der Wiese standen und das Gras abrupften. Die Grillen waren verstummt. Aber ein paar Feldtauben, die zwischen den Maisstauden herumhüpften, flogen auf, als er spornstreichs an ihnen vorüberging.

Mehmed Ali war unter den ersten Landwehrleuten, die sich im Städtchen einfanden, trotzdem er den weitesten Weg gehabt hatte. Doch nun begann noch ein endlos langes Warten, da sie zunächst abgezählt, aufgeschrieben, bekleidet und ausgerüstet werden mußten. Das ging mit großer Umständlichkeit und türkischer Langsamkeit vor sich, so daß Mehmed Ali, der geglaubt hatte, sie wären sofort ausgerückt, über dem stundenlangen Warten ein unermeßliches Heimweh nach seinem Haus und nach seiner gewohnten Tätigkeit verspürte. Wenn er wenigstens Abschied von seiner Frau und seinem Kind genommen hätte, statt sich derart zu beeilen, hierherzukommen, wo es doch vor Nachmittag nicht weiterging. Nicht einmal das gute blinde Maultier hatte er mehr aufgesucht und auf die Mähne geklopft und ihm den neuen Strick vermacht. Das Heimweh steigerte sich unter solchen Gedanken und Gefühlen so sehr in ihm, daß er schließlich zu dem caus, dem Feldwebel, ging und ihn fragte, ob er noch einmal in einer sehr wichtigen Sache nach Hause eilen konnte.

»Belästige mich nicht! In zwei Stunden fährt der Zug für uns ab.«

»In zwei Stunden bin ich wieder hier, caus

»Mach' das meinem Kalpak weis! In zwei Stunden kommst du gerade vor deiner Hütte an! Ich bin auch aus der Gegend.«

»In zwei Stunden will ich wieder hier sein, caus

Mehmed Ali sah den Feldwebel so treuherzig und zugleich so bittend hierbei an, daß dieser, der eine Seele von einem Menschen war, es ihm nicht versagen konnte. »Mach', daß du fortkommst! Du hast ja Beine wie ein Pferd. Aber bedenke, gleich nach dem Mittagsgebet geht es los. Bring' mich nicht in die Patsche, hörst du!«

Mehmed Ali sauste wie ein Habicht davon. An den Maisfeldern vorüber, die im Strahl der Morgensonne reiften, bis zu der Wiese, auf der die grauen Kühe standen und das Gras wiederkäuten. Hier angekommen, ward er ruhiger. Er hatte mindestens eine halbe Stunde Zeit, seine Frau und das Kind wiederzusehen und von ihnen Abschied zu nehmen. So gerannt war er. Leise näherte er sich seiner Hütte, während sein Herz von dem Laufen wie ein Vogel unter seiner breiten Brust herumhüpfte. Die Tür zu seiner Hütte stand offen und leer. Die Zigeunerin war längst zum Betteln und Stehlen weitergezogen. Seine Frau war offenbar mit dem Kind zum Pächter gegangen, um ihm seinen Abschied und alles andere mitzuteilen.

Mehmed Ali scheute sich, diese wichtige Unterredung zu stören und in den Garten zu treten. So stieg er denn behutsam, um nicht gehört noch gesehen zu werden, auf das Dach seiner Hütte, weil man von oben in den Garten blicken und lauschen konnte. Es war ein eigentümliches Gefühl für ihn, wie er, um das dünne gebrechliche Dach, das meist nur aus den im Orient allbekannten glattgewalzten Petroleumblechdosen bestand, nicht zu beschädigen, leise wie ein Geist auf seine eigene Hütte kletterte. Ganz vorsichtig streckte er oben seinen Kopf über den Rand der Mauer. Da sah er unten im Garten Hattidja, seine Frau. Sie führte an dem neuen Strick das blinde Maultier, das geduldig wie immer im Kreise herumlief und die Wassermühle drehte. Das Kind hatte die Frau auf das Maultier gesetzt. Es hielt sich mit beiden Händen an der dünnen Mähne des Tieres fest und krähte vor Vergnügen seine Mutter an, die neben ihm herging. Unter den Sykomoren in ihrer Nähe stand der Pächter. Er legte eine hölzerne Wasserrinne zu den Kürbissen, hatte also stillschweigend schon einen Teil von Mehmeds Arbeit mit übernommen. Ab und zu blickte er auf und nickte der Mutter und dem Kind behaglich zu.

Lange starrte Mehmed Ali über die Mauer dies an: Ganz deutlich nahm er alles wahr bis auf das schwarz übermooste alte morsche Mühlenrad und den gebleichten weißen Kuhschädel, den er als Vogelscheuche dort an den Feigenbaum gehängt hatte. Wie in einem klaren Spiegel sah er das Leben, das er geführt hatte, vor sich. Nur er selbst war daraus weggewischt. Und plötzlich fiel ihm ein, was ihm die alte häßliche Zigeunerin heute früh gewahrsagt hatte, daß er noch ein großes Glück erleben würde. Das war es, was er dort vor sich sah. Das war das große Glück, daß er dies noch einmal vor sich schauen und empfinden konnte, dies sein früheres Dasein, an dem er nun keinen Anteil mehr haben durfte. Was lag daran, daß es nicht mehr länger dauern sollte, daß es sich nicht weiter im Kreise drehte von morgens bis wieder morgens wie dort das blinde Maultier, das die Mühle trieb? War nicht alles schließlich immer nur ein Augenblick? Hing nicht das ganze Leben nur wie ein Punkt in der Ewigkeit oder wie ein fliegender Vogel, den man nie fangen konnte? Kann es nicht fort und fort dahin wie das Wasser, das dort aus dem Brunnen kam und wieder zur Erde lief? War es nicht gleichgültig, ob es jetzt stehen blieb oder nach einer Reihe von Jahren? Hatte es viel zu bedeuten, wann man Abschied nahm von diesem Dasein, heute oder nach einem Knäuel von Tagen und Nächten, das sich über kurz oder lang doch zu Ende spann?

Da stieß die Zeit den armen Mehmed Ali aus seinen Gedanken über ihre Unendlichkeit, in die er sich angesichts des Bildes dort im Garten verirrt hatte. »Du mußt fort!« sagte sie zu ihm. Und leise, ohne daß ihn jemand hörte, sprang er mit seinen umwickelten Füßen von dem Dach seiner Hütte herunter. Nicht mit einem einzigen Wort nahm er von den Seinigen und seinem bisherigen Leben Abschied, wozu er doch hergekommen war. Er rannte und raste, von einer übermächtigen Gewalt wie ein Nachen vom Katarakt angezogen, zum Städtchen zurück. Die grauen Kühe auf der Weide blickten ihm erstaunt nach, als er an ihnen vorüberjagte. Die Tauben, die über den Maisfeldern schwirrten, konnten ihn nicht überholen, so flog er dahin. »Hier nehmt mich! Hier bin ich!« rief er schon von weitem dem Feldwebel zu, der nach ihm ausgeschaut hatte, und reihte sich jubelnd und kampfesselig in die Schar der andern, die sich anschickten, für den Sultan zu siegen oder zu sterben.


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