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Korporal Petit

Das ist doch das Tollste, was sich in diesem ungeheuerlichen Krieg, der noch Jahrhunderte in Schrecken setzen wird, zugetragen hat, daß ein Toter noch einen getötet hat.

Wieso? Als Geist oder als Gespenst? Ach, ich verstehe, das ist wieder eine deiner Schauergeschichten, mit denen du die Menschen bangemachen willst.

Nein, als leibhaftiger Toter mit seinem eigenen harten Knochengerüst, sag' ich.

Da sieht man's: Ammenmärchen, die großen Kindern das Gruseln beibringen sollen, bloße wilde dichterische Phantasieausgeburten!

Hört nur erst zu, wie es geschah! Es war der Korporal Jean Petit, der es verübt hat. Das ist ein Patriot gewesen, wie es selbst in Frankreich wenige gab. Er war im Jahre 1870 bei Sedan trotz tapferer Gegenwehr gefangen genommen worden. Bis zum letzten Augenblick hatte der Kerl noch mit seinem Revolver herumhantiert. Seine Gewehrmunition war längst verschossen. Heutzutage hätte man den Ruppsack schlankweg über den Haufen geknallt, der sich so hartnäckig seiner Haut gewehrt. Aber damals war man noch mild und großmütig gegen Leute, die ihre Freiheit nicht wohlfeil hergaben, hatte durchweg auch noch mehr Achtung vor dem einzelnen. Und so fiel er in deutsche Gefangenschaft, in der er bis zum Ende des Krieges verblieb.

Seitdem litt er sein Leben lang an dem tückischen Gefühl einer unterbundenen Kriegslust. Seine kurze Laufbahn als Soldat war viel zu früh abgeschnitten. Er trug einen seelischen Defekt davon und kam sich innerlich wie gelähmt vor. Die Erinnerung an sein jäh abgebrochenes kriegerisches Leben schmerzte ihn wie eine nie vernarbende Wunde, die nicht aufhören will zu eitern und zu brennen. Gleich einem Bankrotteur, den es immer wieder treibt, über den Zusammenbruch seines Vermögens zu grübeln und sich mit Gedanken zu quälen, ob das Verhängnis nicht zu vermeiden gewesen wäre, plagte sich der Korporal Petit unaufhörlich mit Selbstvorwürfen oder mit Anklagen gegen das Schicksal, das ihm so etwas angetan hatte.

Den einzigen Trost gegen diese peinlichen fruchtlosen Betrachtungen fand er in der unbedingten Hingabe an die große patriotische Nationalbewegung seines Landes. Schließlich hatte ganz Frankreich ja das gleiche Geschick durchzumachen wie er. Die Schmach, die seinem Volk durch seine Niederlage angetan war, stak wie ein Pfahl im blühenden Fleisch des stolzen Frankreichs und brachte das freie geistige Leben immer wieder ins Stocken. Man brauchte nur das Wort »Sedan« auszusprechen, gleich sank das gesamte Frankreich wie eine Trikolore bei Windstille schlaff zusammen. Darum war der Korporal Petit nur eine Stimme, die den gemeinsamen Klagegesang widerhallte, den sein ganzes Volk nicht müde ward, in ewiger Eintönigkeit um das geschändete Frankreich und um die beiden verlorengegangenen Provinzen immer aufs neue zu erheben.

Und auch den Racheschrei! Den galt es nicht minder unablässig zu wiederholen und die glühende Hoffnung auf den Tag, da man dem verdammten Feind die erlittene Schmach blutig heimzahlen konnte. Mit dieser Hoffnung empfing man damals das neugeborene Kind in Frankreich: »Du wirst uns helfen, uns an den Preußen und Deutschen zu rächen!«, mit ihr geleitete man die Toten Frankreichs zu Grabe: »Schade, daß ihr den baldigen Tag der Vergeltung nicht mehr erleben konntet!« In solchem Geist betätigte sich der Korporal Petit als einer der Allereifrigsten. Jedesmal, wenn er aus fernem Städtchen im Osten Frankreichs nach Paris kam, galt sein erster Gang dem Konkordienplatz und dem steinernen Standbild der Stadt Straßburg, vor dem er wie an einem teuren Grab einen Kranz niederlegte. Mitglied sämtlicher nationalistischer Vereine, ließ er keine Gelegenheit vorübergehen, bei der er sich in seiner Vaterlandsbegeisterung und seinem Rachedurst austoben konnte. Wenn er bei patriotischen Festen die Fahne tragen durfte, so sah er mit Blicken der Verzückung, wie ein gläubiger Katholik auf die Monstranz, auf das bunte bestickte Tuch, das in seinen Händen zitterte. »Du hältst Frankreich in deiner Hand!« sprach er sich leise feierlich vor, indes er diesem Führer zum Ruhm und zur Unsterblichkeit nachschritt. Und nach jedem öffentlichen Essen, wenn er sein Glas mehrfach » à toutes les gloires de la France«geleert hatte, ließ er es sich nicht nehmen, mit seiner rostigen Greisenstimme die folgenden Verse von Paul Déroulède, die einzigen, die er auswendig konnte, mit sich immer steigernder Begeisterung und Rührung hinauszuschmettern:

Wir werden, ja, wir werden sie besiegen,
die Diebe, die den Sieg uns fortgestohlen.
Sie müssen unserer Tapferkeit erliegen,
wenn wir den alten Ruhm uns wieder holen.
Vorwärts, mein Volk, von deiner Schmach verbittert,
umgürte dich, du einer Welt Befreier!
Vom Heldengeist der Ahnen groß umwittert,
zieh aus zum Rachekampf, zur Sühnefeier!
Wir werden, ja, wir werden sie besiegen.
Blast, blast zum Sturm und laßt die Fahnen fliegen!

Ihr jungen Krieger, ohne Bart und Litzen,
mit neuen Waffen, neuen Heldenherzen,
zeigt euch, wenn rings die Kugeln euch umblitzen,
als Frankreichs Söhne, zeigt es unter Schmerzen!
Denn hart wird jener Kampf und voll Beschwerden,
bis wir die deutsche Barbarei besiegen.
Doch lebend oder tot, am Abend werden
wir an dem Rhein, dem Strom der Ströme, liegen.

– Etwas sanft Trauriges, fast Pastorales mischte sich an dieser Stelle in sein Krächzen: –

Wir werden, ja, wir werden sie besiegen.
Blast, blast zum Sturm und laßt die Fahnen fliegen!

Die Blitze jagen nicht so schnell am Himmel,
die Donnerschläge krachen nicht so nieder
wie unser Ansturm, wenn wir das Gewimmel
des rohen Feindes unaufhaltsam wieder
zum Osten drängen. Seht ihr unsre Scharen?
Wir nahn! Der Tag der Rache ist entglommen.
Hört ihr den Klang französischer Fanfaren?
Elsaß und Lothringen! Wir kommen, kommen!

– Hierbei erhob er seine Rabenstimme so stark, wie er konnte –

Wir werden, ja, wir werden sie besiegen.
Blast, blast zum Sturm und laßt die Fahnen fliegen.

»O du gerechter Gott!«

– und nun bekam seine Stimme den zitternden Bibberton, der die Tränen in sich hat –

O du gerechter Gott! Hör unser Flehen,
du Gott des Sieges, Gott der Niederlagen!
Der Mensch hält nur die Ruder als dein Lehen,
du hältst den Sturm, kannst segnen und versagen.
Die hohlen Prahler, die nur Pläne machen,
wirst du mit einem Wink zu Boden zwingen.
Den Geist der Rache wirst du nicht verlachen,
und wahren Mut mußt du zum Siege bringen.
Wir werden, ja, wir werden sie besiegen.
Blast, blast zum Sturm und laßt die Fahnen fliegen!

Niemals blickte Korporal Petit beim Heimgang von solch einem vaterländischen Fest, an dem er zum soundsovielten Male diesen Kriegsgesang von sich gespuckt hatte – denn je älter er wurde, je weniger konnte er seinen Speichel beherrschen! – zum Himmel empor. Niemals bedachte er, daß dort über und unter ihm Myriaden von Sternen kreisten, auf denen Myriaden von Völkern wohnten. Niemals fragte er sich, ob es nicht kleinlich sei, dieser einzigen, beschränkten, fixen Idee mit der Leidenschaft eines Besessenen nachzuhängen. Er stierte unentwegt auf einen Punkt, auf das schwarze Loch, darin seiner Meinung nach das stolze, das unbesiegte Frankreich von ehemals begraben lag und der Stunde der Auferstehung entgegenfieberte.

»Wenn ich es nur noch miterleben und miterkämpfen kann!«, das war sein einziges, sein letztes Gebet. Das war der große Schmerz, mit dem er schließlich, lang ehe der Krieg wie eine oft geriebene Beule ausbrach, aus seinem nationalen Dasein verschwand. Das Gefühl der unbefriedigten Rache nahm er mit sich in die Gruft, in die man ihn nach seinem Tode in seinem Heimatstädtchen versenkte. Sein Testament schrieb vor, daß man ihn in seiner Uniform, angetan mit all seinen militärischen Ehrenzeichen und in die dreifarbige Fahne eingehüllt, in die geliebte Erde Frankreichs betten sollte. Man erfüllte seine letzten Wünsche. Ja, man begrub ihn sogar, da er als kinderloser alter Witwer sein erspartes Geld dem Staat zum Besten der patriotischen Jugendvereine vermacht hatte, ganz in der Nähe des Kriegerdenkmals von 1870, das am Eingang des Friedhofs stand. Zum Zeichen der Anerkennung seiner Vaterlandsliebe. Dort lag nun der Korporal Petit und verrostete wie der Säbel an seiner Seite. Doch noch im Sarge schien es ihn im wahren Sinne des Wortes zu »wurmen«, daß er seine gewaltsam verkürzte Soldatenlaufbahn nicht in dem Ruhmesglanz eines neuen Krieges mit Deutschland hatte beendigen können. Die Schande der einstigen Gefangennahme wäre dann mit dem Blut der Feinde, die er niedergemacht, von seiner Stirn gewischt worden. Und es war, als ob es ihm im Grabe keine Ruhe gelassen hätte, wie nun endlich der Rachekampf, nach dem er sein Leben lang die Ohren und den Degen gespitzt hatte, ausgebrochen war. Er mußte sich noch beteiligen, es war gar nicht möglich, daß er ruhig unter der Erde blieb, als über ihr um sein Vaterland, um die Ehre, die Fahne und alles, was ihm das Höchste gewesen war, gestritten wurde.

Das Städtchen, auf dessen Friedhof er begraben war, lag mitten im Kriegsschauplatz und wurde mehrfach heftig umkämpft. schließlich, als es schon stark zerstört und von den Einwohnern fast ganz geräumt war, beschossen die Franzosen es noch einmal so gründlich, als ob sie gemeint hätten, der deutsche Kaiser sei samt dem Kronprinzen und allen Generälen dort eingezogen. In Wirklichkeit lag kaum ein halbes Bataillon Württemberger dort auf Wachtposten. Und auch dies bekam sofort den Befehl, sich zurückzuziehen und in Deckung zu bringen, als das Bombardement einsetzte, törichterweise verspätete sich eine Kompagnie, die in der Kirche gelegen hatte, dank der Saumseligkeit ihres Hauptmanns, der zu den im Kriege doppelt gefährlichen Leuten gehörte, die alles besser wissen wollen. Sie brach erst in der Morgenfrühe auf, als die Beschießung, die in der Nacht geruht hatte, verstärkt von neuem losging. Infolgedessen bekam sie noch etwas von den Granaten der Franzosen zu verspüren, die sich mit der ihnen eigenen Zielsicherheit blitzschnell auf den Kirchturm einschossen, auf dem sie deutsche Beobachtungsposten vermuteten. Es gab vier Tote, einen durch einen Granatsplitter schwer Verwundeten und mehrere, die durch die herabfallenden Balken oder Steine von der Kirche leicht verletzt worden waren. In dem ärgerlichen, hastigen Aufbruch vergaß man den Schwerverwundeten oder nahm ihn schon für tot, weil er wie betäubt dalag.

Erst als die andern abgezogen waren, kam er langsam wieder zur Besinnung. Er tastete hinten auf seinen Nacken, wo er einen Schmerz empfand, und merkte, daß sein warmes Blut herunterrieselte. Fortwährend stürzten indessen Bretter, Mörtel und Dachschiefer in das Schiff der Kirche nieder. Der Altar war schon ganz zertrümmert. Und wo sonst der Weihrauch in bläulichen Ringen um das Allerheiligste kreiste, zog jetzt eine häßliche Staubwolke von dem herabgefallenen Bauschutt um die zerbrochenen Heiligenbilder. Die Bronzekette, dran die ewige Lampe gehangen hatte, schwebte leer und traurig wie ein Strick, von dem man einen Erhängten abgeschnitten hat, hin und her.

Der arme Verwundete, der ein strenggläubiger Katholik war, begann sich in diesem hohen Raum, der so gräßlich entweiht wurde, zu grausen. Es schien ihm in seiner Todesangst, als ob unsichtbare Teufel lärmend daran wären, diese heilige Stätte niederzubrechen und wegzuräumen. Zudem kam die Furcht, in der Kirche, die gleich einem Schacht, der ins Rollen kam, immer mehr verschüttet wurde, von einem Stein- oder Holzhaufen, der herunterrasselte, noch ganz zermalmt zu werden. Darum kroch er, auf sein Gewehr gestützt, aus diesem unheimlichen Zusammensturz ins Freie hinaus. Vor ihm lag der Kirchhof, der nach französischer Art mit hohen steinernen Grabgehäusen ausgeschmückt war, im Grau des Morgens wie eine tote Stadt. Der Verwundete wollte sich zwischen zwei Gräber neben ein paar Kränzen aus Glasperlen legen, um endlich etwas Ruhe zu finden, als die Marmorblöcke über den Grüften vor seinen Augen von einer Granate getroffen wurden und krachend ineinanderstürzten. Auch die Stätten und Steine der Leichen schien man nicht mehr schonen zu wollen, denn rechts und links schlugen jetzt die Granaten ein und pflügten den Totenacker wieder auf. Es war, als ob der jüngste Tag gekommen wäre und die Gräber sich öffnen und die Leichen zur letzten Heerschau erscheinen sollten.

Der Verwundete taumelte so schnell durch den Kugelregen, wie es ihm möglich war. Wie ein ängstliches Tier – auf diesen Zustand drückt ja der Krieg die meisten Menschen nieder – suchte er auf dem schrecklich lebendig gewordenen Friedhof nach irgendeiner Deckung. Endlich sank er am Fuß des großen frei liegenden Kriegerdenkmals nieder. Hier war er wohl am besten vor den Kugeln und den umherspringenden Steintrümmern und Splittern geschützt.

Es war ein armer Schwabe, der Weib und Kinder irgendwo daheim am Neckar hatte. Ganz matt gehetzt und geschwächt von dem Blutverlust begann er jetzt mit bebenden Händen seine Wunde hinten am Kopf zu verbinden. Er zog ein paar im Morgentau glitzernde Spinnweben aus dem Gras, weil sie das Blut stillen sollen, und kühlte mit ihnen den brennenden Schmerz im Nacken. Sein Herz arbeitete heftig wie die Pumpe eines versinkenden Schiffes. Es war ergreifend anzusehen, wie er gleichsam als ein zweites Kriegerdenkmal neben dem andern hockte, während das Rot der aufgehenden Sonne seine mit Blut beklebten Hände bestrahlte. Der bleiche Kopf war an den Sockel des Monuments gelehnt und dachte stumpf: »Wird es nun auch an dir wahr, was ihr so manchesmal gesungen habt: Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod!«

Nur einen rührte sein Anblick nicht im mindesten mehr: den Korporal Petit in seiner Gruft. Er zitterte schon lange vor Aufregung in seinem Sarg über das Pfeifen der Kugeln seiner Landsleute, die rings um ihn die Erde erschütterten und die Toten nicht mehr schlummern ließen. Heut war der Tag seiner Auferstehung gekommen. Eine Granate, ein vermaledeiter Blindgänger, hatte schon zu seinem Grimm dicht vor seinem Grabe eingeschlagen. Da sauste eine zweite heran. Sie zerknickte die Steinplatte, die über ihm lag, wie eine Spielkarte. Jetzt bohrte sie sich in einem tiefen Trichter in die Erde, traf den Sarg, dessen faule Bretter zusammenpurzelten. Und jetzt schleuderte sie den Korporal Petit in die Höhe. Wie die Puppe der Raupe, die im Frühling als Schmetterling das Gespinst um sich zerreißt, flog er aus seinem vermoderten bunten Fetzen empor. Auf die Reveille zu seinem letzten Waffengang. Der Säbel an seiner Seite sauste klirrend mit ihm in die Luft. Grad' auf den Verwundeten schoß Korporal Petit, auf den armen Kerl, dem vor Entsetzen über diesen wütenden knöchernen Totenvogel, der polternd aus der Erde herangeschwirrt kam, das Herz in der Brust stehen blieb. Korporal Petit hatte noch die Kraft, mit seinem Knochengerüst den blutenden Kopf des armen Schwaben an den Sockel des Denkmals zu drücken. Und es war, wie er sich so über ihn warf, als wenn er aus seinem grinsenden Maul noch gehaucht hätte: »Wir werden, ja, wir werden sie besiegen.« Dann rasselte sein Gerippe von dem steinernen Monument abprallend zu den Füßen des vor Schrecken und Erschöpfung gestorbenen Schwaben in einem wirren Knochenhaufen zusammen.

Als die Deutschen später das zerschossene Städtchen aufs neue besetzten, brachten sie mit der ihnen eigenen Ordnungsliebe auch den Friedhof einigermaßen ins reine. Sie machten eine tiefe Grube hinter dem zertrümmerten Kriegerdenkmal, in die sie die rings zerstreuten Gebeine wie die zersplitterten Grabsteine hineinschaufelten. Obendrauf legten sie den bereits verwesten Württemberger, den sie mit Kränzen bedeckten, und machten dann den Boden darüber wieder glatt. »Es ist alllens auf ainen Kompost jekommen!« meldete der ostpreußische Feldwebel, der damit betraut worden war, seinem Hauptmann pflichtschuldig.


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