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Löwen

Ein Totengespräch im November 1914.

Mitternacht auf der ausgebrannten Place du peuple in Löwen. Der Geist des seligen Advokaten René Vollen nähert sich von der Stadt her seinem schwarzen leeren Hause. Er greift in die einstige Tasche, zieht ein Stück seines Sitzbeinknochens hervor und will sein Haus aufschließen. Da bemerkt er Madame van der Halst, seine Nachbarin, die Rentnerin, deren tief verschleiertes Gerippe auf einem Entoutcasschirm vor ihrem Hause herumreitet. Er spricht sie auf vlämisch an:

Der Advokat Vollen: Gute Nacht, Madame van der Halst. Auch noch tätig mitten in der Finsternis?

Die Rentnerin van der Halft (knurrt ausweichend auf französisch): Wie Sie sehen, wie Sie sehen, Herr Advokat.

Der Advokat (ihr Französisch aufgreifend): Eine hübsche Dunkelheit hier, nicht wahr? Stichduster! Und da haben wir uns im vergangenen Winter über die mangelhafte Beleuchtung unseres Platzes beschwert. Und damals brannten zwölf Gaslaternen. Heute keine einzige mehr. Man lernt sich bescheiden. Was treiben Sie da?

Die Rentnerin: (keine Antwort).

Der Advokat: Wenn ich fragen darf, Madame van der Halst?

Die Rentnerin: Ich suche.

Der Advokat: Sie suchen! Hä, hä! Sehr gut! Sie suchen! Hä! Aber finden Sie auch etwas?

Die Rentnerin: Lassen Sie mich in Ruhe! Ich suche.

Der Advokat: Sie sollten mit in unseren Bürgerklub eintreten, den Klub der früheren Hypothekengläubiger von Löwen. Wir tagen, beziehungsweise wir »nachten« in dem verbrannten Gasthaus gegenüber dem Hôtel de ville. Im Hinterstübchen, das noch steht.

Die Rentnerin: Danke! Habe kein Bedürfnis!

Der Advokat: Oh! Es ging wieder recht fidel zu heute nacht. Wir foppen und zanken uns immer untereinander, wer am meisten hereingefallen ist mit seinen Hypothekengeldern. Leider wurde unserem Vorsitzenden zum Schluß der Schädel eingedrückt von einem Haufen Mörtel, der noch von der Decke abbrach. Aber Sie sollten wirklich einmal mit hingehen, Madame van der Halst!

Die Rentnerin: Danke nochmals, Herr Advokat! Habe nicht das geringste Interesse dafür.

Der Advokat: Ich weiß, ich weiß. Sie machen nur in Industriepapieren. Aber Sie hören mancherlei in unserem Bürgerklub, was auch für Sie wertvoll sein könnte. Es fällt für jeden etwas ab, wie unser Vorsitzender sagte, als ihm der Kopf zerquetscht wurde. Macht gerne Späße, wie wir alten Vlamen alle!

Die Rentnerin: Ja! Kann's mir denken! Ich kenne Sie, Herr Advokat. Vierzig Jahre Nachbarschaft genügen, um einander auf den Grund zu kommen, nicht wahr?

Der Advokat: Geben Sie doch das dämliche Suchen auf! Sie machen mich nervös damit wie früher mit Ihrer Gartenspritze, mit der Sie immer zur Unzeit herumsprengten! Als ob Sie noch etwas finden würden!

Die Rentnerin: Ich muß Ihnen ein Geheimnis anvertrauen.

Der Advokat: Mir? Ein Geheimnis? Das können Sie gar nicht. Ich weiß ohnedies alles von Ihnen.

Die Rentnerin: Dies wissen Sie nicht. Das habe ich keinem hier verraten. Das Geschäft hab' ich in Brüssel abgemacht.

Der Advokat: Also etwas Unerlaubtes oder doch etwas Anrüchiges! Sieh einer an! Aber erzählen Sie, Madame van der Halst. Pas de gêne vor dem Advokaten!

Die Rentnerin: Ich habe eine Hypothek auf dies mein Haus ausgenommen. Vor ein paar Wochen. Unter der Hand.

Der Advokat: Pfui! Sie als alte Hausbesitzerin von Löwen leihen Geld auf Ihr Haus? Schämen Sie sich!

Die Rentnerin: Ich konnte das Geld so hoch anlegen, Herr Advokat! Ein verlockendes Angebot. Eine ganz neue Société anonyme zwischen Mons und Charleroi. Ein deutsches Patent, leider! Aber riesig rentabel.

Der Advokat: Sie sind ein alter Nimmersatt! Unterstehen Sie sich nicht, in unseren respektablen Bürgerklub zu kommen! Die erste Bedingung für unsere Mitglieder ist die: Eigentümer von völlig zinsfreien Häusern in Löwen gewesen zu sein. Wie sich das hierzulande für jeden anständigen Menschen von selbst versteht.

Die Rentnerin: Sie hätten ebenso gehandelt wie ich, Herr Advokat, wenn Ihnen eine solche feine Sache unter die Nase gehalten wäre.

Der Advokat: Ich?! Das Haus meiner Eltern, mein Geburtshaus mit fremdem Geld belasten? Sie sind wohl verrückt, Madame van der Halst! So kann auch nur jemand, der hier zugezogen ist, reden! Wissen Sie nicht, daß wir Vollens schon seit drei Generationen in Löwen wohnen! Daß ein citoyen Vollen Anno 1798 diesen Bauplatz bereits käuflich erworben hat, mein Urgroßvater!

Die Rentnerin: Es wäre besser für seinen Urenkel gewesen, er hätte es nicht getan. Es ist schlauer, in der Luft zu wohnen und auf Hypotheken als auf unsrer wacklig gewordenen Erde.

Der Advokat: Was wollen Sie damit sagen? He?

Die Rentnerin: Sie sind schön hineingelegt mit Ihrem Hause, Ihrem völlig zinsfreien Hause! Sehen Sie sich doch an, was davon übriggeblieben ist? Ein paar bleierne Gas- und Wasserröhren, die noch aus den nackten Wänden dort heraushängen, so krumm gedreht wie Korkzieher. Nur das kaputte Gedärm ist übrig geblieben von Ihrer ganzen Herrlichkeit!

Der Advokat: Hören Sie doch auf, sich über mich lustig zu machen!

Die Rentnerin: Ach ja! Richtig! Da hinten steht ja auch noch ein Stück von Ihrer berühmten Veranda, auf die Sie so stolz waren. Klein-Trianon haben Sie auf eine Wand pinseln lassen. Für 2500 Francs. Die ganze Stadt bekam es zu hören. Es ist ein bißchen rußig und schwarz geworden, Ihr Klein-Trianon. Sie sollten eine Kongo-Landschaft daraus malen lassen!

Der Advokat: Reißen Sie nur Ihre boshaften Witze, mit denen Sie sich über ganz Löwen lustig machten, wenn Sie oben an Ihrem Fensterspiegelchen saßen und keinen ungeschoren an Ihrem Hause vorübergehen ließen! Ich könnte das meinige sofort wieder aufbauen, – wenn ich wollte. Aber Sie?

Die Rentnerin: Halten Sie jetzt Ihren Advokatenmund! Sie kriegen keinen Vorschuß mehr.

Der Advokat: Sie! kratzen Sie doch Ihre fälligen Hypothekenzinsen aus dem Schutthaufen da zusammen, zu dem Ihr zweistöckiger Kasten zerbröckelt ist! Darum suchten Sie wohl hier herum, als ich kam?

Die Rentnerin: Schluß jetzt! Hören Sie auf zu reden! Wir sind hier nicht beim Gericht!

Der Advokat: Ich werde Ihre Hypothekengläubiger schon scharf machen, Madame van der Halst. Darauf versteh' ich mich!

Die Rentnerin: Ja! Sie können einen tot und wieder lebendig reden. »Der Mann hat das perpetuum mobile auf der Zunge«, hieß es von Ihnen unter Ihren Kollegen, daß Sie es wissen!

Der Advokat: Sie kennen mich bisher nur als den vornehmen Herrn Nachbar, über den Sie klatschen konnten in Ihrer ewigen Langeweile! Ich habe das lange genug stillschweigend ertragen.

Die Rentnerin: Sieh einer an! Was wollten Sie denn anders dabei tun, Herr Advokat?

Der Advokat: Machen Sie Jetzt, daß Sie hier fortkommen! Sie haben gar nicht das Recht mehr, hier herumzuspuken.

Die Rentnerin: Und warum nicht, Herr Rechtsverdreher?

Der Advokat: Lösen Sie erst die Hypothek ab, die Sie auf Ihr Haus ausgenommen haben, wenn Sie das überhaupt noch können, Madame van der Halst. Bis dahin sind Sie für einen jeden wirklichen Hauseigentümer von Löwen Luft, verstehen Sie mich?

Die Rentnerin: Nein.

Der Advokat: Mit so etwas hat man verkehrt oder doch auf dem Grußfuß gestanden, mit einer Person, die ihr Haus verpfändet, die sich gegen den guten Bürgergeist Löwens versündigt, dessen Erstgebot heißt: »Du sollst dein eigenes, unbelastetes Haus bewohnen!«

Die Rentnerin: Tun Sie sich doch nicht so dicke! Ihr Haus ist jetzt ebensogut Dreck wie das meinige. Und ich könnte es ebenso protzig wie Sie wieder aufbauen, wenn ich noch eine – zweite Hypothek aufnehmen –

Der Advokat: Gott verdamm' mich! Aber da muß ich schon vlämisch fluchen! Eine zweite Hypothek wollen Sie auf Ihr Haus aufnehmen, solch eine hundsgemeine Person sind Sie? Der Krieg hat Sie Ja völlig demoralisiert. Und so etwas wohnt dicht neben mir!

Die Rentnerin: Was stellen Sie sich denn so an, Herr Advokat? Ich würd' es gar nicht nötig haben, wenn Sie mich nicht mitsamt meinem Hause hereingeritten hätten!

Der Advokat: Was hab' ich?

Die Rentnerin: Ja! mich und uns alle an dem ganzen Platz haben Sie hereingeritten mit Ihrer Voreiligkeit.

Der Advokat: Das wird ja immer schöner! Wer stand denn auf dem Balkon hier oben in Ihrem Hause hinter den Blumen und Geranientöpfen verborgen mit einem Gewehr und knatterte drauf los in die Bagagewagen der Deutschen: Was gibst du! Was hast du! an dem Abend, als die grüne Rakete in die Höhe stieg und das Zeichen zum Gemetzel gab? He! Madame van der Halst? Sie und Ihr freches wallonisches Dienstmädchen! Stimmt's?

Die Rentnerin: Und Sie! Sie konnten es gar nicht abwarten. Sie fingen schon vor der giftigen Rakete an zu schlachten. Ließen Sie nicht Ihre drei Mann Einquartierung schon eine Stunde vorher heimlich von Ihren fünf Gehilfen niedermachen hinten in Ihrem Waschhaus? And liefen Sie dann nicht auf dem ganzen Platz herum von Haus zu Haus und rieben sich Ihr Fäustchen und tuschelten uns grinsend in die Ohren: »Ich hab' schon aufgeräumt.« Stimmt's?

Der Advokat: Ach was! Bei mir hätt' es keiner gemerkt! Ich habe die drei toten Kerle in meinem Springbrunnen versteckt unter den schweren Grottensteinen. Die hätte keiner dort entdeckt, dafür garantier' ich Ihnen, parole d'honneur!

Die Rentnerin: So? Warum wurden Sie denn an die Wand neben der Kirche gestellt, Sie und Ihre zwei Gehilfen, die nicht rechtzeitig ausgekratzt waren, und füsiliert von den Schweinedeutschen, Herr Advokat?

Der Advokat: Weil man das Gewehr auf Ihrem Balkon gefunden hatte! Es stand ja da wie auf dem Präsentierteller. Jedes Kind hätte es dort erblicken müssen. Ganz abgesehen davon, daß Ihre dumme Jeannette noch beim Schießen alle Blumentöpfe umwarf, als sie glücklich einen Deutschen getroffen hatte.

Die Rentnerin: Ach was! Die toten Menschen regten uns weniger auf. Mit denen hatten wir kein Mitleid. Das schreckliche waren nur die verwundeten Pferde, die auf dem Platz herumrasten.

Der Advokat: Man übernimmt ein Mandat nicht, wenn man ihm nicht gewachsen ist, Madame van der Halst. Sie haben mich als Ihren Nachbar mit in das Verhängnis gerissen durch Ihre Ungeschicklichkeit. Ich hätte mich schon aus der Affäre gewickelt.

Die Rentnerin: Sie? Ich danke! Sie standen da schlotternd wie das leibhaftige schlechte Gewissen, als man Sie aufgegriffen hatte und auf den Kirchplatz neben mich stellte!

Der Advokat: Es war recht blöde von Ihnen, Ihre Tat noch abzuleugnen, wo man Sie in flagranti ertappt hatte!

Die Rentnerin: Sie kamen ja auch nicht weiter bei den Deutschen mit Ihren flehentlichen Gnadengesuchen, Herr Advokat!

Der Advokat: Und dann Ihr verwünschtes freches Dienstmädchen, diese Jeannette, die den Soldaten die Zunge herausstreckte und immerzu noch schimpfte: » Ces chiens! Ces boches! Ces cochons, ces sales Allemands!« War das nötig, war das noch nötig, frag' ich einen, die Leute so aufzureizen?

Die Rentnerin: Es war immer noch besser anzuhören als Ihr vlamisches Gewinsel vor diesen Kerlen: »Rettet misch! Ich bin guter freund von die Deutschen! Rettet misch!« Man hat Sie mit der gleichen Salve umgeschossen wie meine Jeannette und mich, wenn ich mich recht erinnere. Es war ein einziger, alles zerreißender Knall.

Der Advokat: Verdammt! Sehen Sie dort! Wer macht sich wieder in meinem Hause zu schaffen? Wer tappt denn darin herum wie ein Schatten?

Die Rentnerin: Etwas Schwarzes, wie mir scheint! Ihre Seele sicherlich, Herr Advokat!

Der Advokat: Es ist mein früherer Laufbursche, den ich wegen Freimarkendiebstahl hinausschmeißen mußte. Was hat er in dem Schutt herumzustochern?

Die Rentnerin: » Entrer sans sonner« steht ja noch hier unten vor Ihrem leeren Hause. Der arme Kerl! Er kommt um drei Rächte mindestens zu spät. Es ist nichts mehr drin. Man hat schon vorgearbeitet.

Der Advokat: Holla! He? Der deutsche Posten dort hinten scheint in der Finsternis eingeschlafen zu sein. He? Sie! Der Landsturm taugt auch nicht viel mehr als unsere garde civique. Holla!

Die Rentnerin: Regen Sie sich doch nicht so auf! Was kann Ihnen noch viel gestohlen werden aus dem schwarzen Dreckhaufen? Gute Nacht, Herr Advokat! Es wird mir zu feucht hier in dem ewigen Nebelregen dieses trübsinnigen Novembers. Ich gehe auf ein Stündchen in die Kirche Sankt Peter.

Der Advokat: Als ob Ihnen dort nicht ebensogut der Regen durch das offene Dach auf Ihre falschen Haare tröpfelte als hier!

Die Rentnerin: Bitte sehr! Mein Gebetplatz ist unversehrt geblieben. Nur das goldene Schildchen mit meinem Namen: »Madame van der Halst« hat von einem Ziegelstein, der herabgekommen ist, einen Kratz abgekriegt.

Der Advokat: Sie haben auch immer Glück. Mein Platz ist durch das zertrümmerte große Uhrgehäuse vollkommen verschüttet worden.

Die Rentnerin: Ich hab's ja immer gesagt, Sie waren nicht fromm genug. Juristen schlechte Christen. Gute Nacht, Herr Advokat! Ich habe die Nase voll von diesem häßlichen Brandgeruch hier. Ganz Löwen riecht nach Aschenkästen und umgeworfenen Mülleimern. Ich will schnell ein paar Prisen Weihrauch nehmen.

Der Advokat: Sie alte Betschwester! Sie sollten mehr Interesse für Ihre Häuslichkeit haben.

Die Rentnerin: Ach was, Häuslichkeit! Man stöbert ja doch nichts mehr auf als Staub und Asche. Ich hätte drei Hypotheken oder vier, fünf, soviel wie's gab, auf den abgebrannten Kasten aufnehmen sollen.

Der Advokat: Pfui! Das ist die Höhe! Haben Sie denn gar kein Schamgefühl mehr? Kommen Sie mit mir hinunter auf die Rue de la Station! Ich werde Ihnen da die beiden Häuser zeigen, die ich beliehen habe.

Die Rentnerin: Ich kenne sie. Ich bin darüber hergeflogen, als ich kam. Don dem einen steht noch die schwarze kahle Fassade, von dem andern hängt nur noch das Schild: » Hôtel du Commerce« an dem verbogenen Laternenpfahl auf dem Trottoir. Alles übrige ist foutu. Wer wird Ihnen Ihre Zinsen zahlen? (Sie kichert und fängt an die Brabançonne zu pfeifen.)

Der Advokat: Hören Sie mit Ihrem unverschämten Pfeifen auf!

Die Rentnerin: Hä, hä! Gevatterchen, wie meine Großmutter sagte. Sie können sich zu dem Schild an dem krummen Laternenpfahl aufhängen! Ihr commerce ist aus. Immobilien sind heutzutage nicht sicherer als Industriepapiere. Fragen Sie in ganz Löwen rum! Ich würde mich nie mehr an Häuser hängen.

Der Advokat: Scheren Sie sich fort von hier! Ich werde mir Ihre Hypothek verschaffen. Sie haben kein Recht mehr, hierzubleiben. Ich werde Sie hier herausschmeißen aus dem Haus da. Warten Sie nur! (Er bückt sich.)

Die Rentnerin: Was machen Sie da? Sie suchen einen Stein von meinem Hause, um ihn mir nachzuwerfen? Wir dürfen doch nichts mehr anfassen. Haben Sie denn das Geistergebot vergessen?

Der Advokat: Warten Sie nur! Eigentlich verdienen Sie es gar nicht, Sie nichtswürdige Spekulantin, daß man Ihnen einen Baustein Ihres ehemaligen Hauses an den Schädel wirft!

(Er greift nach dem Stein. Alles verschwindet sofort. Die beiden Gestalten zerrinnen kichernd und ächzend in dem Nebel der Nacht.)


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