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Die letzte Nacht

Eine junge Frau stand an dem Bahnhof eines kleinen hübschen Landstädtchens und wartete auf ihren Mann. Sie hatte schon einmal auf Tod und Leben von ihm Abschied genommen. Das war vor vier Tagen gewesen, als er seinem Regiment nachrücken sollte. Bislang hatte er seit der Mobilmachung als Landwehroffizier Ersatztruppen eindrillen müssen. Jetzt hatte es im letzten Augenblick noch einen Aufschub für ihn gegeben. Irgendein gefangener höherer Offizier mußte in eine Festung geschafft werden. Und dazu hatte man ihn ersehen. Nun konnte er doch noch einmal auf der Rückfahrt für eine Nacht nach Hause kommen. Am andern Morgen ganz in der Frühe mußte er wieder weggehen. Sofort an die Front diesmal. So hatte er ihr telegraphiert.

Die Frau, die auf ihn wartete, wußte kaum mehr, ob sie sich auf ihn und diesen Besuch freuen sollte oder nicht. Es kam ihr so unerwartet unmöglich vor, daß sie ihn in wenigen Minuten wiedersehen und haben sollte. Der Gedanke, daß sie sich ja damit eigentlich schon von ihm getrennt hatte, fuhr ihr wie eine Nadel durch den Kopf und quälte sie so fürchterlich, wie es in diesen grauenvollen Tagen nach der Kriegserklärung überhaupt noch für sie möglich war.

Da fuhr der Zug ein. Ihr Mann stieg aus. Sie fühlte seine Hand, seinen Mund und schritt neben ihm auf der Straße ihrem Hause zu. Sie schwiegen beide vor Erschütterung über dieses Wiedersehen, das ihnen so unerwartet geschenkt worden war. Plötzlich mußte sie denken: »Ist das ein Toter, der da neben mir hergeht?« Und nun begann sie, alles mögliche auf ihn einzureden: Kindergeschichten und Haussorgen und Gartenfragen. Dabei dachte sie immer: »Was geht das den Mann neben dir eigentlich noch an? Was kommst du ihm mit derartigen Kleinigkeitskrämereien, wo er nur mehr das eine Große im Kopfe hat!« Aber er lächelte, er lebte zu allem, was sie ihm erzählte, wie sie sah. Er ging im Schritt mit ihr zusammen, schaute vor sich in die Luft und sagte dann dies, dann jenes zu ihrem Gespräch.

Sie kamen an ihr Haus, das nicht weit vom Bahnhof lag. Hinter einem hübschen Vorgarten, der noch voll von blaßroten Rosen stand. Sie hatten es im dritten Jahre ihrer Ehe miteinander aufgebaut. Über jedes Fenster, jedes Zimmer hatten sie damals stundenlang gesprochen und beraten, bis es glücklich fast ganz so geworden war, wie sie es sich gewünscht hatten. Nun wohnten sie schon beinahe zehn Jahre in ihm. Die Pappeln, die sie gleich nach dem Bau des Hauses gepflanzt hatten, waren ihm schon über den Kopf gewachsen. Wie eine schwarze Umrahmung standen sie um das Haus, und der Abendwind blies in ihnen oder stieß sie mit ihren langen dunklen Köpfen zusammen.

Die beiden Menschen hatten einander losgelassen und betrachteten beide ihr Heim neben den Pappeln, die ihm wie ein finsterer Fächer Wind zufächelten. Am das Unheimliche dieser Abendstimmung, das auf sie drückte, zu überwinden, bückte sich der Mann zu den Rosen und versuchte ihren Duft einzuatmen. Aber sie rochen ihm kaum noch. Er brach sich eine ab, die ihm die schönste schien. And plötzlich ließ er sie gedankenvoll wieder fallen. Die Frau schrak auf bei dem fast unhörbaren Geräusch der in das Gras sinkenden Blume. Sie hob sie empor und steckte sie an, und im selben Augenblick schien ihr auch dies wieder irgendeine traurige Bedeutung zu haben. Sie war froh, als das zwölfjährige Mädchen jetzt herankam, ihr ältestes, um den Vater zu begrüßen. Schon im Nachthemdchen war sie und lächelte den Vater, der da wiederkehrte, an. »Was für ein großes Mädchen sie indes geworden ist!« sagte er vor sich hin und küßte sie auf die Backen. Dann faßte er sie, stemmte sie in die Höhe und sagte: »Laß dir's gut gehen in der Welt, mein Kind!« Das Mädchen lief verlegen weg ins Haus.

Die beiden gingen schweigend hinter ihr drein. Er hing seine Offiziersmütze an den Kleiderständer, wo sonst stets sein Hut gehangen, und hatte bei ihrem fremdartigen Anblick das Gefühl: »Du bist hier nur noch zu Besuch in deinem Hause.« Und alles, was er ansah, die altgewohnten Möbel um ihn wie die erstaunten Gesichter der beiden Jungens, die gleichfalls schon in ihren Nachtkitteln die Treppe heruntergeklettert kamen, ihren Vater in Uniform zu betrachten, alles wiederholte ihm nur dies Gefühl: »Was willst du hier noch? Du wirst nicht mehr für voll genommen. Man behandelt dich mit Fug und Recht schon wie einen Halbtoten, wie einen Eindringling, einen Schatten.«

»Wie heißt ihr denn, meine Kinderchen?« redete er die beiden Jungens an, die sich an dem Treppengeländer herumdrückten: »Wohnt ihr in diesem Hause?« Und auf einmal schien ihm dieser Scherz, den er schon soundso oft mit den Bengels und sich gemacht hatte, so ernsthaft, so passend zu sein, daß er erschrocken schwieg. »Was gehen dich die Kinder jetzt noch an?« dachte er bei sich. Er drehte sich herum, weil er den Blick seiner Frau wie einen Druck auf seinem Rücken fühlte.

And wirklich! Sie sah ihn groß an und fast betroffen über den Scherz, den er da mit den Knaben gemacht hatte. »Was denkst du?« fragte er sie und ärgerte sich sogleich darüber. Denn er wußte ja selbst, was sie gedacht hatte, und daß sie jetzt nur eine ausweichende Antwort geben würde. »Nichts! Nichts!« sagte sie denn auch, und die Tränen traten ihr in die Augen. »Geht jetzt, Kinder! Laßt den Vater nun in Ruhe! Er muß morgen wieder früh hinaus.« Damit trieb sie leise die beiden Jungen hinauf. Aber den jüngsten hielt er noch fest, drückte ihn an sich und sagte plötzlich, ohne zu wissen, was er sagte: »Kerl, wenn ich dir nur noch ein paar Jahre zusehen könnte!«

Das Kind machte ein ganz trauriges Gesicht, weil es die Mutter hinter sich weinen sah. Er ließ es los, und es rannte schnell die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. »Verzeih mir«, sagte er zu der Frau gewandt. »Es übermannt einen manchmal!« Er nahm militärische Haltung an, um sich Mut zu machen. Aber plötzlich fiel sie mit ihrem Kopf an seine Brust und schluchzte, schluchzte, immerzu die Worte wiederholend: »Wie schrecklich! Wie schrecklich!« Er hatte sich an die Wand gelehnt vor ihrer Last. Er strich ihr leise über das Haar und den Nacken, aber er wußte ihr nicht das geringste Tröstliche mehr zu sagen. Er starrte vor sich hin ins Graue des Abends wie ein Toter.

Nach einer Weile faßte sie sich wieder. Sie schritten zusammen durch das Haus. Er betrachtete es sich, als ob er es zum ersten Male sähe oder zum letzten Male. Das ist wohl dasselbe. Es kam ihm völlig fremd und gleichgültig vor. »So! Hier hast du also geschlafen alle die Jahre lang?« dachte er. »Und dort ist das Badezimmer!« Er wusch und badete sich dann noch ein letztes Mal, und selbst der Körper, den er säuberte und brauste, schien ihm ein anderer geworden zu sein. Es kam ihm fast vor, als wenn er, wie so häufig in den vergangenen Zeiten, sein Automobil gereinigt hätte, wie er an seinem Leib herumputzte. Der klaffende Unterschied zwischen dem Leben in Schmutz und Schweiß, in Elend und Notdürftigkeit, das ihm für die nächste Zeit bevorstand, und dem bequemen, bisher gewohnten Dasein in Reinlichkeit und Ruhe verschlang ihn völlig, wie er ihm zu Bewußtsein kam. Er blickte umher und starrte auf die hellen Kacheln, mit denen das Badezimmer ausgelegt war. Stundenlang hatte er einst mit seiner Frau an den Steinfliesen ausgesucht. Und jetzt! »Es war ganz lächerlich, noch dieses Bad zu nehmen!« sagte er sich und trocknete sich vor dem Spiegel ab. Im selben Augenblick glitt er auf dem nassen Steinboden aus und fiel auf seine Kniescheibe. »Wie schade!« dachte er aufstehend, »daß du nicht schlimmer gefallen bist! Ein kleiner tückischer Beinbruch und du wärst aus allem Kummer heraus gewesen!«

Aber gleich darauf nahm er sich wieder zusammen und zog sich an, indem er sich irgendeines der Soldatenlieder vorsummte, mit denen seine Ohren in der letzten Zeit überfüttert worden waren. Hernach, wie er so sich ankleidend vor dem Spiegel stand, an der gewohnten Stelle, kam er langsam ganz in die alten lieben, friedlichen Gedanken, die er früher hier gehabt hatte, bis er plötzlich wie aus einem schönen Schlummer erwachte mit dem Entsetzen: »Du mußt ja in den Krieg!«

Langsam ging er jetzt die Treppe hinunter zum Speisezimmer. Da hing eine Kopie von Dürer an der Wand und dort ein Millet. Sieh da! Den Fra Angelico hatte er aus Florenz mitgebracht und den Rembrandt dort aus Holland. Natürlich! »Die Bilder bleiben!« dachte er. »Es ist mehr Vernunft in ihnen als in uns.«

Er trat in das Speisezimmer. Die Frau wartete mit einem Buch in der Hand, in dem sie nicht las, auf ihn. Mitten auf dem Tisch stand leuchtend ein Strauß von kupferroten Dahlien, und durch das halboffene Fenster flog ein kräftiger würziger Duft aus dem herbstlichen Gemüsegarten ins Zimmer. Sie setzten sich in dem hellen, unbewegten elektrischen Licht der Tischlampe zum Essen nieder und besprachen noch ein letztes Mal die Fragen und Sorgen, die sie seit Jahren zusammen hatten. Eigentlich war alles schon vollkommen geordnet gewesen, als sie sich vor vier Tagen getrennt hatten. Sie hatten ja gar nicht mehr damit gerechnet, sich in der nächsten Zeit wiederzusehen. Drum schüttelte beide jetzt das Gefühl, als ob sie ein beschlossenes und versiegeltes Testament nochmals aufbrechen und prüfen müßten, ohne etwas Besonderes an ihm ändern zu können. Aber es war bei aller Schmerzlichkeit doch schön, noch einmal dies und jenes durchzusprechen und sich zu vergewissern, daß sie alles genau beredet und vereinbart hatten. »Laß das Mädchen ruhig ihre Geigenstunden beibehalten!« sagte er. »Und hilf den Jungens bei den Schularbeiten, solang ich fort bin.« Sie versprach, alles zu tun und zu halten. Ab und zu fielen ihr die Tränen auf den Teller, in dem sie herumstocherte wie als Kind, wenn ihr eine Speise nicht geschmeckt hatte.

Nach dem Essen und der Zigarre trat er an den Flügel. Ein Band Schumannscher Klavierkompositionen lag auf ihm. Er nahm ihn und klappte den Flügel auf. Und nun spielte er, und auf Minuten tat sich eine andere Welt hinter dieser entsetzlichen wirklichen auf: es war, als ob sich ein Vorhang geöffnet hätte und man einblickte in einen paradiesischen Zustand voll Wonne und Schönheit und Reinheit, als diese Töne quollen. Wie der Himmel, den die Gläubigen nach dem Tod erhoffen, stieg mit diesen Klängen der Traum einer Herrlichkeit ohnegleichen auf die Erde der Scheußlichkeiten nieder. Die Frau sah dem Manne zu, wie er spielte, und blickte auf seinen Scheitel, seinen Rücken. Machte es die Musik, daß er ihr immer mehr wie ein Geist vorkam, wie er da saß und etwas spielte, was gar nicht von dieser Erde war? Da stand er auf. »Es hat ja doch keinen Zweck mehr!« sagte er und klappte den Flügel wieder zu. Dabei klemmte er sich heftig den kleinen Finger. Er nahm ihn an den Mund und kühlte ihn: »Siehst du! Ich kann noch Schmerzen spüren«, sagte er lächelnd und hatte damit ausgesprochen, was sie voll Verwunderung gedacht hatte.

Sie gingen beide sehr früh zu Bett. Er mußte ja morgen vor sechs Uhr wieder aus dem Hause. Als er die Weckuhr stellen wollte, meinte sie: »Laß nur! Ich werde dich wecken. Ich schlafe doch nicht.« Aber er wollte davon nichts wissen. »Es ist mir zu unsicher!« sagte er schon in der Angst des militärischen Dienstes und unruhig bei dem Gedanken, daß er sich verspäten konnte. Zu ihrem Erstaunen schlief er indes sehr bald ein, erschöpft von dem maschinenmäßigen Betrieb der letzten Wochen, in den er eingestellt gewesen war. Sie lag wach neben ihm und durchdachte noch einmal all die Sorgen und Pflichten, in die sie sich von morgen an stürzen wollte, um alles zu vergessen. Sie erfand immer Neues, Schwereres, das sie sich aufpacken wollte, um nur nicht zur Besinnung zu kommen. Sie wollte sich selbst ganz mit Arbeiten betäuben, solange er fort war. Mit diesem Vorsatz lag sie still neben dem Mann, dessen Atem sie in der Dunkelheit wie etwas unheimlich Körperlosem lauschte.

Kurz nach vier Uhr erwachte er und konnte nicht mehr einschlafen. Er hatte leichte Kopfschmerzen von dem Wein, von dem er gestern in der Erregung zuviel getrunken hatte. Nachdem er sich eine Weile herumgewälzt, merkte er, daß sie gleichfalls wach war. Sie fingen an, allerhand mehr oder minder Gleichgültiges zu bereden. Aber auf einmal sagte er ganz unvermittelt: »Heirate nicht wieder, Liebste, wenn ich nicht mehr zurückkomme! Ja, bitte, tue es nicht! Mir zu Liebe tu es nicht, ich bitte dich!«

Der Atem stockte ihr bei diesen plötzlichen ersten wirklichen Worten, die er sprach. Dann schluchzte sie los, und endlos brach mit tausend Liebesbeteuerungen der Gram von Wochen aus ihr heraus. Da stürzte er sich über sie mit seiner Liebe. Und er nahm sie, er vergewaltigte sie fast, schon verwirrt von dem entsetzlichen Blutrausch, in den man ihn alsbald treiben würde. Wie eine mißhandelte Beute hing sie noch in seinen Armen, als ihn die nüchterne Weckuhr wie eine Trommel zu seinem Schlachtberuf weghetzte.

Sie trennten sich scheu und schnell voneinander, beide fast froh darüber, daß es nun endlich entschieden sei, daß kein neuer Abschied mit all seinen Qualen wieder zwischen sie trete.

Der Mann kam nicht mehr wieder aus dem Kriege.

Die Frucht dieser ihrer letzten Nacht wurde ein armseliger scheuer, kränklicher Knabe. Er erschoß sich hernach in einem Anfall von Schwermut und Lebensangst im Alter von noch nicht achtzehn Jahren.


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