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Napoleon

Er hatte eigentlich nicht das geringste mit der ganzen Kriegsgeschichte zu tun. Wenigstens als körperliches Wesen nicht. Er war ein alter Knabe, längst völlig dienstuntauglich und als Junggeselle und früherer städtischer Beamter durch seine Pension aller Sorgen um seine Zukunft enthoben. Auch hatte er keine näheren Anverwandten, die im Felde standen. Aber als Patriot und Deutscher regte dieser Krieg ihn fürchterlich auf, den alten Nepomuk Vogel. Er hatte die drei großen letzten deutschen Kriege als ganz junger Kerl mitgemacht und zehrte wie manche Leute, die hinterdrein ein erzlangweiliges Leben führen mußten, von den Erinnerungen an diese große Zeit. Je älter er geworden, desto lebhafter waren diese Erinnerungen an jene Kriege hervorgetreten, in deren Ruhm er sich wie unser ganzes rückständig gewordenes Militär sonnte. Er tat freilich auch das Seinige dazu, diese kriegerische Stimmung zu pflegen. Er war zweiter Vorsitzender im Kriegerverein. Über seinem Bett hing der greise Kaiser Wilhelm bei Gravelotte und Sedan und darunter sein eigener alter Säbel zwischen den Achselstücken, die ihre Farbe und ihren Glanz verloren hatten. Anders wie die Schlachtenbilder in seinem Kopf. Die lebten noch immer mit Pulverwölkchen, Granatfeuer und Gewehrgeknatter zwischen den vier Wänden seines Schädels weiter. Man brauchte nur die Rede darauf zu bringen, so zog er sie ab und erzählte von den Düppeler Schanzen oder von Mars-la-Tour all das, was er sich seitdem durch häufiges Wiederholen dieser Geschichten fest zurechtgelegt hatte. Seine wenigen Bücher handelten einzig von den Kriegen und den Heldentaten des Heeres, dem er angehört hatte. Und seine liebsten Spaziergänge führten ihn nach den Kasernenhöfen oder Exerzierplätzen, wo er mit vor Sachkenntnis gerunzelter Stirn den Übungen der Soldaten zuzuschauen pflegte.

Man kann sich daher denken, daß ihn dieser neue große Krieg aufs tiefste erregte. Sein ganzes Wesen schien darauf gewartet zu haben. Es war die Krönung seines Lebens. Zunächst besorgte er sich sofort mehrere Karten von allen Kriegsschauplätzen, an die er sein Innerstes in möglichst gleicher Weise zu verteilen suchte. Bei Tag und bald auch bei Nacht konnte man ihn über diese Pläne gebeugt sehen, auf denen er mit kleinen aufgesteckten Fähnchen die Stellungen der Truppen verfolgte. Er schlug sämtliche Schlachten mit und beteiligte sich an allen Vorstößen und Rückzügen. Unaufhörlich konnte man ihn über die kriegerischen Vorgänge reden hören, wobei er vom Hundertsten ins Tausendste kam. »Ob es richtig war von Deutschland, durch Belgien gegen Frankreich vorzustoßen?« oder: »Warum hat Österreich die Russen nicht von vornherein bis an die Karpathen gelockt?« oder: »Weshalb lassen die Deutschen nicht einfach Paris links liegen und wenden sich sogleich gegen Calais?« oder: »Könnte man Antwerpen nicht durch die Schleusen selbst unter Wasser setzen?« Das sind nur vier Fragen von den Hunderten, die jeder neue Tag in ihm aufwarf.

Allmählich wurde er den Leuten lästig mit seinem ewigen klugen Gerede über den Krieg, zumal er seine gefaßten Ansichten sehr rechthaberisch vertrat und gereizt wurde, wenn man ihm widersprach. In dem Kaffeehause, in dem er verkehrte, zog man sich immer mehr von ihm zurück, indem man sich sagte: »Der Mann regt sich zu sehr auf über die Sache! Er hat offenbar den Kriegskoller bekommen!« Dem alten Nepomuk Vogel blieben darum oft nur die Kellner als Zuhörer für seine strategischen Erörterungen übrig; zu deren Erklärung er die marmornen Kaffeehaustische mit Bleistiftstrichen zu überzeichnen pflegte. Aber auch die Kellner bekamen es schließlich leid, sich von diesem alten Manne die Schlachten ins Blaue vorschlagen zu lassen, und ärgerten sich nur darüber, daß er die Tische mit seinen Plänen vollschmierte, als säße er im Großen Generalstab und müsse seine Ansicht vortragen. Er bekam den Spitznamen: » Napoleon«. Und da er dies merkte und auch fühlte, daß man anfing, seine Unterhaltung zu meiden, so konzentrierte er sich langsam nach rückwärts, nur auf sich selbst und auf die Zeitungen, mit denen er sich auf das lebhafteste unterhielt.

Man konnte ihn jetzt unaufhörlich mit sich selber reden hören, wenn er über die Blätter vertieft bei seinem Kaffee saß. Oft schüttelte er mit dem Kopf dabei, um sein Mißfallen mit der Kriegskunst der Deutschen oder Österreicher auszudrücken. Zuweilen aber sagte er auch laut: »Bravo! Ganz meine Ansicht!« und verteilte gleichsam seine Auszeichnungen an die Generale, deren Vorgehen ihm gefiel, wobei ein freundliches Schmunzeln seinen zahnlosen Mund umhuschte. Je länger der Krieg dauerte, desto ungeduldiger, unruhiger und überreizter wurde der alte Nepomuk Vogel. Diese Untätigkeit, zu der er als alter Krieger verurteilt war, machte ihn immer verdrehter. »Lieber an der ausgesetztesten Stelle vorn in den ersten Reihen stehen, als hier weit hinter der Feuerlinie nur an der Hand der Zeitungen und der Karten alle, aber auch alle Schlachten mitmachen zu müssen!« stöhnte er manches Mal auf. Ab und zu meldete er sich dann wieder zu irgendwelcher kriegerischen Tätigkeit bei der Militärbehörde, aus dem dringenden Bedürfnis, sich irgendwie noch nützlich zu machen. Aber man wies den alten nervös-haspeligen Mann jedesmal gutmütig lächelnd wieder ab.

Mit der Zeit hatte er sich, um seine quälende innere Unruhe loszuwerden, das Herumrennen auf den Straßen angewöhnt, wobei er immer Betrachtungen über die Witterung anstellte und ängstlich überlegte, ob es nicht zu heiß oder zu naß für die Truppen wäre. Er trabte seine fünf bis sechs Stunden im Tage, ja oft noch länger, durch die Stadt herum und war oft nachts, wenn er ins Bett sank, so müde und abgelaufen, als hätte er einen Gewalteilmarsch hinter sich. Immerzu war er auf der Jagd nach Neuigkeiten von den Kriegsschauplätzen. Er hatte sich im Rauchen eingeschränkt, um sich möglichst viele Extrablätter kaufen zu können. Vor den Nachrichtenauslagen der Zeitungen konnte er viertelstundenlang stehen und, mit der Nase an die Scheibe gedrückt, alles studieren, was dort zu lesen stand. Die wichtigsten Meldungen konnte er drei- und viermal mit dem gleichen Eifer durchstudieren. Namentlich abends vermochte er sich schwer von der Straße und ihren Neuigkeiten zu trennen und nach Hause zu bringen. Er hatte es sich angewöhnt, die letzten Nachrichten, die spät eintrafen, abzuwarten. Die Nachtredakteure, die er zu dem Behufe aufsuchte, machten sich schon lustig über ihn. Und der billige Witz des Nachtpförtners über ihn: »Der Mann heißt nicht nur Vogel, der Mann hat auch einen Vogel!« wurde in den Redaktionen allgemein belacht und verbreitet.

Aber der Hunger nach Neuigkeiten vom Kriege war so stark bei dem alten Nepomuk Vogel, daß er allen diesen Leuten, die ihn anödeten, zum Trotz nachts immer wieder bei den Zeitungsbureaus mit der zitternden Frage anpochte: »Können Sie mir nicht das Neueste mitteilen?« Er hätte gar nicht mehr einschlafen können, ohne dies erfahren zu haben, um es daheim über seinen Kriegskarten hin und her zu überlegen. Er hielt tatsächlich allnächtlich, ehe er sich unter den Bildern vom greisen Kaiser Wilhelm und seinem alten Säbel und den Achselstücken zur Ruhe und zu Schlachtenträumen niederlegte, wie die Anführer draußen im Felde einen feierlichen Kriegsrat ab. Indem er die Fähnchen auf den Karten nach den Tagesnachrichten verstellte, übte er dann scharfe Kritik: »Der rechte deutsche Flügel ist zu weit vorgerückt! Achtung! Man will ihn umzingeln, abschneiden und ans Meer drücken. Zurück, meine Herren! zurück! Nichts übereilen! Das österreichische Zentrum ist zu schwach. Nachschieben! Nachschieben! Was nützt Ihnen der Erfolg auf den Flügeln, wenn das Zentrum durchbrochen wird? Vorsicht, meine Herren! Bedenken Sie die Rückzugslinie! Die gesicherte Rückzugslinie ist das Allerwichtigste bei der Kriegführung. Glauben Sie mir, meine Herren! Die Rückzugslinie muß frei bleiben. Hören Sie!«

Diese Ratschläge und Befehle gab er nicht etwa leise mitten in der Nacht von sich, sondern so laut und eindringlich wie möglich, als gält' es, einen Widerstand, der sich ihm in der Mehrheit entgegenstellte, niederzuzwingen. Hernach sank er ganz erschöpft vom Laufen, Schreien und kriegerischen Grübeln in sein Bett. Nun zogen die Träume wie Massen von Infanterie, Reiterei und schwere Geschützkolonnen über ihn her. Bis er des Morgens früh zerschlagen erwachte, in den Hausflur lief, um durch die Türspalte noch vor dem Brotbeutel, der draußen für den Bäcker hing, die Zeitung hereinzuziehen und sich wieder von neuem in das Schlachtgetöse zu stürzen. Seine innere Beteiligung an der Kriegführung wurde immer stärker und fieberhafter. Unaufhörlich setzte er sich mit dem Generalstab auseinander und erschöpfte sich in Ratschlägen, Plänen und Vermutungen, die er in die Luft spann. Da er nicht mehr fähig war, sich selbst in den Kampf zu stellen, so zerrieb er sich aus diesem drückenden Gefühl der Untätigkeit in tausenderlei kriegerischen Fragen und Sorgen und Vorschlägen und Befürchtungen, phantasierte sich so viel vor und regte sich dermaßen auf, bis er selbst seine eigene Rückzugslinie verlor.

Nach und nach wurde er den Leuten in seiner Nachbarschaft immer unheimlicher, der alte Nepomuk Vogel. Die Mieter, die neben ihm und unter ihm wohnten, beklagten sich über den nächtlichen Lärm, den er mit seinen lauten Befehlen und Kriegsansichten erregte. Die Dienstmädchen kreischten auf, wenn sie ihm, der immerzu vor sich hinsprach, auf der Treppe begegneten. Infolgedessen sah sich der Hausherr genötigt, ihm die Wohnung zu kündigen und unter der Hand die Polizei auf ihn aufmerksam zu machen. Sobald der alte Nepomuk Vogel dies wahrnahm, hielt er sich für kriegsgefangen. Er verschanzte sich in seinem Schlafzimmer, indem er aus seinen Möbeln und Kissen eine Barrikade aufwarf und keinen mehr hineinließ. Nur gegen Abend schlich er sich auf die Straßen, um die letzten zurecht frisierten Nachrichten von den Feldzügen aufzusammeln. Todmüde und abgespannt kam er dann morgens wieder, beladen mit seinen Kriegsneuigkeiten, die er vor seinen Karten auskramte und natürlich verwertete.

Da die Nachbarschaft schließlich behauptete, mehrfach Schüsse aus seiner Wohnung gehört zu haben, nahm die Polizei dies zum Anlaß, eines frühen Morgens, an dem man ihm aufgepaßt hatte, bei ihm einzubrechen. And da er heftigen Widerstand leistete und das tollste Zeug über den Krieg von sich gab, brachte man ihn ins Irrenhaus. Dort bekam er fortgesetzt Tobsuchtsanfälle. Er rannte in seiner Zelle herum und schrie: »Extrablatt! Das neueste Extrablatt! Die Erfolge im Osten und Westen! Siegreicher Vorstoß gegen Serbien! Der Rückzug der Franzosen auf der ganzen Linie! Extrablatt! Das allerneueste Extrablatt!« Dann wieder blieb er stehen und schrie: »Hört ihr nicht die Glocken läuten! Ah! Viktoria! Wir haben gesiegt!« Manchmal auch lauschte er noch geheimnisvoller nach oben in die Luft, hob seinen zerknitterten Zeigefinger in die Höhe und rief freudig: »Ja! Die Propeller! Unser Zeppelin ist wieder tätig! Schnelle Arbeit, gute Arbeit! Hört ihr, wie das saust! Bravo! Es lebe der Krieg in den Lüften!« Zum Schluß aber setzten immer wieder diese tobenden Ausbrüche ein, in denen er sich wie seine Brüder im Feld bei Sturmangriffen so völlig ausgab, bis er stockheiser wurde: »Zurück! Vorsicht, ihr Österreicher! Achtung im Westen! Seht ihr nicht, daß die Franzosen den rechten Flügel in die Falle locken wollen. Ihr kommt mit dem linken Flügel und dem Zentrum nicht früh genug vorwärts. Zurück, marsch, marsch! Die Rückzugslinie! Hört ihr wohl: die Rückzugslinie!«

In einem dieser Anfälle ist er geblieben, der gute alte Nepomuk Vogel.


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