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Kohlrabi

Kohlrabi war eine Perle, ein Ausbund aller guten Eigenschaften eines Burschen.

Wenn man das Tollste, das Ausgefallenste von ihm verlangte, so sagte er einfach kurz: »Wird gemacht!« Und so schnell wie nur eben möglich wurde es erledigt. War es einmal kalt, so mußte man Kohlrabi nur recht verfroren von der Seite ansehen, um einen Schal oder eine warme Weste von ihm »zu erben«. Wollte man am Morgen Wurst oder Honig zum Kriegsbrot haben, man brauchte es ihm nur aufzutragen und konnte sicher sein, es stand schon auf dem Frühstückstisch, wenn man kam. »Eigentlich möchte man gern einmal einen richtigen sauren Hering essen!« sagte sein Hauptmann eines Abends, in einer Gegend, in der man das Wort »Hering« kaum kannte. Kohlrabi verschwand verständnisvoll und kehrte nach kurzer Zeit mit einer Schüssel wieder, auf der drei Heringe mit ihren weißen Zwiebelhalskragen lagen und sprachen: »Siehst du! Da sind wir schon!«

Wenn alles rings ausgeraucht war wie ein Kraterfeld und ohne jene im Krieg unentbehrlichste Munition, die tabakbraune Stimmungsmunition, Kohlrabi zog noch immer von irgendwoher einen Glimmstengel mit möglichst unverletztem Deckblatt hervor. »Ein fabelhafter Kerl!« pflegte sein Hauptmann von ihm zu versichern. »Ich glaube, der konnte aus seiner Nase noch Zigarren drehen!« Sicherlich: Wenn man ihm aufgetragen hätte, den Argonner Wald zu Zahnstochern zu verarbeiten oder den Kopf des Nelson von der Trafalgarsäule in London als Schrapnell herunterzuholen, er hätte noch darüber nachgegrübelt, ob das nicht irgendwie zu bewerkstelligen wäre. Er war geradezu ein Genie in der kaufmännisch-kriegerischen Tätigkeit, die wir mit dem wohlklingenden Ausdruck »Requirieren« zu umschreiben pflegen. Diese Freibeuterbeschäftigung, die jedem anständigen Menschen das Widerwärtigste war an der ganzen soldatischen Tätigkeit, machte Kohlrabi eine – im wahrsten Sinne des Wortes – diebische Freude. Er spürte die Hühner aus dem Keller, die Äpfel aus den Leinwandschränken und die Kartoffeln aus dem Stroh hervor, in das sie versteckt worden waren. Wo nur eine magere Kuh noch muhte oder eine alte Schindmähre ihr krummes Knochengerüst gegen ihre welke Haut drückte oder eine abgeklapperte Autokarre auf geborstenen Reifen verrostete, Kohlrabi entdeckte sie todsicher und zog sie triumphierend aus ihrem Schlupfwinkel hervor. Mit großmächtiger Hand füllte er dann im Namen seiner Intendanz einen Bon dafür aus, indem er die Sachen mit ein paar kühnen Handschwingungen im Ungefähren abschätzte und darunter noch schrieb: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!« oder »Deutschland, Deutschland über alles!« oder »Behüt' dich Gott, es wär' so schön gewesen!« Er trieb während des ganzen Krieges einen einträglichen Handel mit allem möglichen, was gerade gewünscht wurde: mit Fahrrädern, mit Gummimänteln, mit Taschenmessern, mit Unterwäsche, mit Spielkarten, mit Tabak, mit Wolldecken und mit jungen Hunden, die bekanntlich von den Leuten gern zur Gesellschaft in die Schrecken der Schützengräben mitgenommen wurden.

Man sah ihm ein wenig durch die Finger, weil er sich bei seinen Vorgesetzten eben durch allerlei Gefälligkeiten beliebt gemacht hatte. Bei den älteren, indem er sie bei ihrer schwachen Seite, dem Magen, nahm und ihnen flüssige oder fette Leckereien zu requirieren wußte. Bei den jüngeren, die nicht darauf anbissen, indem er ihnen unter der Hand ein paar Schöne aus der Nachbarschaft zuführte. Denn auch in diesem Punkte verstand Kohlrabi sein Geschäft und wußte die Frauenzimmer zu beschwatzen und Gelegenheit zu machen so gut wie eine ausgepichte alte Kupplerin. Ein mit sich selbst zufriedenes Lächeln machte sich dann, wenn es ihm gelungen war, ein Mädchen an den Mann zu bringen, auf seinem pfiffigen Gesicht breit. Und man wußte für einen Augenblick nicht: Ist das ein Filou oder ein todguter Kerl, der glücklich ist, wenn er sich nützlich und seinen Mitmenschen ein Gaudium machen kann?

Jedenfalls war er im Kriege nicht mit Geld zu bezahlen wegen seiner Geschicklichkeit und Findigkeit, von der allesamt um ihn herum ihren Vorteil hatten. Man beneidete seinen Hauptmann wie seine Kompagnie um ihn. Und die Offiziere machten sich einmal nach einem Essen, als wieder die Rede auf ihn gekommen war, den Scherz mit dem bekannten Handspiel: Stein, Schere oder Papier auszuhauen, wem Kohlrabi vererbt werden sollte, wenn sein Hauptmann etwa eines Morgens nicht mehr mittun könnte. Dieser Hauptmann dachte übrigens gar nicht daran, abzukratzen. Er war freilich schon Reservemann und den Fünfzigern nicht mehr fern, wie er jedem mit einem Hinweis auf sein mächtiges kahles Haupt versicherte, wobei er gern zu knödeln pflegte: »Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar.« Aber von diesem fehlenden Kopfschmuck abgesehen, der hier im Felde, wo jeder kurz geschoren ging, doppelt überflüssig schien, war es noch ein Kerl voll Saft und Kraft, der es mit Joffre aufnehmen konnte. In seinem bürgerlichen Beruf war er Justizrat, und zwar einer von der jovialen alten Sorte, wie sie besonders am Rhein häufig gedeihen. Als solcher verfügte er über zwei Haupteigenschaften, die gern zusammengehen, weil sie beide nie ganz gestillt werden können, über Frömmigkeit und über Durst. Er war ein eifriges Mitglied und eine Stütze der Zentrumspartei. Ja, er wäre beinahe schon einmal als Abgeordneter in den Reichstag gewählt worden. »Bis zur Stichwahl hab' ich es als Politiker gebracht!« sagte er und beschied sich mit dieser abgebrochenen Laufbahn wie mit allem in seinem Leben, wenn er mittags und abends stillvergnügt vor seinem Schöppchen saß.

Dieser zweite Grundzug seines Wesens, eine unverwüstliche Durstigkeit, war das, was ihn und Kohlrabi verband und über alle Verschiedenheiten, die sich etwa in religiöser Hinsicht zwischen ihnen hätten bilden können, fest zusammenhielt. Kohlrabi machte sich nämlich nicht die geringsten Gedanken über Gott und die Welt und wunderte sich nur im stillen über das viele Gebete seines Hauptmanns, das seiner Ansicht nach im Kriege gar keinen Zweck hatte. Aber die Vorliebe für einen guten Tropfen teilte er durchaus mit seinem Hauptmann. Und wenn die Rede auf dieses Gebiet kam, so wußte man nicht, wer von den beiden sachverständiger war. Kohlrabi versorgte seinen Hauptmann mit Stoff wie eine Amme das Kind, das sie säugt. Er hatte sich nach und nach vollkommen in die französischen Weine eingearbeitet und achtete darauf, daß sein Hauptmann stets die besten Pullen bekam. Dann ging ein Strahlen über sein ganzes Gesicht, wenn er den Alten mit seinem hochroten kahlen Kopf urfidel hinter einer Batterie von Flaschen sitzen sah, von denen eine nach der andern geleert wurde. Er selbst begoß sich im Hintergrund still für sich seine Nase, indes sein Hauptmann vorn den Offizieren zutrank: »Prosit, Kamerad!« und fast jedesmal dabei zitierte:

»Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden,
Doch ihre Weine trinkt er gern.«

So zwei Kerle waren das.

Kohlrabi hätte sich umgebracht, wenn er seinen Herrn hätte dursten lassen müssen. Aber als sie vor Verdun lagen, kamen sie doch mehrmals in eine Klemme. Die ganze Gegend war von den Soldaten, die seit Monaten hier wie zu Hause waren, auf zehn Meilen weit im Umkreis kahl gesoffen worden. Mit dem Weinnachschub wollte es nicht recht flecken, da das A.O.K., das der Laie langweilig »Armeeoberkommando« ausspricht, dem übermäßigen Alkoholgenuß im Felde abgeneigt gegenüberstand. Kohlrabi war verzweifelt. Nur mit Aufbietung seines schärfsten Spürsinns gelang es ihm, seinen Hauptmann über Wasser zu halten, das er selbst schon mit saurem Gesicht zuweilen vor lauter Durst zu sich nahm. Aber schließlich hätte auch Kohlrabis Findergabe an der völligen Dürre des Landes scheitern müssen, aus dem selbst ein Aaron keinen Wein mehr hätte hervorklopfen können, wenn er nicht an einem Ort welchen herausgewittert hätte, an dem keine Menschenseele ihn vermuten würde.

Es war schon wie ein sechster Sinn, der sich bei Kohlrabi wie bei Leuten, die die Wünschelrute führen und verborgene Schätze oder Quellen anschlagen können, herausgebildet hatte, daß er diese Vorratskammer aufspürte. Das war geschehen, als er seinen frommen Hauptmann einmal vor Kummer über die reißend fortschreitende Verdurstungsgefahr in die Kirche begleitet hatte. »Vielleicht hilft Gott aus der Not! Auf jeden Fall, schaden kann es nicht«; etwas dergleichen hatte Kohlrabi sich dabei gedacht. Aber als er in die Kirche eintrat, war er sofort wieder angesichts der unversehrten Wertgegenstände hier drinnen, die man so gut hätte »requirieren« können, auf weltliche Gedanken gekommen. Während sein Hauptmann sich vorn auf eine Betbank vor irgendeinem Heiligen niedergelassen hatte, vermutlich um ihn um Abwehr der drohenden Dürre anzuflehen, war Kohlrabi, der sich alles ganz genau betrachtete und im stillen schon abschätzte, in den Chorumgang geraten. Und plötzlich vor einem feuchten Fleck in der Wand neben der Türe, die zur Sakristei führte, war er zusammengezuckt. Seine Nase zog sich in ahnungsvolle Falten. Er pochte mit dem Zeigefinger auf die feuchte Stelle der Wand, die einen hohlen Ton von sich gab. Und siehe da, ein sieghaftes, breites Schmunzeln legte sich ihm als Ausdruck höchster Entdeckerfreude um den schlauen Mund.

»Kohlrabi! Wo stecken Sie denn?« rief sein Hauptmann, der sich lange genug mit seinem Heiligen unterhalten hatte.

»Hier, Herr Hauptmann! Melde gehorsamst, daß ich neuen Wein requiriert habe, der hier vermauert worden ist.« Er wies stolz wie Francis Drake, als er die Kartoffeln entdeckt hatte, auf die verdächtige Stelle neben der Sakristei.

»Daß Sie sich nicht unterstehen, Kohlrabi! Die Kirche befindet sich, da sie von den Geistlichen im Stich gelassen worden ist, unter meinem persönlichen Schutz. And wer hier das Geringste anrührt, der hat es mit mir zu tun! Verstanden?« war er von seinem Hauptmann angeschnauzt worden.

Traurig wie einer, dem seine ganze Erfindung durch irgendeine unvorhergesehene Kleinigkeit verdorben worden ist, war er seinem Hauptmann in ihr ödes Quartier nachgegangen, das ohne Wein erbärmlich und freudlos, wie Aladdins Hütte ohne Wunderlampe war. Es kamen zwei Tage, an denen es nur eine Flasche gemeinen Kutscher für den Mittag und den Abend gab. Und ihnen folgten drei weitere, an denen nichts anderes Trinkbares wie Wasser auf dem Tische stand, bei dessen Anblick es schon dem Hauptmann schlapp im Magen zu kullern begann. Ein paarmal versuchte er sich etwas davon einzuschenken. Aber in dem Tatterich, den er in der alkohollosen, der schrecklichen Zeit jetzt doppelt hatte, verschlabberte er das nasse Zeug über das Tischtuch und schaudernd über seine hagern alten Beine. Dann saß er da, jeder Zoll voll Mißmut, und knurrte und knutterte stumm in sich hinein: »Schade, schade, daß man soviel Religion im Leibe hat! Da knallt man täglich ein paar Dutzend Menschen um, als ob's gar nichts wäre, und muß es dann bei solchen Kleinigkeiten gewissenhaft genau nehmen!« Seine gute Laune ging von Mahlzeit zu Mahlzeit mehr zum Teufel. Und was das Schlimmste war, sein körperliches Wohlergehen, das mit dem Weingenuß eng verbunden war, ließ heute da und morgen dort zu wünschen übrig. Wie eine unbegossene Pflanze ließ er sich hängen und sah aus wie seine eigene moralische Karikatur oder wie ein Häuptling der Heilsarmee. Kohlrabi schnitt sein Anblick geradezu in die Seele. »Der Mann geht mir an seiner Frömmigkeit noch ein!« sagte er sich, wenn er ihn bei dem trocknen Essen bediente und sorgenvoll auf seine Glatze stierte, die von Tag zu Tag immer grauer wurde. »Der stirbt ohne jede Kugel, wenn ich der Sache kein Ende mache!« Und am Abend des fünften Tages, als sein Hauptmann wieder über völlige Appetitlosigkeit klagte und ein paarmal ängstlich an sein Herz faßte, da lockte Kohlrabi ihn unter irgendeinem Vorwand in das hintere Zimmer, wo die Anrichte war. Auf dieser Anrichte hatte er als Vorschmack eine kleine Batterie von Flaschen aufgefahren: Vorne als schwerstes Geschütz vier purpurrote Flaschen Chateau Margaux, Mouton Rothschild. Dahinter zwei spinnwebbestäubte Lafitte, je drei Richebourg-Vosne und Romanée-Conti und als Reserve vier goldglänzende Chablis.

»Wie kommen Sie an diesen Wein, Kohlrabi?«

»Ich kann ihn sofort wieder zurückbringen, Herr Hauptmann! Aber Herr Hauptmann brauchen gar nicht zu wissen, woher ich ihn habe. Herr Hauptmann werden sterben, wenn Herr Hauptmann so weiterleben. Aber nicht für unser Vaterland, sondern für Ihren Glauben, von dem kein Mensch jetzt etwas hat. Und eine Kirche ist dafür da, daß man darin betet, aber keinen Wein darin verwahrt. Und es ist überhaupt eine Sünde, solch einen kostbaren Wein bei der Messe zu trinken. Und wenn der Mensch krank ist wie Herr Hauptmann, darf der Mensch eine Ausnahme machen.«

Das fromme Gewissen des Hauptmanns schien unter den mehr mit Gefühl als mit Gewandtheit vorgetragenen Einreden Kohlrabis schwächer zu werden. »Seh' ich denn wirklich schon so schlecht aus, wie ich mich fühle?« fragte er besorgt Kohlrabi, um sich noch mehr Berechtigung für sein Vorhaben zu holen.

»Wie ein Schatten!« sagte Kohlrabi großartig. Er hatte den Ausdruck einmal von einem Einjährigen aufgeschnappt.

»Und ist noch viel Wein dort vorrätig?« erkundigte sich der Hauptmann, indem er das »dort« möglichst im Ungewissen ließ.

»Für sechs Wochen reicht es glänzend aus, Herr Hauptmann! Die Leute haben sich assortiert wie Kempinski.«

Kohlrabi konnte sich diesen Witz schon gestatten, weil er als erfahrener Menschenkenner seinem Hauptmann an der Nase ansah, daß er den Rubikon bereits überschritten hatte.

»Man kann es hinterher nach dem Kriege ja wieder ersetzen!« beschwichtigte der Hauptmann seine letzte Bedenklichkeit.

»Gewiß, Herr Hauptmann!« bestärkte ihn Kohlrabi und entkorkte die erste Flasche: »Nach dem Kriege geht eine ganz neue Buchführung an. Die alte ist viel zu sehr durcheinandergeraten. Kein Mensch kann sich mehr in ihr zurechtfinden. Aber unser Herrgott wird mit sich reden lassen und die Sache schon wieder zusammenbuchen, darauf können Herr Hauptmann sich ganz fest verlassen!«

Aufatmend hielt Kohlrabi sich den Stopfen unter die Nase und roch wohlgefällig an ihm, der nach Rosen und nach Nelken duftete.


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